Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Von Schönengrund zum Mittelpunkt der Erde – FMSW

Ein Kunstbeitrag zur Kulturlandsgemeinde Mitten am Rand, 2014 in Schönengrund

Die geografische Mitte der Schweiz liegt in der Gemeinde Sachseln – oder bei Thun. Je nachdem, welche Berechnungsmethode zur Ermittlung des Landesmittelpunktes angewandt wird. Eine der möglichen Methoden sucht beispielsweise den Schwerpunkt eines zweidimensionalen Landkarten-Modells, gerade so als werde eine zweidimensionale Karte ausbalanciert. In der Schweiz ist dieser Punkt auf der Älggi-Alp im südlichen Gebiet der Gemeinde Sachseln.  Ein zweiter Mittelpunkt der Schweiz liegt am weitesten von den Landesgrenzen entfernt: in Uetendorf bei Thun.

Die geografische Mitte ist ein Konstrukt. Genauso wie der geografische Nullpunkt der Welt: Rund 600 Kilometer südlich der Küste Ghanas kreuzt der Nullmeridian den Äquator. Bestimmt wurde er anlässlich der Internationalen Meridiankonferenz 1884. Seither liegt er in der Londoner Sternwarte Greenwich und fixiert das Gradnetz der Erde. Als gedachtes Koordinatensystem zur geografischen Ortsbestimmung ist es in Zeiten der weit verbreiteten GPS-Navigationgeräte zum vielgenutzten Referenzsystem geworden. Aber kaum jemand interessiert sich für jenen Punkt auf Position N 0°00‘000‘‘‘ E 0°00‘000‘‘‘ respektive S 0°00‘000‘‘‘ W 0°00‘000‘‘‘ im Atlantischen Ozean – ausser das Künstlerkollektiv FallerMiethSüssiWeck.

Die vier haben immer wieder die eigene Position untersucht, sie waren mit GPS unterwegs, fuhren mit einem Schiff Figuren in die Ostsee und versenkten schliesslich im Rahmen einer eigens durchgeführten Expedition eine Edelstahlkugel im Golf von Guinea, als sichtbares, unsichtbares Zeichen am Nullpunkt der Welt. Oder ist die Null nicht vielmehr der Erdmittelpunkt? Demnach läge Schönengrund nicht nur 844 Meter über dem Meer, sondern 6371,844 Kilometer entfernt vom Nullpunkt der Erde – ungefähr, denn die Erde gleicht eher einer Kartoffel als einem Ball. Deshalb sind auch dreidimensional gesehen mehrere theoretische Mittelpunkte vorhanden. Davon lassen sich FallerMiethSüssiWeck aber kaum beeindrucken, denn etwas berechnen ist das eine, aber selber forschen, selber graben, selber erfahren ist das andere.

Die vier Absolventen der Kunsthochschule Berlin-Weissensee haben die Schaufeln in die Hand genommen, um selbst den Erdmittelpunkt zu suchen. Dass Schönengrund dafür nicht die idealen Voraussetzungen bietet, ist ihnen bewusst. Schliesslich gibt es viele Orte auf der Welt, die deutlich tiefer liegen. Aber bei einem geplanten Bohrloch von über Sechstausend Kilometern kommt es auf ein paar Hundert Meter mehr nicht an. Zumal der Schönengrunder Tiefbauer und Gemeinderat Hans Brunner und seine Kollegen Profi-Werkzeuge und Schalungsbretter zur Verfügung stellen. Hindernisse kommen jedoch von anderer Seite, oder wie Brunner es formuliert: «Schönengrund ist nur schön, wenn man nicht im Grund gräbt“. So machen Wassereinbrüche und Sandsteinbrocken die Grabungen nicht einfacher. Wer weiss, vielleicht kommen auch noch jene Riesenpilze dazwischen, die Jule Vernes Romanhelden auf ihrer Reise zum Mittelpunkt der Erde entdeckten? Aber die Vorstellung, dass Schönengrund den direkten Kontakt zur Mitte bekommt, spornt Lina Faller, Marcel Mieth, Thomas Stüssi und Susanne Weck an. Ausserdem zählt die Geste des Versuches. Dabei sind die vier in bester Gesellschaft. Geologen bohren immer wieder in die Erde, zum Beispiel auf der russischen Halbinsel Kola. Mit einer Tiefe von 12.262 Metern ist die dortige Bohrung seit 1979 die tiefste der Welt. Höchste Zeit also für einen neuen Rekord.

Obacht Kultur, Nr. 19, Heft 2/2014

Georg Gatsas, Signal The Future, 2008–2014

Kunstbeitrag zu Mitten am Rand – Kulturlandsgemeinde 2014 in Schönengrund

Mittendrin und doch für sich. Am Rand und doch mittendrin. Georg Gatsas porträtiert die Vertreter der Londoner UK Bass Music-Szene. Mal fotografiert er sie tanzend im Club, hebt sie mit dem Blitzlicht der analogen Kamera für einen Sekundenbruchteil heraus aus der tanzenden Menge, bannt ihre Bewegung in einem intensiven, flüchtigen Moment ihres Lebens. Oder Gatsas porträtiert sie in den Tanzpausen, im Club, auf der Strasse. Nüchtern und aufmerksam, aber stets auch aus der Sicht des Insiders.

