Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Tine Edel – Einmal war es so

Und im Verputz a de Wand gsehsch Gsichter und Forme

Tier frässed Lüt frässed Tier und immer wieder vo vorne

D Auge wachsed ne zue und d Bei wachsed ne zäme.

Du vergässisch ihri Gsichter, du vergässisch ihri Näme

Manuel Stahlberger, «Du verwachsch wieder nume i dinere Wonig»

Kurz vor dem Erwachen, kurz vor dem Einschlafen, wenn das Licht schon gelöscht oder noch nicht eingeschaltet ist, wenn das Zimmer nur ganz spärlich erleuchtet ist vom hereindringenden Schein der Strassenlaterne, wenn der Schlaf noch nicht gekommen ist oder die Schlafenden eben erst erwachen, verwandeln sich die vertrauten Dinge des Zimmers. Das Muster der Tapete beginnt ein Eigenleben, der Vorhang verbirgt grimmig blickende Fabelwesen. Das Zwielicht der Dämmerung nimmt der Welt ihre Eindeutigkeit – drinnen in der Wohnung genauso wie draussen vor der Tür. Wenn die Blaue Stunde vorüber ist, dann wird es dort, wo das Licht der Stadt schwächer wird, an ihren Rändern, in den Zwischenzonen, in den Parks, geheimnisvoll, es wird stiller, fremder. Das liegt nicht nur daran, dass alles weniger deutlich zu sehen ist. Die Welt klingt auch anders, fühlt sich anders an. Ein kurzes Wegstück kann sich endlos dehnen. Ein baumumstandener Flecken im Park wird zu einem ganzen Wald – Distanzen und Dimensionen scheinen nicht mehr dieselben wie am Tage zu sein.

Sichtbares lässt sich fotografieren; doch lässt sich die besondere nächtliche Stimmung im Bild bannen? Lässt sich all das darstellen, was mehr zu erahnen, als zu sehen ist? Lässt sich die Ahnung selbst fassen? Tine Edel faszinieren die Zwischenbereiche, das Beiläufige, das noch nicht oder nicht mehr ganz Erkennbare, das Unbeachtete. Mit einer analogen Kamera durchstreift die Künstlerin die städtische Umgebung, nachts, aber auch am Tage. Nicht auf der Suche nach einem Motiv, sondern offen für das, was ihr begegnet, für die Stimmung, das Licht, die Nebensächlichkeiten, zugänglich für die Aussenwelt.

Bereits in den 1950er Jahren hatten die Lettristen in Paris das Umherschweifen als Methode entdeckt, um sich dem urbanen Raum neu zu nähern. Sie verachteten vorgegebene oder ausgetretene Pfade, verzichteten auf alle herkömmliche Bewegungs- und Handlungsmotive. Sie liessen sich treiben, ohne festen Kurs, nur den momentanen Erlebnissen, den Strassenzügen folgend und erkundeten so die psychogeografischen Zusammenhänge der Stadt. Es ging darum «die genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus zu erforschen, das bewusst eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt.» (Guy Debord)

Ziel der Lettristen und der auf sie folgenden Situationisten war es nicht, zu flanieren, zu spazieren oder zu reisen, sondern einzutauchen in das, was vorgegeben ist, die Strömungen und Strudel wahrzunehmen. Auch Tine Edel gibt sich diesen Anregungen des Geländes hin, zudem hält sie sie fotografisch fest. Schon beim Umherschweifen der Künstlerin wirkt die Umgebung auf ihre Weise mit, lenkt durch ihre Wege die Schritte, aber auch die Motive lassen sich nicht vollständig aneignen und bleiben in der fotografischen Umsetzung eigenständig. Das gilt sowohl für die Entwicklung des Bildes, als auch für seine Präsentationsform.

