Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Eine Messe für die Jungen

Evelyne Fenner hat vor 20 Jahren die Kunst Zürich gegründet. Die gebürtige Wienerin braucht die Kunst wie den Sauerstoff.

«Zürich ist der bessere Messeplatz, der bessere Kunstplatz.» Evelyne Fenner ist sich sicher und das seit mehr als 20 Jahren – so sicher, dass sie 1994 eine neue Kunstmesse gründete: die Kunst Zürich. Einfach so? Fast. Die gebürtige Wienerin ist seit beinahe 30 Jahren für die Kunstbeilagen der Handelszeitung zuständig. Und sie ist von der Kunst in einem Ausmass gepackt, dass diese in ihrem Leben eine ständige Rolle spielt, privat, beruflich, überall. Für Fenner ist das selbstverständlich: «Ich atme ja auch und sage nicht, mein Gott, ich muss schon wieder atmen.»

Zürich macht es ihr leicht, nah dran zu sein an der Kunst. Zwar gibt es auch in Wien viele namhafte Galerien und Museen von Weltrang, aber seit Fenner als 17jähriges Aupairmädchen in die Limmatstadt kam, hat sie die hiesige Kunstszene nicht mehr losgelassen. Ihr Büro hat sie in der Mühle Tiefenbrunnen: «Hier habe ich ursprünglich begonnen. Damals, vor 30 Jahren fuhr ich bei Nacht und Nebel mit dem Velo durch die Stadt, entdeckte die Mühle und mietete sie bald darauf für die Kunstaktion der Handelszeitung» Die Mühle wurde bald auch von Künstlerinnen und Künstlern entdeckt; und vor drei Jahren ergab sich die Chance hier Büroräume zu mieten, das war für Fenner wie eine Heimkehr.

«Gruppe 44 / Kunst Zürich» steht auf dem Türschild, aber die ausgebildete Marketingplanerin geht hier seit 20 Jahren beiden Hauptberufen nach: Kunstbeilage und Messe. Sie ergänzen einander und konkurrieren auch: «Wenn ich die Beilage zur Art Basel herausgebe, läuft der Endspurt für die Anmeldeunterlagen für die Kunst Zürich. Und wenn die Messevorbereitung auf Hochtouren läuft ist Redaktionsschluss für die Herbstbeilage.»

Die Beilagen der Handelszeitung nennt Fenner ihr «Erstgeborenes». Ohne die Beilagen oder vielmehr ohne das Mutterblatt gäbe es die Messe nicht, wie Fenner betont. Als sie

1993 den Wunsch hatte, eine grosse Messe zu gründen, war nicht nur ihr damaliger Partner Raphael Karrer sofort dabei, sondern auch die Verantwortlichen der Handelszeitung. Nun brauchte es noch den richtigen Platz. Es fügte sich so, wie schon mit der Mühle klappte und besser kaum hätte kommen können: Fenner und Karrer entdeckten die Fabrikationshallen der ABB in Zürich-Oerlikon und waren begeistert, ja sogar «Hals über Kopf verliebt». Diese grossen Emotionen für den alten Industriebau haben nicht nur mit der Atmosphäre der Halle zu tun, sondern auch mit Fenners Kindheitserinnerungen: «Meine Grosseltern hatten eine Bauschlosserei, dieser Geruch hat sich mir eingeprägt und er ist positiv besetzt.» Als die Messe 1994 in die Hallen einzog, wurde dort noch produziert. In den ersten Jahren erhielten die Arbeiter Gratiseintritte für die Messe und kamen; stolz auf ihre Halle und neugierig auf die Kunst. Später wurde die Halle um ein Drittel verkleinert und umgebaut. Inzwischen wird Fenners Liebe zu diesem Gebäude manchmal auf die Probe gestellt – hin und wieder regnet es rein, hin und wieder müssen die Löcher im Dach gestopft werden. Dass dies so achtsam wie möglich geschehe, wünscht sich Fenner, «denn bis auf diese Mängel ist es ideal. Der Geist der Halle muss unbedingt erhalten bleiben.»