Georg Gatsas bewegt sich seit langem in den Subkulturen der Grossstädte – mittendrin in den Randzonen, dort, wo sich Szenen treffen, sich in schnellem Wechsel auflösen und neu finden. Derzeit ist Georg Gatsas als zweiter Stipendiat des Ausserrhoder Artist-in-Residence-Programms unterwegs. Die Besonderheit des Ausserrhoder Förderprogrammes: Es gibt kein fixes Atelier an einem Ort im Ausland, vielmehr bewerben sich Kunstschaffende für einen von ihnen ausgewählten, für das jeweilige Projekt passenden Ort. Georg Gatsas hat für seinen Aufenthalt London gewählt. Hier will er seine 2008 begonnene Arbeit über die UK Bass-Music-Szene abschliessen, um sie dann als Buch zu publizieren.

UK Bass Music ist eng verknüpft mit den afrokaribischen Einwanderern Londons, der von ihnen mitgebrachten, von Bässen dominierten Musik, aus der Reggae, Dub, Garage und Two Step hervorgingen. Aktuell heissen die daraus entstanden Musikstile Grime, Dubstep, Funky und UK Bass und werden von jungen Produzentinnen und Produzenten (die zumeist aus Migrationsfamilien stammen) stetig variiert, neu definiert und weiterentwickelt. Sie holen ihre Einflüsse von den Strassen britischer Grossstädte und verbreiten ihren Sound über Web-Blogs, spezialisierte Radiosender, Foren und Printmedien. Viele Stücke werden nie zum Verkauf angeboten. Nicht nur deshalb sind die Clubnächte gut besucht. Mit den Soundanlagen der Clubs erreichen auch Bässe unterhalb der menschlichen Hörgrenze die Tanzenden. Licht war dabei lange Zeit überflüssig: Das Publikum setzte sich auf einer stockdunklen Tanzfläche vor schwarz gestrichenen Wänden vollkommen dem Hörerlebnis aus – sehen und gesehen werden spielte keine Rolle. Es ging um Musik, Klang und Gemeinschaftsgefühl. Georg Gatsas fotografierte somit intime Momente. Inzwischen ist er aber auch zum Chronist von Veränderungen geworden, denn die Szene professionalisiert sich, vernetzt sich weltweit, und in den Clubs bleibt das Licht an. Durch neue Medien wie Instagram und whatsapp veränderten sich die Wahrnehmung und das Verhalten der Clubgänger, wie auch das der Produzentinnen und Produzenten. Auch die Immobilienspekulationen treiben die Kommerzialisierung der Szene voran. Die Macher werden immer weiter an den Rand der Stadt gedrängt. Vielleicht wird Gatsas sie in naher Zukunft anderswo als in London treffen.

Gatsas zeigt nicht nur die Menschen, sondern unanhängig von ihnen die menschenleeren, nächtlichen Strassen Londons wie sie sich den Clubbesuchern darbieten – mitten in London, aber am Rande des tagsüber pulsierenden Alltags. Auch der Künstler selbst befindet sich im Spannungsfeld von Zentrum und Perpherie: Gatsas stammt ursprünglich aus Grabs im Rheintal, wuchs in Rorschach auf, lebte für längere Zeit in New York, St. Gallen und Zürich. Seit einigen Jahren lebt er in Waldstatt. Hier schätzt er, in Abgeschiedenheit konzentriert arbeiten zu können, und zugleich ausreichend Platz für die Archivierung seiner Fotosammlung zur Verfügung zu haben. Denn Gatsas fotografiert analog. Auch damit agiert Gatsas nicht im Zentrum, zumindest nicht dem der heutigen Fototechnik, aber die Fotokunst geht seit jeher eigene Wege und Georg Gatsas sowieso.

Obacht Kultur, Nr. 19, Heft 2/2014

Blendwerk in Blaugrün

Zora Berweger, El Frauenfelder und Judit Villiger zeigen im Nextex neue Arbeiten. Die Ausstellung lässt sich als Beitrag zu einer alten Kunstdebatte lesen: Imitation oder Wahrheit oder beides?

Der Wettstreit der Künste ist alt und unentschieden. Immer wieder debattierten vor allem Maler und Bildhauer darüber, welche Kunstgattung der anderen überlegen sei. Die Gemüter erhitzten sich ob der Frage, wie intensiv der Ausdruck eines Werkes war, wie stark es wirkte und wie vollendet es die Natur nachahmte.