Tine Edel entwickelt ihre Aufnahmen selbst. Fasziniert beobachtet sie, wie jedes Bild sein Eigenleben behält, wie sich der Prozess des Entwickelns ins Motiv einschreibt. Die Künstlerin verwendet das Verfahren der Cyanotypie. Bei dieser alten Technik ist das Entwickeln des Motives dem eigentlichen Akt des Fotografierens nahezu ebenbürtig. Das handwerkliche Ausdrucken erlaubt eine Interpretation des Negativs, die Künstlerin kann Zufälle zulassen oder unterbinden. Besonders auf den auf Glasscheiben entwickelten Motiven sind Krakeluren, kleine Bläschen oder Schlieren gut zu sehen. Unvorhergesehenes verewigt sich: Lichtflecke, Fasern, Fehlbelichtungen werden Teil der Szenerie. Darüber hinaus gibt es in der Arbeit der Künstlerin nicht die einzig wahre Form für die Präsentation eines jeden Bildes. So sind innerhalb der Ausstellung Motive an mehreren Stellen in unterschiedlichen Formaten zu entdecken. Die Hängung selbst zeigt, dass Tine Edel ihre Bilder als Teil einer grösseren Erzählung versteht. Wenn sie etwa für «Zwischen den Jahren» eine Diaprojektion als Endlosschleife wählt, fügt sich eine Fotografie zur anderen, jede hat eine Nachfolgerin, eine Vorgängerin, keines steht isoliert, gemeinsam ergeben sie einen Bilderstrom, der dem «stream of consciousness» einer literarischen Figur gleicht. Wahrnehmungen mischen sich mit Assoziationen, Empfindungen haben ebenso Platz wie Beobachtungen. Dieses Beobachten hört mit dem Fotografieren des Sujets nicht auf, sondern setzt sich innerhalb der Ausstellung fort. Die Hängung der Glasscheiben erlaubt beispielsweise unzählige weitere Beobachtungen und Entdeckungen: Wie sich etwa ein Fenster in einem Fenster spiegelt, wie der Schatten des Fenstermotives hinter der durchleuchteten Glasscheibe auf die Wand fällt. Wie eine Spiegelung in einer Seifenblase mit dem Durchlicht korrespondiert. Wie transparente und intransparente Elemente eines Bildes sowohl miteinander in einen Dialog treten, aber auch mit dem Bildträger, der Wand, dem Licht. Tine Edel zeigt unspektakuläre Motive, aber durch ihre Arbeit offenbart sie kleine visuelle Sensationen.

Vernissagerede, Ausstellung Tine Edel, Galerie vor der Klostermauer, 7. Februar bis 1. März

Das Roothuus ist wieder rot

Abreissen oder Erhalten? Die Frage lässt sich umso besser beantworten, wenn ein Bau mit neuen Inhalten gefüllt werden kann.

Ein stattliches Haus, ja sogar das stattlichste in Gonten, gemeinsam mit dem Gasthaus Bären – so ist es über das Roothuus vermerkt im Band 74 der Reihe «Die Kunstdenkmäler der Schweiz». Erwähnt werden dort die ursprünglich rote Bemalung, die Rokoko-Kartuschen auf den Zugläden und der Festsaal im dritten Stock mit «kräftig-derber Architekturmalerei von gedrehten Säulen, Muscheln und Phantasielandschaften in Kartuschenrahmen». Im Erscheinungsjahr des Bandes zu Appenzell Innerrhoden, 1984, war das Haus reichlich 200 Jahre alt. Substanz und Statik waren in einem guten Zustand, die Wände unverletzt und gesund. Nur die über die weiten Räume gespannten Böden waren nicht mehr stabil genug. Das Roothuus war also bei weitem nicht baufällig oder gar abbruchreif.

Inhalt und Unterhalt

Dennoch wurde der Erhalt des Hauses nicht zu allen Zeiten als selbstverständlich angesehen. Unklar waren Inhalt und Unterhalt. Die appenzellische Volksmusik erwies sich schliesslich als adäquates Thema. Josef Manser, späterer Geschäftsführer des Zentrums für Appenzellische Volksmusik, hatte die Idee einer Stiftung ausgearbeitet und sie wurde in der Musikszene eifrig diskutiert. Die Stiftung kaufte 2003 schliesslich das Roothuus und im April 2006 war es soweit: Es wurde mit der Restaurierung begonnen. Die Arbeit leitete der Herisauer Architekt Paul Knill. Sein Grundprinzip bei der Arbeit war es, sich in den vorhandenen Räumen einzurichten: «Wir haben das Angebot der Räume mit ihrem möglichen Zweck abgeglichen. Wie sich ein Handschuh über eine Hand streift, legt sich die Nutzung über das Gebäude». So besteht nun die grösstmögliche Übereinstimmung von Haus und Inhalt. Als Holzhaus gibt es ohnehin einen ausgezeichneten Klangkörper ab und der Steinsockel ist nun auch der Sockel der Tätigkeit des Zentrums: Hier befindet sich das Archiv.

Nur ein grosser Eingriff

Der einzige grössere Eingriff während der Restaurierung war durch die öffentliche Nutzung bedingt: Ein Treppenhaus erschliesst den Festsaal. Das war nicht immer so: Noch in den 1980er Jahren lehnte die damalige Bewohnerin des Hauses aus der Familie Broger eine Vermietung des Saales für spezielle Anlässe ab, da nicht nur das Abort- und Heizungsproblem ungelöst war, sondern „s Hennelääteli dööruuf“ in den Festsaal zu gefährlich sei. Jetzt bietet der Einbau einer Kaskadentreppe sowohl Brandschutz als auch Fluchtmöglichkeiten. Auffällig ist das verwendete Material: Die Brandschutzplatten sind mit Holzfaserplatten belegt. Sie kontrastieren weniger als die feuersicheren Gipsplatten mit dem Holz des Hauses und heben sich doch als deutliches Zeichen der Restaurierung von ihm ab.