Längst ersetzen Bauten mit Charakter die makellose Neutralität der White Cubes. Die ABB Halle zeigt beispielhaft, warum dies funktioniert: Der besondere produktive Charakter, die 100 Jahre währende Geschichte als Fabrikationsort strahlen auch auf die Kunstpräsentationen aus. Fenner beschreibt die Stimmung der Halle als so angenehm und befruchtend, dass sogar Konkurrenzkämpfe unter Ausstellenden gar nicht erst aufkommen. Aber selbst wenn sich der Charme der Halle für immer erhalten liesse, es gibt ein anderes Problem: Sie ist längst zu klein geworden für die Messe. Der Gedanke, sie aufstocken zu lassen, ist verlockend, aber Fenner bleibt realistisch und weiss zugleich, dass es praktisch unmöglich ist, eine grössere Halle für die Kunst Zürich zu finden, schon gar keine mit demselben Flair. Also bleibt die Zahl der teilnehmenden Galerien begrenzt. Ja, sie hat sich in den vergangenen Jahren sogar noch reduziert: «Früher waren mehr Galerien an der Kunst Zürich, aber die Galerien buchen immer grössere Stände,» so die Messechefin. Aktuell sind 76 Galerien dabei, jeder Meter ist ausgebucht. Etwa 100 bis 120 Galeristinnen und Galeristen müssen jedes Jahr abgewiesen werden, zudem wird vorsondiert: «Es ist mir wichtig, mit welchen Galerien ich zusammen arbeite. Ich möchte meine Sicht der Kunst widerspiegeln.» Es ist eine junge Sicht, so wie die Kunst Zürich eine junge Messe ist. Die grosse Schwester in Basel ist immerhin 25 Jahre älter. Jung waren auch auch die Galeristinnen und Galeristen, an die sich die Messe vor allen Dingen richtet. Im ersten Jahr waren sie es, die das grosse Potential der Messe sahen, so Fenner: «Die Alteingesessenen waren anfangs eher dagegen. Sie hatten Angst, dass ausländische Galeristinnen und Galeristen kommen und ihnen die Schweizer Sammlerinnen und Sammler wegschnappen.» Diese Sorge war von Anfang an unbegründet. Es ging viel mehr darum, der hervorragenden jungen Galerienszene, die es in Zürich und anderswo in der Schweiz schon vor 20 Jahren gab, eine Plattform zu geben: «Die grossen, die etablierten Galerien hatten ihre Art Basel, aber die Jungen waren schnell begeistert. Die Kunst Zürich ist kein Ableger und kein Auffanglager, es war die erste Messe für junge Galerien.» Darüber hinaus sieht Fenner in der Kunst Zürich die Initialzündung, dass auch die Art Basel auf die junge Galerienszene setzte und sich wieder näher am Markt positionieren konnte. Der Kunst Zürich hat das nicht geschadet. Ein grosser Teil der Galerien nimmt an beiden Messen teil. Möglich ist das nicht zuletzt deshalb, weil die eine im Frühjahr und die andere im Herbst stattfindet.

Die Kunst Zürich richtet sich nicht nur an die jungen Galeristinnen und Galeristinnen. Für die jungen Kunstschaffenden gibt es seit letztem Jahr gibt es einen Förderpreis von 25´000 Franken, der von der Messeleitung ausgeschrieben und von einer professionell besetzten Jury vergeben wird. Die Messe also als Mäzenin? Fenner betont, der Preis werde frei von Einflüssen oder wirtschaftlichen Interessen vergeben. Gleichzeitig ist sie pragmatisch: «Förderung funktioniert nur dank des Marktes. In der Kunstszene ist Platz für alles, aber das Geld muss reinkommen.» Das Potential der Entdeckungen liegt auf der Hand: «Die Bluechips von heute sind gesetzt, mich interessieren die Bluechips von morgen.» Fenner kennt die Vorbehalte der Kulturszene gegenüber der Kommerzialisierung und gesteht sie ihr zu: «Die Jugend darf sich Verweigerung erlauben, aber auch die Jungen kommen auf die Welt und haben Hunger.»

Und die ganz Jungen? Evelyne Fenners Kinder haben die Leidenschaft der Messegründerin von Anfang an miterlebt: «Meine Tochter wurde ausserhalb des Spitals das erste Mal in der Galerie Jamileh Weber gewickelt. Inzwischen kümmert sie sich um das Messemarketing und den Katalog.» Fenners Sohn ist inzwischen für den Standbau verantwortlich. So jung die Kunst Zürich ist, sie ist bereist ein Generationenprojekt.

NZZ am Sonntag, Kunstmarktbeilage

Ausgezeichnete Buchkunst

Das TGG-Team erhält für die Gestaltung einer wissenschaftlichen Buchreihe die Auszeichnung «Schönste deutsche Bücher». Zudem ist eines der Typotron-Hefte für den Joseph Binder Award nominiert.

Zickzacklinien auf weissem Grund, farbiger Schnitt – das Wenige ist das Auffällige der NZZ Libro Paperbacks, gestaltet vom St.Galler Büro TGG Hafen Senn Stieger. Dass die Bücher angenehm in der Hand liegen und dem lesenden Auge gut tun, liegt vor allem an jenen leicht zu übersehenden Dingen, die dennoch wichtig sind: eine wohlgeordnete Typografie, sorgfältig ausgewähltes Papier, die durchdachte Gestaltung und Platzierung von Kästen und Diagrammen. In der Würdigung der Stiftung Buchkunst liest sich das so: «Die Sachbuchreihe der Neuen Zürcher Zeitung sieht auch sachlich aus. Sachlich, jedoch nicht langweilig oder öde oder bloss pflichtbewusst dahingedruckt.» Da ist die Rede von breiten Bundstegen, von undogmatisch gesetzten Seitenzahlen und Kolumnentiteln von Absatz- und Überschrifteneinzügen – von einer «eleganten Publikation» also, die zu den 25 schönsten Büchern des Jahres gekürt wurde. Zwei Expertenjurys wählten in einem aufwändigen Verfahren aus insgesamt 803 eingesandten Titeln jeweils fünf aus den Kategorien «Allgemeine Literatur», «Wissenschaftliche Bücher, Schulbücher, Lehrbücher», «Ratgeber, Sachbücher», «Kunstbücher, Fotobücher, Ausstellungskataloge» und «Kinderbücher, Jugendbücher».