Im Nextex wird nun ein neues Kapitel des künstlerischen Fortsetzungsromans aufgeschlagen, allerdings ganz ohne Streit und ohne Rangliste, dafür unter dem Titel einer Bachkantate: In „Was frag ich nach der Welt“ wird dem irdischen Blendwerk abgeschworen, jenem falschen Schein, der doch so schön daherkommen kann wie etwa Judit Villigers Meteoriten. Wie galaktische Brocken liegen sie da und sind doch das Produkt eines langen und durchdachten künstlerischen Prozesses. Villiger hat sie zuerst aus Polyurethan geformt und dann im chinesischen Jingdezhen in Porzellan ausgeführt. Die Glasur des Porzellans hat Krakeluren, sammelt sich in kleinen Seen und wurde anschliessend noch übermalt. So lässt die Oberfläche jedes der identisch geformten Objekte einzigartig aussehen. Gleich einer geologischen Forschungsanordnung liegen sie nebeneinander und verbinden sich zu einer Landschaft. Zugleich ist jeder vielporige Quadratmeter selbst ein Landschaftsporträt: Mikro- und Makrokosmos liegen eng beieinander. So auch bei Zora Berweger. Grünes Dickicht dominiert zwei ihrer Bilder. Sie lassen sich ebensogut als Porträts eines Gartens lesen wie als botanische Nahaufnahmen. Die Arbeiten sind wie bei Villiger das Ergebnis eines langwierigen Arbeitsverfahrens, allerdings arbeitet Berweger nicht auf der Basis konkreter Vorstellungen. Die Leipziger Künstlerin mit Heimatort Stein, AR versucht, das Bild zu verstehen, sich einzufühlen. Der Moment der Vollendung tritt dann mitunter erst nach drei Jahren ein. Anders ist es bei ihren Fladen aus Salzteig: Da muss es schneller gehen. Oft zeigt Berweger sie gemeinsam mit ihren Gemälden, in denen sie ebenfalls plastische Materialien einsetzt. Diesmal aber hängt in der Nachbarschaft ein Werk El Frauenfelders. Deren Arbeitsweise steht in denkbar grossem Kontrast zu jenen Berwegers. Frauenfelder arbeitet schnell, sie arbeitet mit dem Spachtel, sie arbeitet in einem physisch intensiven Prozess. Die Farbe wird dynamisch auf- und abgetragen.

Zwar geht die Zürcher Künstlerin von gegenständlichen Motiven aus, aber sie dienen nur als ästhetischer Ausgangspunkt. So ist den Bildern eine grosse Offenheit eigen. Die Leinwand ist nicht aufgespannt, die Spachtelhiebe sorgen dafür, dass das Bildfeld keinen festen Umriss erhält, seine sonoren Töne lösen sich immer wieder im Weiss auf – schöner Schein also statt Realismus.

Aber auch abseits der Debatte um künstlerische Vorrangstellung oder Imitation funktioniert die Ausstellung. Ihr homogener Farbklang bringt einen Dialog selbst zwischen unterschiedlichsten Werken zustande, und so erstaunlich es ist, dass diese drei Künstlerinnen noch nie gemeinsam ausgestellt haben, so schlüssig ist es nun.

Kombinatorik in Kunterbunt

Die Künstlergruppe U 5 hat in der Kunsthalle Arbon eine künstliche Glitzerwelt aufgebaut. Für einmal ist der Individualverkehr erwünscht: Die Ausstellung „Youndland Everfast“ ist autotauglich.

Ein Cabriolet wäre das richtige Fahrzeug für den Ausstellungsbesuch. Ist keines verfügbar, tut es auch ein anderer Schlitten, Hauptsache der Ellenbogen ragt aus dem heruntergekurbelten Fenster. Wichtig ist die lässige Pose – und dann hinein in die Kunsthalle Arbon und den Fahrbahnmarkierungen folgen. Es herrschen angenehme 27 Grad, so verheissen es die Wetterdaten auf einem Spiegel, angegeben in Fahrenheit. Harmlose Wolken werden vermeldet und eine Regenwahrscheinlichkeit von null Prozent. Kein Wetterunbill lenkt also von der Rundumsicht ab. Und zu sehen gibt es einiges. Palmen zum Beispiel, einen grellbunten Pavillon, gepflegte Rabatten, pinkfarbene Kakteen. Das Ganze gleicht einer Mischung aus Las Vegas und Einkaufsmeile. Dass dies alles unter einem Dach aufgebaut ist, verstärkt den Eindruck eines Konsumparadieses: wetterunabhängig und Auto freundlich. Zu kaufen gibt es allerdings nichts und auch sonst ist alles anders, als es auf den ersten Blick scheint. Die Palmenblätter bestehen aus Kabelbindern und die Zierelemente aus Abstandshaltern fürs Plättlilegen. Wer genau hinsieht, findet an ungewöhnlichen Orten Wattestäbchen oder Kühlakkus.

Die Künstlergruppe U 5 aus Zürich verwendet, was verfügbar ist: „Wir können alles gebrauchen, alles ergibt Sinn.“ Das gilt auch für das Bildmaterial, dessen Fülle in Zeiten der digitalen Datenspeicherung und -verbreitung ohnehin unendlich geworden ist. Nicht zufällig haben sich die fünf beim Studium der neuen Medien kennengelernt und sich für das Masterstudium an der ZHdK dann bereits gemeinsam beworben.

U 5 fügen digitale Bilder und Filme zu einem wilden Mix zusammen und zeigen diesen in der Kunsthalle auf einem Monitor, der über Kopfhöhe angebracht ist. Die Künstlergruppe nimmt damit Bezug auf diese Anzeigetafeln des öffentlichen Verkehrs, die inzwischen auch hierzulande mit einem Nachrichten- und Reklamemix bespielt werden. Ziel und Zeit der Reise werden da zur Nebensächlichkeit.