Paul Knill vergleicht die Arbeiten am Roothuus mit dem Führen eines Gesprächs, dem Schreiben eines Textes, dem Komponieren von Musik: «Wort für Wort, Satz für Satz; oder Note für Note wurde beim Umbau des Roothuus Element zu Element geführt. Dabei schuf jedes dazu gekommene eine immer wieder veränderte Situation, anhand der die weiteren Schritte neu abgewogen wurden.»

Das Gesicht des Hauses

Die prozesshafte Arbeitsweise hat ermöglicht, laufend Erkenntnisse zu berücksichtigen. Während der Restaurierung wurde zudem das Alter des Hauses bestimmt. Die Zählung der Jahresringe des verwendeten Holzes ergab, dass das gesamte Holz für das Roothuus Gonten im Jahre 1762 geschlagen worden war. Die Datierung deckt sich auch mit der Jahreszahl über dem Türsturz zur Dachkammer (1764); die Malereien im Festsaal sind mit 1765 datiert. Im Giebeldreieck der Aussenfassade findet sich die Jahreszahl 1778.

Die Fassade war seit über 125 Jahren nicht mehr rot, obwohl die Farbe immer namensgebend blieb. Die vorstehenden Pfetten und Strickköpfe waren fassadenbündig abgesägt worden und die Front mit einem flächig ausgeführten Täfer verkleidet. In die dreieckigen Felder zwischen Täferfassade und Dach waren ohne Rücksicht auf die barocken Bilder Fenstersegmente eingesägt worden. Nach der Restaurierung sind die Fenster die alten, aber neuer Täfer variiert in Tiefe und Gestalt. Nun fangen sich in der Fassade wieder Licht und Schatten. Und die Fehlstellen in der Malerei wurden ergänzt, was zwar nicht der gängigen denkmalpflegerischen Praxis entspricht, dem Roothuus aber wieder ein Gesicht verleiht.

Aber wie konnte nun das Problem der schwachen Böden gelöst werden? Durch eine Erfindung: Gemeinsam mit Holzbauingenieur Hermann Blumer wurde ein Balken mit eingeleimtem, schmalen Stahlband entwickelt. Dieser extrem flache Träger sorgt dafür, dass der Boden im Festsaal nicht allzu stark schwingt und gleichzeitig die Höhen in den Räumen erhalten bleiben.

Das stattliche Roothuus hat seine Gestalt zurückerhalten. Sein schöner Name war daran sicher auch ein wenig beteiligt.

Obacht Kultur, Nr. 20, Heft 3/2014

Sperriges im Zeughaus Teufen

Der in Speicher geborene Jürg Altherr arbeitet am liebsten im öffentlichen Raum, kein Wunder, denn der Künstler ist zugleich Landschaftsarchitekt. Die raumdefinierende Qualität seiner Arbeiten zeigt die aktuelle Ausstellung im Zeughaus Teufen.

Der Monolith macht den Unterschied. Er bildet den grössten vorstellbaren Kontrast zu allem, was ihn umgibt. Dunkel ist er und makellos. Er bringt Erkenntnis, er ist fremd, er provoziert. Sowohl im prähistorischen Afrika in Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“ als auch auf dem Dorfplatz Aardorf. Hier wurde vor 15 Jahren eine Stahlskulptur Jürg Altherrs platziert und ein halbes Jahr später wieder entfernt. Die Bevölkerung hatte sich dagegen entschieden, überfordert von der Kraft des künstlerischen Werkes, von seiner Strenge, seiner formalen Präsenz.