Die Auszeichnung geht in zweifacher Hinsicht nach St.Gallen, denn TGG hat für die NZZ-Reihe eine neu entwickelte Schrift von Marc Weymann verwendet: Der in London lebende Schriftgestalter hat sein Diplom an der St.Galler Schule für Gestaltung erworben und ist inzwischen hier als Gastdozent tätig.

Zweifach ausgezeichnet ist aber auch TGG selbst, denn die St.Galler sind ausserdem für den in Österreich verliehenen Joseph Binder Award 2014 nominiert. Sie überzeugten  die internationale Fachjury mit der Gestaltung des Typotronheftes «Gallus & Pretoria», das anlässlich des Gallusjubiläums herausgegeben wurde. Mit diesen Auszeichnungen wird die Gallusstadt einmal mehr zum Synonym für eine Buchstadt, und das weit über regionale Grenzen hinaus.

Die Welt in Bildern

In einer Doppelausstellung werden im Kunstraum Kreuzlingen & Tiefparterre Werke von Stefan Baltensperger sowie von Muda Mathis und Sus Zwick gezeigt. Obgleich unabhängig voneinander präsentiert, beschäftigen sich doch drei alle mit globalen Themen.

Die Welt ist gross – niemand hat sie vollständig bereist. Ein Bild, auch von den unzähligen, nicht selbst bereisten Gegenden, machen sich die Menschen trotzdem. Sie machen es sich mithilfe mobiler Bilder. Das waren früher Zeichnungen, Drucke oder Skizzen und später analoge Fotografien, in grundsätzlich beschränkter Menge. Im digitalen Zeitalter ist die Bilderflut hingegen unendlich geworden. Macht dies unser Bild von der Welt aussagekräftiger? Besser? Wahrer? Stefan Baltensperger gibt darauf keine Antworten, aber im Kunstraum Kreuzlingen visualisiert er das Problem der Verfügbarkeit von Bildern, die herausgelöst von ihrem Kontext konsumiert werden. Der Zürcher Künstler verknüpft acht Flachbildschirme mit dem Materialausstoss internationaler Nachrichtenagenturen: So ist in Weltkartenumrissen alles und nichts zu sehen. Die schiere Fülle der Bilder ist nicht zu bewältigen, geschweige denn fördert sie das Verständnis für die Probleme anderswo.

Daneben präsentiert Baltensperger eine Installation aus achtzehn weissen Hochglanzkoffern, wie sie eigentlich für den Transport von Musikinstrumenten angefertigt werden. In Kreuzlingen gleicht die Form der Etuis jedoch nicht einem Cello, sondern einem Menschen. Schon Man Ray hatte mit «Le Violon d’Ingres » diese formale Verwandtschaft betont. Bei Baltensperger geht es aber weniger um ästhetische und kunsthistorische Anspielungen als vielmehr harte Realität. Die Koffer sind geformt wie Menschen in kauernder Position, schicksalsergeben oder gar exekutionsbereit – nicht nur durch den Tragegriff zum Objekt mutiert. Baltensperger ist damit sehr nah an aktuellen politischen Geschehnissen. Muda Mathis und Sus Zwick sind dies nicht minder, aber vielschichtiger und hintergründiger. Die beiden Künstlerinnen reisten mit einer ukrainischen Freundin nach Russland und in die Ukraine, um deren multikultureller Familiengeschichte zu folgen. Die dabei entstandenen Foto- und Filmaufnahmen fügten sie zu einer Zwei-Kanal-Videoinstallation mit Liedern, Beobachtungen, Fragen, Erzählungen. Damit ist sie ebensosehr Roadmovie wie Episodenfilm, Musikvideo und Dokumentation, basiert auf Montagen und Collagen. Immer wieder werden die Bilder beispielsweise gespiegelt, so dass sie einerseits auf sich selbst verweisen und andererseits auseinander streben in eine unfassbare Weite. Mathis und Zwick bedecken eine Russlandkarte mit Lebensmitteln und finden damit einen sinnlichen Ausdruck für Migrationserfahrungen. Sie fragen danach, was Familie ist und was sie bedeutet und lenken den Blick immer wieder besonders auf die Frauen im „männlichen Russland“, wie es in einem der Songs mit Ohrwurmpotential heisst. «Olga und Olga und die koreanische Grossmutter» ist Einzelschicksalen auf der Spur und taugt aber gerade deshalb dazu, die vielschichtigen Folgen zu zeigen, die erzwungene Identitätswechsel, abgeschnittene Verbindungen und soziale Verwerfungen als Resultat einer menschenfremden Politik mit sich bringen.

Wer hat Angst vor Pink, Grün, Gelb?

Die Künstlerin Claudia Desgranges zeigt in der Kunsthalle Ziegelhütte neue Arbeiten unter dem Titel „update“. Ihr Kennzeichen sind leuchtende Farben auf Aluminiumplatten.