In der Kunsthalle Arbon geht es nach Mountain Dew und Umami – der Pavillon fungiert als Wartehäuschen. Hier zeigt sich einer der Widersprüche innerhalb der Ausstellung: Einerseits laden die Künstlerinnen und Künstler ein, tatsächlich mit dem eigenen Auto durch „Youndland Everfast“ zu fahren, und betonen damit die individuelle Mobilität, das Zurschaustellen des eigenen Vehikels und die überbordende Strassenrandmöblierung. Andererseits ist der öffentliche Verkehr mit der Bushaltestelle das Herzstück der Ausstellung, ja mehr noch: Sie ist das Tor zu einer unendlich grösseren artifiziellen Welt. Es ist freilich nur als dreidimensionales Modell präsent und erlaubt einen imaginären Rundgang. Der Scheinkosmos aus realen Versatzstücken bildet ein weiteres Gegensatzpaar: U 5 konfrontieren Künstlichkeit und Echtheit. So erblühen in den Rabatten grüne Staubwedel und Palisadenzäune bestehen aus Plastikfingernägeln.

Dinge über Dinge begegnen sich in der gesamten Ausstellung. Ist das Ganze also einfach nur eine grosse materialintensive Spielerei? U 5 formulieren keinen gesellschaftskritischen Anspruch, aber beinahe nebenbei lösen sie eines der wichtigsten Probleme unserer Zeit: Die gesamte Ausstellung ist aus gefundenen und nun wiederverwendeten Dingen entstanden. Sie haben ein zweites Leben erhalten und werden auch zum dritten, vierten oder weiteren Mal eingesetzt werden. Nichts wird weggeworfen, alles ist mobil und modular zusammengefügt und bietet eine temporäre Kulisse für alle, die mitten in Arbon in einer postmodernen Neonglitzerwelt lustwandeln wollen.

Linie für Linie, Arm für Arm

«Setz dich hin, und ich pinsle dir auf deinen Arm»: Die St.Galler Künstlerin Lika Nüssli zeichnet für alle im Frauenpavillon.

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Fast leer ist es im Frauenpavillon. Nur ein handgeschriebenes Statement steht auf den tiefroten Wänden und drei Wörter hinter der Bar. Wo ist denn hier die Ausstellung?

Sie entsteht Stück für Stück, Arm für Arm, Linie für Linie und wandert hinaus in die Stadt.

Lika Nüssli begeistert einmal mehr mit einem innovativen Zeichnungsprojekt. Ob sie einen Raum der Hauptpost in eine vierdimensionale Zeichnungshölle verwandelt – die Zeit zählt mit – oder für die Kunsthallen Toggenburg in einem Hotelzimmer von Zimmerwänden und Decke die Geister der früheren Übernachtungsgäste erscheinen lässt, bei Lika Nüssli bleibt die Zeichnung nicht stehen, schon gar nicht auf dem Papier.

Sie entwickelt sich, überschreitet Grenzen, bewegt sich mühelos zwischen Kunst, Comic und Illustration, umgeht leichthändig gattungsabhängige Wertzuschreibungen und Kategorisierungen. In der aktuelle Ausstellung ist sie dem Tattoo verwandt und doch ganz anders: Die Haut ist Träger einer Zeichnung. Doch statt Bildchen aus Musterkatalogen oder immergleichen Tribals gibt es eine originale Zeichnung aus dem Stift Lika Nüsslis, individuell, unwiederholbar und nicht wasserfest.

Auch das Ambiente ist besonders: Im Frauenpavillon steht ein bequemer alter Sessel, beinahe ein Thron, dort sind die Ausstellungsgäste eingeladen, Platz zu nehmen und der Künstlerin eine Geschichte zu erzählen. Im Dialog und inspiriert von den persönlichen Berichten der Besucherinnen und Besucher entstehen Arm für Arm weitere Teilchen aus Lika Nüsslis Zeichnungskosmos. Tiere tummeln sich da und Menschen, unterhalten sich per Sprechblase, lassen die Gedanken fliegen. Kein Ärmchen zu dünn, keine Haut zu alt, kein Haar zu viel (auch behaarte Männerarme sind willkommen), sogar Muttermale werden mühelos ins Motiv integriert.

Und dann spaziert die Zeichnung mit ihrem Träger oder ihrer Trägerin in die Stadt hinaus. Die Ausstellung wandert, breitet sich aus, die Zeichnungen bekommen ein neues Zuhause. Zu schade, dass sie die erste Dusche nicht überleben. Da hilft nur entweder Sack drüber oder Deo statt Duschen. Das ist der Preis für ein Nüssli-Original.

Weitere Zeichnungstermine: 20. August, 14–16 Uhr – 25. August, 27. August, 1. September,  3. September und 8. September, jeweils 14–20 Uhr.

Und ausserdem: Am 6. September gibt es anlässlich der Museumsnacht Kunstyoga mit Christine Enz und am 12. September die Finissage mit Musik und der Projektion aller Armbilder.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/linie-fuer-linie-arm-fuer-arm/

Wie viele Bücher besitzen Sie?