Aluminium ist, was die aufgespannte, grundierte Leinwand nicht ist. Das Metall bietet der Farbe keine Reibungsfläche. Es ist flach, statt körperhaft. Es reflektiert, statt einen neutralen, hellen Hintergrund zu bieten. Wenn also Aluminium als Malgrund verwendet wird, dann ist diese Entscheidung nicht selbstverständlich, sondern Teil eines besonderen künstlerischen Gestaltungsprozesses. So wie bei Claudia Desgranges. Die 1953 geborene Künstlerin arbeitet in ihren Ateliers in München und Köln auf rechteckigen Aluminiumplatten unterschiedlicher Grösse. Der Farbauftrag ist dicht bis lasierend. Mal ist die ganze Fläche zugestrichen, mal setzt die Künstlerin mit breitem, sehr breitem Pinsel einzelne Striche oder einen Streifen auf eine lange Platte. Diese unterschiedlich grossen und verschieden bemalten Tafeln werden komponiert zu mehrteiligen Arbeiten: monochrom zu mehrfarbig, klein zu gross. Zwei bis drei Platten sind so montiert, dass sie vor der Wand zu schweben scheinen, zudem variiert ihr Abstand zur Wand.

Desgranges Themen sind Farbe, Raum und Malerei. Die Farben sind delikat und leuchtend. Ihre Strahlkraft wird vom hell reflektierenden Aluminium ebenso unterstützt wie in der Kombination dunkler Töne zu hellen. Die Reflektion des Metalls steigert zudem die Raumwirkung der Arbeiten. Schon durch die in Raum hineinreichende Montage gibt es einen räumlichen Effekt, überdies fangen die spiegelnden Metalloberflächen den ganzen Ausstellungssaal der Kunsthalle Ziegelhütte ein. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch Desgranges´ Duktus. Mit bestimmter Geste streicht sie die Farben auf und gibt ihnen eine Richtung. Sie weisen unabhängig vom Trägermaterial in den Raum hinaus, lenken die Blicke aufwärts oder leiten zum nächsten Bild. Dies ist vor allem in den dreiteiligen Arbeiten spannend. In diesen zeigt sich Desgranges´ besondere Stärke. Hier stimmt die Balance zwischen Dynamik, Komposition und Farbe. In den zweiteiligen Werken geht hingegen die Raumwirkung etwas verloren, da beide Platten in der gleichen Ebene hängen. Zudem verlagert sich das Gewicht zu stark auf die Oberflächengestaltung. Diese wiederum ist weniger klar, sie verliert sich im gesetzten Muster.

Seit 1990 arbeitet die Künstlerin an ihrer autonomen Farbmalerei. Die verschiedenen Variablen ihrer Kunst werden immer neu ausgelotet, dazu gehört auch die Kombination der Platten: Erst nach dem Malprozess werden sie zueinander gruppiert. Ebenfalls nach dem Malen entstehen die Farbtagebücher. Auf deren Seiten hat Claudia Desgranges die verwendeten Pinsel ausgestrichen. So dokumentiert sie einerseits die Arbeit und andererseits führt sie das malerische Werk fort mit ähnlich bestimmtem Duktus und denselben Farben. In der Kunsthalle Ziegelhütte reiht sich die Präsentation der Bücher in eine lange Folge gezeigter Künstlerbücher. Aber auch die grossen Formate im Werk der Künstlerin sind schlüssig ins Museumsprogramm integriert, Kurator Roland Scotti führt damit die Reihe der Ausstellungen zur Farbmalerei fort. Desgranges´ Bilder sind ein farbenfroher neuer Kommentar zu diesem Thema.

Liebe, Schmerz und Kunst

Das Birli in Wald AR ist als Haus für Artists in Residence immer neu für Überraschungen gut. Lena Münch, die jetzige Stipendiatin, hat einen dreitägigen «Kunstgipfel» organisiert.

«House of Love and Pain» – das weckt spontan Erinnerungen an den Aufenthalt von Gelitin, damals noch als Gelatin, im Haus Birli der Schlesinger-Stiftung. 2002 war das und ziemlich wild. Doch das Motto des Wochenendes will weder einen Ort sadomasochistischer Spielchen ankündigen noch das Bauernhaus in einen Dark Room verwandeln. Dunkel war am vergangenen Wochenende nur die Kleidung der anwesenden Künstler und Künstlerinnen und ihrer Freunde.

Lena Münch, die derzeitige Stipendiatin der Schlesinger-Stiftung, hatte zum Kunstgipfel geladen. Der Garten der Lüste sollte wiederauferstehen, inklusive Sündenfall und erweitert um Schlaraffien. Also blubbert das Käsefondue über offenem Feuer, just an jener Stelle, an der im vergangenen Jahr die Mitglieder der Künstlergruppe Palatti die zwei Schweine Flekki und Spekki gemästet hatten. Zum Knistern des Feuers mischt sich elektronische Musik, dazu Kuhglockengetön und Mobilgerätegeklingel. Wir sind schliesslich im Hier und Heute, auch wenn die Aussicht nach Rehetobel die grosse Welt vergessen lässt.

Was findet hier statt – ein gemütliches Zusammensein unter Gleichen? Die Kunst ist erst auf den zweiten Blick zu sehen, etwa in einer fragilen Installation aus Schnüren und Zweiglein am Baum, Gemälden im Garten und gebündelten Palisaden auf der Weide. Dramatischer wird es dann zwischen den Hecken: Ein Skelett in der frisch ausgehobenen Grube. Haben Liebe und Schmerz ein erstes Opfer gefordert?

Zum Glück wurde das Motto des Wochenendes nicht überall so wörtlich genommen. Zum Beispiel vom Kunstkollektiv WBNG: Im Erdgeschoss des Hauses nahmen sich die Stuttgarter des Weltschmerzes an. Da strahlt ein Feuer aus Leuchtstoffröhren kaltes Licht statt Wärme ab, und die tief abgehängte Decke über den alten Tischen schafft eine bedrohliche Atmosphäre wie in einer Edgar Allan Poe-Erzählung. Enge korrespondierte mit Leere. Dazu sind die Fensterscheiben mit Alufolie abgeklebt oder mit Erde zugeschüttet – lebendig begraben, isoliert. Und die Projektionen der meistgeklickten Youtubevideos auf einen toten Fernseher machen deutlich, dass das Individuum zwar Teil einer globalen Gruppe ist, damit aber noch längst keine Empathie oder Nähe hergestellt ist.

Derweil rumpelt es treppauf, treppab im alten Haus. An einer Tür hängt die Nachricht, dass wegen einer «Trommelreise» derzeit geschlossen ist, anderswo wird vor Publikum tätowiert. Die Grenzen zwischen Wohnen und Installation verschwimmen. Matratzenlager können auch Konzertraum sein und das Treppenhaus eine Projektionsfläche, beispielsweise für eine Arbeit der Ausserrhoder Künstlerin Michaela Müller. Sie aber weilte am Wochenende längst wieder in ihrer Arbeitsstätte in New York.

Trotzdem: Initiantin Lena Münch klang zufrieden. Sie hat während ihres Aufenthaltes ihre eigene Arbeit weitergetrieben, hat neu das Schreiben für sich entdeckt, hat das Konzept für dieses Wochenende entwickelt und damit viele Begegnungen gestiftet. Es wird wohl jeder etwas mitnehmen, der am Wochenende hier war, und sei es nur einen Eindruck davon, was in Ausserrhoden zwischen grünen Weiden und unter imposanten Wolkenbergen alles möglich ist.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/liebe-schmerz-und-kunst/

Art Brut – Japan – Schweiz

Eine Ausstellung im St.Galler Museum im Lagerhaus

Seine Werke gehören zu den meistabgebildeten der letztjährigen Biennale in Venedig: Shinichi Sawada. Massimiliano Gioni stellte die Tonfiguren des Japaners in der Hauptschau «Der enzyklopädische Palast» aus. Es war nicht die einzige Aussenseiter-Position, die zur Erweiterung des Kunstdiskurses und zur Steigerung der Authentizität beitragen sollte, und es ist längst nicht der einzige Versuch dieser Art in den letzten Jahren. Nun ist Sawada wieder in anderem, ursprünglichem Kontext zu sehen. Das St.Galler Museum im Lagerhaus zeigt seine Werke gemeinsam mit denen anderer japanischer Aussenseiter und zusammen mit ausgewählten schweizerischen Positionen.

Die Ausstellung steht im Kontext des 150-jährigen Jubiläums der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Japan. Der Anlass ist also ein hochoffizieller, die Schau aber trägt ganz die Handschrift des Museums und seiner Kuratorin, Monika Jagfeld. So ist es in St.Gallen beispielsweise möglich, die fragilen Plastiken Sawadas oder die Papierfiguren Keisuke Ishinos ohne Glashaube zu zeigen. Dies steigert nicht nur ihre Präsenz, es belässt ihnen auch ihre Unmittelbarkeit.

Den japanischen Werken wurden solche aus der eigenen Sammlung zur Seite gestellt. Das ermöglicht es, formale Verwandtschaften zu suchen oder zu untersuchen und andererseits die inhaltliche Lesbarkeit bezogen auf den jeweils anderen Kulturkreis zu reflektieren. Oder wie es von Museumsseite her formuliert wird: Ist Art Brut eine Art „global language“? Dazu wäre die Einteilung der Werke in Kategorien wie Systeme, Imaginäre Welten, Wundersames oder Phantasmagorien nicht nötig gewesen, birgt dies doch die Gefahr, dass der offene Blick auf die Werke eingeschränkt wird. Aber gerade indem viele der Kategorisierungen kaum voneinander zu trennen sind und obendrein hinterfragt werden dürfen, schärfen sie den Blick für Überschneidungen und Alternativen.

In der Vergangenheit wurden in Ausstellungen des Museums auch zeitgenössische Künstler integriert. Auch diese Schau hätte sich dafür angeboten. Angesichts des Aussenseiter-Booms in der internationalen Kunstszene ist es aber ebenso schlüssig, darauf zu verzichten. Und es kommt der Dichte der Präsentation zugute. Schade nur, dass es im Katalog aus ganz profanen Gründen nicht möglich war, auch die Schweizerischen Positionen unterzubringen, denn die interkulturellen Vergleichsmöglichkeiten gehen dadurch verloren.

www.museumimlagerhaus.ch

Tanz draussen und drinnen

Tanz braucht Körper. Er braucht Platz. Wände und ein Dach braucht er nicht immer. Im Gegenteil: Tanz trifft im öffentlichen Raum auf spannende Vorgaben. Fern der etablierten und der Szenebühnen gibt es inhaltliche Anstösse und situative Herausforderungen. Das Publikum ist neugierig und bringt unterschiedlichste Voraussetzungen mit. Claudia Roemmel und Kjersti Sandstø reizen genau diese Besonderheiten.