Das St. Galler Künstlerduo Com & Com und der Regisseur Milo Rau fragen nach, was die Schweiz ist und was sie werden soll. Unter www.pointdesuisse.ch haben sie die berühmt gewordene Gulliver-Umfrage der Expo 1964 ins Heute geholt.

Wozu ist die Kunst gut? Zur Verschönerung der Welt? Taugt sie als sozialer Kitt? Oder sollte sie der Erkenntnis und Reflexion dienen? Sind Com & Com und Milo Rau im Spiel, ist mehr zu erwarten als vordergründige Ästhetik oder Unterhaltung. Sowohl der Theatermacher als auch die Künstler Marcus Gossolt und Johannes M. Hediger gehen in ihren Arbeiten gesellschaftlichen Prozessen und Geschehnissen nach. Das kann unterhaltsam sein, gibt aber auch Denkanstoss – zum Beispiel beim ersten Gemeinschaftsprojekt der drei: Für das 43. Festival de la Cité Lausanne haben sie die Gulliver-Aktion der Expo 1964 mit neuen Inhalten aktiviert.

Heftig diskutierter Fragebogen

Damals wurden den Besucherinnen und Besuchern pointierte, Schweiz-spezifische Fragen gestellt. Diese Umfrage barg im Vorfeld ungeahntes Konfliktpotenzial und wurde mehrfach zensiert. Fragen zu Schwangerschaftsabbruch, Bodenspekulation, Militärdienstverweigerung oder der 40-Stunden-Woche mussten auf Anweisung des Bundesrates gestrichen werden. Die 14. Version des Fragebogens wurde endlich akzeptiert mit der Auflage, die Umfrageergebnisse zu vernichten. Zufällig blieb ein Teil davon dennoch auf Mikrofilm erhalten.

Genau 50 Jahre später ist die Aufmerksamkeit für jene Umfrage gross. Der Jahrestag der Expo 1964 ist ein Grund dafür. Ein anderer liegt wohl darin, dass immer mehr auch der Blick auf die Expo 2027 gerichtet ist und auf den Nutzen von Landesausstellungen für die nationale Identität. Doch auch Expo-unabhängig lohnt es sich, die damaligen Ergebnisse zu studieren und in den zeitgenössischen Kontext zu stellen: Fallen die Antworten heute anders aus? Gibt es Fragen, die überholt sind? Wie provokant werden die damals brisanten Fragen heute empfunden? Was sind die Brennpunkte heute?

Noch bis Ende Juli mitmachen

Com & Com und Milo Rau verteilen in ihrem Projekt «Point de Suisse» nicht einfach nur die Fragebögen von vor 50 Jahren. Sie haben eine repräsentative Umfrage initiiert, deren Ergebnisse seit Anfang Juli vorliegen. Am 1. Juli startete zudem eine öffentliche Onlineumfrage. Sie läuft noch bis Ende Juli, aber die Ergebnisse werden laufend aktualisiert. Und schliesslich gibt es eine Plakat- und Postkartenaktion. Von aktuellen Medien bis hin zu einem neuen Skulpturbegriff wird also ein breites Spektrum genutzt.

Aber auch die Fragen sind teilweise andere. Sie wurden gemeinsam mit Soziologen entwickelt. Manche Fragen sind so gestellt, dass sie neue Schlüsse zulassen, so etwa, wenn für einmal der Migrationshintergrund anhand der Anzahl der nichtschweizerischen Grosseltern abgefragt wird. Es erstaunte selbst die Initianten von Point de Suisse, dass nur bei knapp 50% der Befragten alle vier Grosseltern aus der Schweiz stammen.

Was ein «guter Schweizer» ist

Viel zitiert worden sind bereits die Antworten zur Frage, was einen guten Schweizer auszeichnet – die weibliche Form wurde vor 50 Jahren noch getrost weggelassen. Und es verwundert kaum, dass die Toleranz gegenüber Langschläfern heute grösser ist als vor einem halben Jahrhundert.

Interessanter ist, dass die Teilnehmenden der repräsentativen Umfrage lieber das Swissair-Grounding aus der Schweizer Geschichte streichen würden als alles andere, im Internet aber mit grossem Abstand die Flüchtlingspolitik im zweiten Weltkrieg und die Einwanderungs-Initiative 2014 genannt werden. Auch die Zahl der Bücher daheim variiert sehr zwischen Internet und repräsentativer Umfrage.

Die Frage nach den Büchern ist eine der neu hinzugekommenen. Im Kunstkontext sind eben andere Fragen möglich, und es spricht für die Künstler, dass sie auch nach der Kunst selbst fragen. Das Projekt widerlegt auch jene 7,9 Prozent, denen Kunst zu gar nichts gut zu sein scheint. Kunst ermöglicht Teilnahme und hat im Falle von Point de Suisse einige Erkenntnisse zu bieten – nicht für die Soziologen, sondern für jede und jeden.

Chatten bis der Tod kommt?

Enda Walsh Stück „Chatroom“ thematisiert die Gefahren des Internets. Unter der Regie von Matthias Flückiger wird es jetzt von Schülerinnen und Schülern der Kantonsschule am Burggraben aufgeführt.