Kjersti Sandstø alias Sandstø Production, hat in Norwegen eine klassische Ballettausbildung absolviert, doch bald spürte sie die Einschränkungen in diesem Metier: «Es war wie Sport. Die Technik stand im Vordergrund und die künstlerische Seite und die Vielfalt im Ausdruck fehlten mir.» Sandstø aber zog die Konsequenz und hörte mit dem Tanz auf, und versuchte es mit Zehnkampf, Hand- und Basketball, vermisste aber die Musik. Im zeitgenössischen Tanz hat die gebürtige Norwegerin dann vor 20 Jahren ihre Ausdrucksart gefunden. Sie lebt seit einigen Jahren in Schachen AR und hat ihre eigene Tanzwerkstatt in St. Margrethen. Längst tanzt sie nicht mehr nur, sondern choreografiert, unterrichtet und ist zweimal im Jahr an der Hochschule für Tanz in Oslo als Gastdozentin. Diese Vielfalt schätzt Kjersti Sandstø, aber es bleiben auch Wünsche offen: «Gern würde ich mehr als Gastchoreografin an Theatern arbeiten.» Aber der Einstieg ist immer wieder schwierig und so arbeitet Sandstø seit 2011 wieder freischaffend. Im Mai zeigte sie an der St. Galler Ausgabe des Tanzfestes einen Ausschnitt aus ihrer nächsten Produktion «Callomania». Das Stück ist eigentlich für die Bühne konzipiert, und wird Ende September in der Grabenhalle Premiere feiern, aber Sandstø präsentierte es im Regen am Bahnhofsplatz und schätzte die direkten Reaktionen des unvoreingenommenen Publikums.

Auch Claudia Roemmel war erneut mit einer Arbeit am Tanzfest dabei. Sie hatte mit dreissig Tanzschaffenden und bewegungs-art Freiburg im Breisgau eine «Instant-Composition» entwickelt, eigens für die Unterführung bei der Fachhochschule St.Gallen: «Als Tänzerin interessiert mich der Raum mehr als die schwarze Bühne. Ausserdem will ich gemeinsam mit Anderen etwas gestalten, als nur etwas vorzuführen.» Die St.Gallerin bezieht die Mitmenschen ein in ihre Projekte: «Ich habe klare Bilder vor Augen und kann sie den Mitwirkenden auch vermitteln. Allerdings kann ich die vielen Leute nie richtig bezahlen und so bleibt es eine Gratwanderung: Es soll für mich stimmen, aber es muss allen soviel Spass machen und Freiheit erlauben, dass sie wiederkommen wollen.»

Roemmel war lange unentschlossen, ob sie sich dem Tanz oder dem Theater zuwenden sollte. Sie hat ihre Ausbildung in Bewegungstheater und Improvisation erst mit 25 angefangen und schafft in ihrer Arbeit die Synthese zwischen den Gattungen. Nach Jahren in Trogen und Bern ist sie in St.Gallen wieder gut gelandet: «Die Ostschweiz ist tanzfreundlich geworden. Hier ist dank der Tanzförderung viel passiert.» Und so wird von professionellen Tanzschaffenden wie Claudia Roemmel und Kjersti Sandstø hoffentlich noch viel zu sehen sein in den nächsten Jahren.

Obacht Kultur, Nr. 19, Heft 2/2014

Was kommt nach dem Tanz?

«Matthias Strahm bitte auf die Bühne!» – im Opernhaus ist alles durchorganisiert, ganz gleich, wo auf der Welt es sich befindet. Matthias Strahm arbeitete am Schluss seiner tänzerischen Laufbahn am Opernhaus in Graz, also in einem gut geschützten Raum wie er selbst ausführt: «Es gibt feste Zeitpläne. In der Garderobe sind stets die Probesachen oder Kostüme parat. Es war für alles gesorgt, nur tanzen musste ich noch selbst.» Aber genau darin lang das Unbehagen des in Heiden aufgewachsenen Wahlschotten. Er bemerkte, dass er sich immer mehr für die Bühne und die Kostüme interessierte als dafür, den Tanz und den Körper ganz ins Zentrum zu stellen. So verabschiedete er sich schliesslich vom klassischen Ballett, um sich als Ausstatter von Bühnenstücken selbstständig zu machen. Es war ein Schritt ins Gegenteil. Während sich zuvor alles wochenlang um ein vierminütiges Solo drehte, dieses nach dem Stück aber beendet war, kreiert er jetzt Bauten, die lange stehen bleiben. Aber ist die Selbstständigkeit auch mit mehr Flexibilität als die Anstellung am Opernhaus verbunden? Strahm verneint: «Als ich mich für den Beruf des Tänzers entschied, war klar, dass auch das keine sichere Sache ist. Es gab immer nur Jahresverträge.» Strahm sieht das positiv, führte es doch auch dazu, dass er seither in 4 Ländern gearbeitet hat. Zum Tanz aber sehnt er sich nicht zurück. Das klingt bei Kate Baur anders. Die gebürtige US-Amerikanerin hatte nach ihrer Ballettausbildung Engagements bei den Ensembles in San Diego, Bonn und St. Gallen. Sie tanzte sehr gern. Doch der Spagat zwischen Beruf und Familie wurde irgendwann zu schwierig. Baur klingt wehmütig, wenn sie erzählt: «Die Ausbildung dauerte lange, doch auch der Prozess des Ausstieges war lang. Ich musste das verarbeiten.» So ging sie noch in den Tanzunterricht, bis sie merkte, dass auch dies ihrem Körper nicht mehr gut tat. Schliesslich unterrichtete sie Kinder, um von ihrer eigenen Ausbildung etwas weiterzugeben. Doch auch da kam die Einsicht ins eigene Älterwerden. Inzwischen hat Baur eine andere Form gefunden, mit ihrem Körper zu arbeiten. Sie unterrichtet in Bühler Tai Chi und Qi Gong und schätzt die Art des Atmens, des Entspannens, der Haltung, Bewegung und der Wahrnehmung. Für Cordelia Alder hingegen ist das Alter kein Grund mit dem Tanzen aufzuhören. Zwar merkt auch die Tanzpädagogin, dass sie dem Körper „immer mehr Sorge tragen“ muss, aber sie hat das Rezept dafür: Spiraldynamik. Damit werden auf Anatomie und Drehbewegung des Körpers geachtet. Die Bewegungslehre lässt sich bis ins hohe Alter anwenden: «Ältere Menschen berauchen einfach eine intelligente Bewegungsstrategie». Tatsächlich spürt Alder dank dieser Technik keine Einschränkungen. Das ist umso wichtiger als sie 20 bis 30 Stunden Unterricht pro Woche gibt – ein grosses Pensum. Körperlich kann Alder das gut bewältigen, aber es ist in anderer Hinsicht schwierig: «Ich unterrichte an fünf Abenden pro Woche, dass heisst, ich arbeite immer dann, wenn die Kinder heimkommen.» Nichtsdestotrotz, die Gaiserin geniesst ihre Arbeit nach wie vor: «Ans Aufhören denke ich noch lange nicht.»

Obacht Kultur, Nr. 19, Heft 2/2014

Räume rennen nicht. Tanzende sind unterwegs.

Wie arbeiten Choreografen und Choreografinnen? Sie notieren sich Schritte, zeichnen Bewegungen auf, setzen Zählzeiten und verlangen von den Tanzenden, genau diese Schritte und Bewegungen zu wiederholen. So arbeitet Philip Amann nicht. Der Choreograf und Tänzer gibt seine Grundidee an die Darstellenden weiter: «Ich versuche, Konzept und Essenz zu vermitteln und dann dem Ganzen eine Richtung zu geben. Ausserdem gebe ich Objekte in den Raum.» Das kann beispielsweise eine weisse, quadratische Bodenmatte sein. Die Aufgabe ist dann, sich selbst auf den Boden zu bringen, so langsam wie möglich und so umständlich wie möglich. Entstanden ist daraus das Stück «Wrestle yourself into the ground». Es wurde vor zwei Jahren im TanzRaum Herisau im Rahmen von TanzPlan Ost aufgeführt. Philip Amann tanzt es gemeinsam mit Kilian Haselbeck, und beide haben die Choreografie entwickelt. Sie bringt zwei Charaktere und Körper zusammen und begeistert, da die zwei Akteure in keinerlei Hierarchie zueinander stehen und sowohl kräftemässig als auch tänzerisch einander ebenbürtig sind.

Aktuell arbeitet Amann an einer neuen Choreografie. Das Thema des Stückes liegt in der Zukunft: Der Ausgangspunkt ist eine Geburt im Jahre 2076, nachdem Technik und Strom ausgefallen sind. Geraten die Menschen dann automatisch in den Urzustand zurück? Oder gelingt dies nicht mehr? Amann selbst tanzt nicht mit. Er arbeitet mit zwei Tänzerinnen, einem Tänzer, einem Dramaturg und einem Bassist. Eine Gruppe dieser Grösse stellt einige Herausforderungen an den Choreografen: «Ich muss alle bei Laune halten, auch mich selbst. Jeder, der mitmacht, sollte sich mit dem Stück identifizieren können. Also muss ich Spielraum offen lassen, aber auch entscheiden, wann ich nicht mehr auf neue Ideen eingehen kann.»

Amann sucht die Balance zwischen seinem Konzept und den Einfällen der Tanzenden. Es kommt vor, dass letztere umgeformt werden müssen. Das fällt nicht immer leicht – je nach Tagesform: «Es gibt Tage, da ist man weniger stark. An entspannten Tagen, kann ich mehr laufen lassen und trotzdem alles zusammenbringen.» Also doch lieber Solos tanzen? Für Amann ist das keine Lösung: «Das geht nicht mehr, da langweile ich mich selbst.» Stattdessen weitet Amann sein Interesse auf andere Bereiche aus, so hat er sich jüngst mit Tontechnik beschäftigt. Das Interdisziplinäre treibt den Ausserrhoder aber schon lange um, schon sehr lange. Als die Familie von Herisau nach Konstanz zog, litt der Achtjährige zunächst darunter. Doch bald zog es den Schüler ans Unitheater Konstanz. Dort suchte der Choreograf Konstantin Tsakalidis Tänzer und Schauspieler. Amann erlebte dramaturgische Arbeit aus der Nähe und wurde bald in die Stückbearbeitung einbezogen. Er lernte die Bühne von mehreren Seiten her kennen. Dann folgten die Ausbildungsjahre zum Tänzer und 2005 schliesslich die Gründung der Gruppe «crucible» gemeinsam mit seiner Schwester Cecilia Amann, Schauspielerin, einem Bühnenbildner, einem Videokünstler und einem Jazzpianisten.