Anfang des Jahres kreiste ein Youtubevideo durch die sozialen Netzwerke. Es war bereits ein halbes Jahr alt und zeigt die Psychologiestudentin Julia Engelmann beim Poetry-Slam in Bielefeld im Sommer 2013. Der pathetische Refrain ihres Stückes lautet: «Eines Tages, Baby, werden wir alt sein und all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.» Die sechseinhalb Millionen Klicks für ihr Video suggerieren, dass es vielen so geht: Engelmann ist gefangen zwischen fehlendem Mut, der Angst, etwas zu verpassen und der eigenen Lethargie. Dabei ist sie erst Anfang 20. Die Protagonisten in Enda Walshs Stück «Chatroom» sind 15 Jahre alt. Auch sie haben es satt, zu warten, dass etwas passiert. Erst diskutieren sie nur, aber sie sind auf der Lauer. Sie treffen sich in der virtuellen Welt. Sie nehmen andere Namen an. Sie wissen nichts voneinander, ausser, dass sie gleich alt sind, in derselben Stadt wohnen und der Mittelschicht angehören. Geldsorgen haben William, Eva, Jack und Emily also nicht, sondern vor allen Dingen Langeweile.

Sie sind allein mit sich und ihren Weltsichten. Die leere Bühne in der Kantonsschule am Burggraben bietet ihnen keinen Schutz. Die Jugendlichen oder vielmehr ihr virtuelles Ich ist exponiert. Einziges Requisit ist ein Cafeteria-Stuhl für jeden. Das verlangt den Schauspielerinnen und Schauspielern einiges ab, aber sie meistern den Abend mit Bravour. Die Choreografie der Figuren und Stühle gibt der Inszenierung von Matthias Flückiger das Gerüst. Das Betreten und Verlassen der Chaträume, auch das Schweigen der Beteiligten wird durch die Positionswechsel und eine ausgeklügelte Lichtregie visualisiert. Nur einer kommt von draussen: Jim (Lukas Spitzenberg) betritt die Szene als Aussenseiter, er ist der verzweifelte Sinnsucher, der sich von den Schatten seiner Kindheit nicht zu lösen vermag. Er hat bereits Hilfe bei Laura (Antonia Freiwald) gesucht. Doch diese erteilt im Raum für Selbstmordgefährdete grundsätzlich keine Ratschläge.

Die anderen hingegen haben sich soeben zu den «verdammten Besserwissern» formiert. Hier werden Ratschläge gern gegeben, und vor allem schnelle Urteile gefällt. Rachephantasien bis hin zum Mord können folgenlos durchgespielt werden. Solange dies virtuell passiert, ist das kein Problem, aber unbefriedigend für die Vier. Als Jim in den Chatroom kommt, ändert sich das. William (Eric Szabo-Félix), ein zynischer Überflieger, und die abgeklärte, scharfsinnige Eva (Lea Greiner) erkennen sofort ihr potentielles Opfer. Da können auch Jack (Jonas Senn) und Emily (Chiara Wagner) mit ihrer wachsenden Empathie nichts ausrichten. Oder doch?

«Chatroom» ist ein Lehrstück über Cybermobbing, das nicht als solches daherkommt, weil es auf Augenhöhe mit den Angesprochenen bleibt. Es zeigt, wie viel im rein schriftlichen, satzweisen Austausch zwischen den Zeilen gelesen werden müsste, um ein einigermassen vollständiges Bild der Personen und Anliegen zu erhalten, denn «im Chatroom sind Worte Macht»…

Gesprochen werden ausschliesslich Chatkonversationen, doch die sechs Kantonsschülerinnen und -schüler zeigen so viel mehr von ihren Figuren. Sie haben sich intensiv in die Charaktere hineingearbeitet und bringen deren Identität überzeugend auf die Bühne. Auch die feinen Verdrahtungen zwischen den Figuren, die im virtuellen Raum Halt geben könnten, aber nur allzu leicht fehlgedeutet oder übergangen werden, zeigen sich eindrücklich im Spiel der Sechs. Es ist mitunter nur ein kurzer Blickkontakt, der alles sagt und der unersetzlich ist. Da reicht eben keine Kombination aus Doppelpunkt, Bindestrich und schliessender Klammer.

Die Vier vom Schaukasten

Bald ist der Schaukasten Herisau Geschichte. Dann wird die gesamte Dokumentation in die Kantonsbibliothek aufgenommen – inklusive der Schaukastenliste. Sie ist die Essenz der Arbeit.

Die Liste ist gut. Die Liste ist lang. Die Liste stimmt. 32 Namen stehen auf der A4-Seite: Künstlerinnen und Künstler, Junge und Alte, Hiesige und Auswärtige. Sie alle haben in den vergangenen acht Jahren im Schaukasten Herisau ausgestellt. Jedes Jahr wurde die Liste um vier Namen reicher. Die Qualität blieb dabei immer auf hohem Niveau. Sogar der Träger des Turnerprizes, der wichtigsten internationalen Kunstauszeichnung, steht auf der Liste: Simon Starling. So einer ist nicht einfach für eine Ausstellung zu gewinnen. Wenn diese dann in Herisau in einem kleinen Glaskasten an der Wand der Hauptpost stattfindet, macht das die Sache nicht leichter. Oder doch?