Die Fünf erklärten es zu ihrem Ziel, die Kunstformen zusammenzuführen: Schauspiel, Tanz, Bühnengestaltung, Video und Musik. Jeder konnte sich und seine Ideen künstlerisch einbringen. Zudem sollten die Stücke nicht nur die eingeschworene Szene bedienen, sondern auch für Laien zugänglich und obendrein tourfähig sein. Seit der Gründung kamen weitere Ensemblemitglieder hinzu. Das war sehr bereichernd, aber auch anstrengend, so Amann: «Es vergeht viel Zeit damit, Dinge zu besprechen.» Die Zusammenarbeit gibt es noch, aber sie ist inzwischen lockerer geworden. Ohnehin gehen Amann die Projekte so schnell nicht aus. Immer wieder führen sie ihn auch in die Ostschweiz. Erst kürzlich erheilt er die Zusage vom Winterthurer Theater am Gleis für eine Aufführung von „Vom Cyborg zum Höhlenbaby- Evolution noch einmal in fast-motion für Sie“ (Arbeitstitel). Amann verdankt dies der TanzPlan Ost-Tournee: «Sonst würde mich in Winterthur keiner kennen.» Zweimal hat Amann schon beim TanzPlan Ost mitgemacht. Auch Kilian Haselbeck lernte er bei dem Tanzprojekt kennen. Und vielleicht führt es ihn irgendwann wieder ganz zurück in die Schweiz. Denn an seinem derzeitigen Arbeits- und Wohnort Berlin gibt es zwar viele Proberäume, aber «die rennen nicht weg. Wichtiger sind die Tanzenden, und da hat sich in der Schweiz viel entwickelt.»

Obacht Kultur, Nr. 19, Heft 2/2014

Reisen im Schauspielmetier

Ein Kunstbeitrag zu “Mitten am Rand” – Kulturlandsgemeinde 2014 in Schönengrund

Schauspielerinnen und Schauspieler können alles sein. Sie sind präsent auf der Bühne, im Film oder im öffentlichen Raum. Sie stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit und sind doch immer Teil eines grösseren Ganzen. Denn der Schauspielberuf braucht Publikum, er braucht Regisseurinnen, Dramaturgen, Theaterautorinnen oder Souffleure.

Jeanne Devos und Karin Enzler waren an der Kulturlandsgemeinde in Schönengrund auf sich gestellt. Wie also sollten sie die Samstagsplattformen einleiten und mitgestalten? Sollten sie schlicht hinweisen? Etwas erklären und pädagogisch wertvoll sein? Aus vorhandenen Texten vorlesen oder pantomimisch agieren? Komisch sein? Die beiden Schauspielerinnen haben sich entschieden, nicht zu belehren, nicht zu deuten, nicht auf Klamauk zu setzen, sondern ganz ihrer Spiellust zu vertrauen. Sie traten auf als Vertreterinnen der Schauspielgilde und thematisierten, was sie persönlich interessiert. Sie reflektierten als Künstlerinnen einer ganz besonderen Sparte, einer, die Figuren heraufbeschwören und sie wieder gehen lassen kann, die temporär stattfindet, aber nichtsdestoweniger bleibende Eindrücke hinterlässt, einer Kunst, deren Protagonisten unterwegs sind, unterwegs in ihren Aufführungen und ebenso in ihrer Biografie: Sie müssen sich wandeln können mit jedem Theaterengagement und jedem Stück. Die Frage nach dem Mittelpunkt, dem Woher und Wohin ist also viel mehr als nur eine des Ortswechsels. Jeanne Devos und Karin Enzler thematisierten die Reisen auf Bühnen und im Leben. Sie klammerten aber auch Grundsatzfragen der darstellenden Kunst nicht aus, denn der Schauspielberuf kann nicht allein stattfinden, er steht und fällt mit der Erwartung des anderen und mit den Rahmenbedingungen. Wie sehr dürfen Schauspielende mit ihrer Rolle verschmelzen? Wie wollen sie wahrgenommen werden? Wollen sie geliebt werden? Fragen nach Identität, Präsenz und Konkurrenz sind Alltag in der Schauspielkunst. Hier hat der Beruf auch Schattenseiten. Sie auf sich zu nehmen und zu versuchen, damit umzugehen, ist eine individuelle Entscheidung, aber die Herausforderungen mindert dies nicht.

Jeanne Devos und Karin Enzler präsentierten nicht einfach ein leicht zu konsumierendes Unterhaltungsprogramm. Sondern sie reisten für dreimal zehn Minuten als Schauspielerinnen in ihrem Metier herum und brachten an die Kulturlandsgemeinde persönliche, sinnliche Erfahrungsberichte zu Rand und Mitte eines Berufes.

Obacht Kultur, Nr. 19, Heft 2/2014