Den Schaukasten zu bespielen, war eine Herausforderung, oder wie es Matthias Kuhn formuliert: „Im Kleinen kristallisiert sich schärfer aus, wer mit Raum umgehen kann.“ Aber gerade darin liegt für gute Künstlerinnen und Künstler ein besonderer Reiz. Und tatsächlich: „im Schaukasten stimmte die Arbeit bei vielen auf den Punkt genau,“ so Kuhn. Vera Marke dazu, „der Kasten ist unerbittlich. Es gibt vermutlich viele Schaukastenmodelle in den Ateliers.“ Da wurde also intensiv vorgedacht, aber auch vor Ort blieb es schwierig, so ordnete der Künstler Costa Vece zwei Tage lang zur heissesten Zeit des Jahres seine Installation aus acht Büchern. Loredana Sperini kämpfte mit dem Schmelzen ihrer Wachsarbeit in der Sonne. Für andere wurden im Regen oder Winter Plachen gespannt. Ana Strika beispielsweise platzierte im Schneetreiben Miniaturwerke von über 40 Künstlerkolleginnen und -kollegen – und das in einem halben Kubikmeter Kasten. Für Marke „die beste Gruppenausstellung, die ich je gesehen habe“.

Auch wenn manche vielleicht mit dem Wetter haderten, waren die Ausstellungstermine sorgfältig auf die Jahreszeiten abgestimmt: Wer mit Kunstlicht oder Video arbeitete, wurde für den Winter eingeladen, wer viel Tageslicht benötigte, im Sommer. Nicht alles konnte geplant werden und kam doch gut: der Regenguss zu Roman Signers Schirmereignis zum Beispiel.

Aber nicht nur die eigentliche Ausstellungssituation hat die Kunstschaffenden gereizt, wie Matthias Kuhn berichtet: „Die Künstler haben den Auftritt bei uns immer sehr genossen. Das war Kunstbetrieb mal anders.“ Zum Kasten gehörte ein ganzes Paket, angefangen von Texten, Unterstützung beim Aufbau, Fahrdienst bis hin zur Unterkunft, und natürlich den Vernissagen. Sie waren der grosse Rahmen für den kleinen Kasten. Hier traf sich das Kunstpublikum von überall her mit den Herisauerinnen und Herisauern. Katharina Stoll-Cavelti beschreibt die „einzigartige Mischung“, denn entgegen der üblichen Gepflogenheiten im Kunstbetrieb „waren alle eingeladen“. Es gab immer das Gleiche und immer etwas anderes: Risotto und Wein in 32 Varianten. Gekocht hat Paul Knill. Der Architekt ist wie Marke und Kuhn von Anfang an dabei – Katharina Stoll-Cavelti kam einige Jahre später dazu. Knill blieb aber nicht lange nur Koch. Zum Kurator habe Knill sich hochgekocht, Kuhn lacht und es ist gut zu spüren: Hier sitzen vier zusammen, die durch die Leidenschaft zur Kunst ebenso verbunden sind, wie durch den Wunsch, diese Kunst auch an die Leute zu bringen.

Bald war Knill dabei, wenn an der Liste gearbeitet, gedacht wurde. Sie wurde schliesslich so gut, dass die Künstlerinnen und Künstler schon deswegen dabei sein wollten, weil sie sich in bester Gesellschaft befanden. Das wird nun auch von anderer Seite her anerkannt: Heidi Eisenhut wird das gesamte Schaukastenarchiv in die Kantonsbibliothek überführen, inklusive der Künstlereditionen, der Risottorezepte und der 2 Gigabyte elektronischen Daten. Die Arbeit an der Dokumentation wird die Vier vom Schaukasten noch einige Monate beschäftigen. Noch ist auch die letzte Ausstellung nicht beendet. Aber danach? Vera Marke, Paul Knill, Matthias Kuhn und Katharina Stoll-Cavelti verraten ihre Pläne noch nicht. Es bleibt spannend, auch für die Kunst in Appenzell Ausserrhoden.

Gesellschaftskritik mit Eiswürfeln

Götz Friedewalds Werke waren mehrfach in der Macelleria d´Arte ausgestellt. Nun sind in der Galerie am roten Platz aktuelle Werke des Münchners zu sehen.

Aktuelle Fotokünstlerinnen und Künstler beschäftigen sich besonders intensiv mit Oberflächen. So die These der Ausstellung „Surfaces“ derzeit im Fotomuseum Winterthur. Sind Oberflächen die neuen Inhalte? Die Frage stellt sich nicht nur in der Fotografie, sondern drängt sich auch angesichts zeitgenössischer Malerei auf. Zum Beispiel bei Götz Friedewald. Der Münchner Künstler stellt seine jüngsten Werke in der Macelleria d´Arte aus. Bereits die Technik der Bilder zeugt von der besonderen Aufmerksamkeit für das Materielle: Friedewald verwendet grobe Jute. Er grundiert sie schwarz. Darüber baut er seine Sujets langsam, Schicht für Schicht aus lasierenden Schichten auf. So ist der schwarze Grund weiterhin sichtbar und zugleich bleiben die Gewebestrukturen, die kleinen Leerräume zwischen den Fadenkreuzungen offen: Sogar der Raum hinter dem Bild ist damit Teil des Gesamten.

„Cubes“ heisst die im Erdgeschoss der Galerie gezeigte Serie. Zu sehen sind Eiswürfel in und neben Trinkgläsern. Manchmal steht eine Espressotasse daneben, mit oder ohne Löffel auf der Untertasse. Manchmal sind die Gläser halb gefüllt. Friedewald malt das Spiel von Reflexionen und Durchsichten. Er feiert die glatten, spiegelnden Oberflächen, die Lichtpunkte darauf. Wichtig sind dabei auch die Kontraste. Rot und Blau unterstützten die gemalte Transparenz der Gläser. Und natürlich der schwarze Grund. Die Gegenstände scheinen darüber zu schweben oder über dunklen Tiefen zu schwimmen. Das alles ist mehr Schein als Sein, aber genau um letzteres geht es Friedewald. Der Künstler versteht seine Bilder als Metaphern für die Kälte und Glätte in grossen Teilen der Gesellschaft, die Verarmung von Ethik und Moral. Deutlicher wird dies im Kontext von „Cubes“ mit der anderen ausgestellten Serie: „Lie to Me“. Hochprozentiges dominiert die Gemälde: Flaschen mit Kirschwasser, Kornbrand, Campari. Dahinter strahlt blauer Himmel oder der Binärkode zieht sich über die Fläche. Schriftzüge im Bild rufen dazu auf, zu veralbern, zu beschützen oder zu belügen. Es ist bekannt: Alkohol lullt ein. Oder wie es Wilhelm Busch in seiner „Frommen Helene“ schon trefflich formulierte: „Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör!“

Die Flaschen locken und mit Hilfe ihres Inhaltes wird das im Argen Liegende verdrängt. Die durchgestalteten Oberflächen bei Götz Friedewald haben es in sich.

Tauwetter in der Galerie

Claudia Züllig zeigt unter dem Titel „Grenzen“ Schneebilder in der Atelier-Galerie Margrit Oertli. Dass hier inzwischen Sommer ist, macht dabei wenig, denn es geht der Künstlerin um mehr als nur Naturschilderung.

Vorfrühling in den Bergen, den Himmel bedeckt eine einförmige Wolkenschicht. Mit den Sonnenstrahlen fehlen die Schatten. Sie geben einer Landschaft Tiefe, ohne sie erscheinen die Berge und Felsen, das Gestein bar jeder Struktur. Der Schnee wirkt stumpf ohne die Lichtreflexe, kaum mehr als eine grauweise Fläche. Der räumliche Eindruck der Landschaft ist auf ein Mindestmass reduziert. So hat Claudia Züllig das Gebirge festgehalten, und nicht nur das.

Die St.Galler Künstlerin zeigt in der Galerie Margrit Oertli ihre aktuellen Gemälde. Es sind jedoch keine Porträts der Berge mit naturalistischen Details, mit besonnten Schneeflecken unter strahlend blauem Himmel und wieder erkennbaren Gesteinsformationen. Es sind stattdessen Studien zum Thema Fläche, zu Positiv- und Negativform und Leere. Die Landschaft wird dabei nie ganz verlassen, aber Züllig lotet die Grenzen aus, denen sie ihre Ausstellung widmet: Wie weit lassen sich Binnenformen reduzieren? Ab wann ist ein Schneefeld nur noch eine weisse Fläche? Ab wann ist es nur noch eine Leerstelle im Bild? Wann kippt die Balance zwischen Grün oder Braun und Weiss zugunsten der einen oder der anderen Farbe?

Besonders eindrücklich zeigt sich dies in der achtteiligen Serie «Schneegrenzen» im Untergeschoss der Galerie. In fast allen der kleinen Hochformate ist die Horizontlinie in den Bereich ausserhalb des Bildes verschoben. Ohne den Himmel über den schneefleckigen Wiesen kann sich die Malerin einerseits ganz auf die beiden Tonwerte Grün und Weiss konzentrieren. Andererseits fehlt der Halt durch die Kontur der Berge. Je nachdem, wie der Hang ausgerichtet ist, dominiert nun eine aufsteigende oder abfallende Diagonalrichtung die Bilder. Die weissen Flächen ziehen sich dynamisch durchs Grün und wogen innerhalb der Serie auf und ab.

Züllig beobachtet die Natur aufmerksam und übersetzt die Betrachtungen in Bilder. Zugleich aber gelingt es der Künstlerin, sich von der blossen Naturnachahmung zu befreien und ihre Untersuchungen zum Verhältnis von Fläche und Raum voranzutreiben. So porträtiert sie auch den Nebel als eines der flächigsten Elemente in der Natur. Er egalisiert Raum und Licht, ist homogener noch als eine Schneefläche.

Den Berggemälden stellt die Künstlerin Aktbilder zur Seite. Das Gegenständliche ist hier kaum zurückgenommen, so wirken sie weniger eigenständig als Zülligs Landschaftsmalerei.