Nun hat die Arbeit nach einigen Zwischenstationen nicht nur einen Namen, sondern einen neuen, wenn auch temporären Platz und obendrein eine andere Position. Aufrecht steht der „Schlitz“ vor dem Zeughaus Teufen. Er definiert den Raum, er ist das Mass, er ist ein Zeichen. Und er bringt im Rahmen der Ausstellung „Überlagerte Schwingungen“ die Qualität jener Arbeiten nach Teufen, die der aus Speicher stammende Künstler im öffentlichen Raum realisiert hat. So wie beispielsweise „Heckenkörper ohne Haut“ bei der Empa in St.Gallen. Es sind Werke, die durchaus sperrig sind, dies aber auf eine Weise, die Kunst im öffentlichen Raum braucht. Sie stellen sich in den Weg, sie nötigen, sie stets aufs Neue wahrzunehmen und städtische Strukturen, Stadtplanung und die Kunst selbst zu reflektieren. Das funktioniert bei Altherr im Grossen genauso gut wie im Kleinen. Die Ausstellung zeigt zahlreiche Arbeiten in handlichen Formaten. Dabei bleibt offen, ob es sich um Entwürfe für Plastiken im Aussenraum handelt, um Modelle also, oder um freie Ideenskizzen oder schliesslich um eigenständige Werke. Auf diese Weise gelingt einerseits mühelos der Anschluss an die Modelle Grubenmanns im Dachgeschoss des Hauses, wie auch der Blick auf die Qualitäten des Massstabes. Altherr hat eigens für die Ausstellung zwei grosse Werke aus Wellpappe angefertigt. Obgleich rot angestrichen, ist die Wellenstruktur noch immer sichtbar. Je nach Blickwinkel erlaubt sie die Durchsicht oder verdichtet sich. Diesen Strukturen verbinden die Arbeiten Jürg Altherrs mit denjenigen seiner Frau. Thea Altherr fotografiert. Sie begibt sich mit der Kamera in die vom Menschen gestaltete Natur, nimmt aber die Eingriffe nicht als Fremdkörper, sondern um ihrer selbst willen wahr. So entfalten selbst Lawinenschutzbauten eine eigene Schönheit.

Bis April 2015

Saitenblog

Der restaurierte Stadtvater

Vadian wurde liegend abtransportiert – er war ein Fall für die Restauratoren. Von Anfang an war der bronzene Stadtvater zu schwer gewesen für seine dünnwandigen Beine. Frühere Stabilisierungsversuche hatten zu Rissen im Material geführt. Die Originalsubstanz war gefährdet. Also musste der Reformator vom Sockel und wurde in einem massgeschneiderten Verfahren so restauriert und stabilisiert, dass er stehend zurück auf seinen Platz transportiert werden konnte. Vadian präsentiert sich 100 Jahre nach seiner Errichtung in seiner gewohnten Patina und vollständigen Originalsubstanz. Zusätzlich hat er im Inneren ein neues Knochengerüst erhalten, denn «Vadian ist das Ganze, nicht nur die äussere Hülle».

Vadian lebte von 1484 bis 1551 in St.Gallen. Der Gelehrte führte in St.Gallen die Reformation ein. Er war Mediziner, Humanist und Bürgermeister. Die Bronzestatue ihm zu Ehren wurde im Jahr 1904 vom Bildhauer Richard Kissling geschaffen und in der Pariser Giesserei Fonderie Val d’Osne gegossen. Allerdings nicht sorgfältig genug: Der Körper der Plastik war von Anfang an zu schwer für die dünnwandigen Beine. Schon 1944 hatte die Statue erste Risse. Die Glockengiesserei Aarau wurde damals mit der Reparatur beauftragt: Bis auf die Höhe des Rockes wurde Zement in die Statue gefüllt. Mit dieser «pragmatischsten, einfachsten und billigen Lösung», so Felix Lehner, Leiter der Kunstgiesserei St.Gallen, sorgte man damals für schnelle Festigkeit. Aber die Zementfüllung brachte neue Probleme mit sich: Kondenswasser konnte nicht austreten. Im Winter gefror es und sprengte die dünne Bronzehaut. Staub sammelte sich in den Rissen, nahm mehr Wasser auf, beim nächsten Frost wurden die Risse grösser – ein Zerfall, der sich in den letzten Jahren sichtbar weiterentwickelte, so dass immer mehr originale Substanz unwiederbringlich verloren zu gehen drohte. Vadian benötigte dringend eine Kur. Zuvor wurde der Patient durchleuchtet. Dafür musste er nicht einmal aufgebohrt werden. Unterhalb seines Rockes gibt es ein zwei Handteller grosses Loch – ideal für eine Endoskopie.

Die Endoskopie zeigte, dass die Figur aus neun einzelnen verschraubten Teilen besteht und im Sandguss gegossen wurde. Also musste es eine Eintrittsöffnung geben. Aber wo sollte diese Tür gesucht werden? Auf dem Hut des Reformators entdeckten die Restauratoren eine fast unsichtbare Linie: eine mit Blei verhämmerte Naht, gewissermassen das finale Puzzlestück der Figur. Für einen Einstieg war diese Öffnung zwar zu schmal, aber sie ermöglichte einen Zugriff auf die Schraubverbindungen am Hals des Reformators: Hier war das Einstiegsloch.

Der Stadtvater wurde kopflos: Ein Jahr vor der Demontage der gesamten Figur wurde das Haupt entfernt und Vadians Innenleben detaillierter untersucht. Ausserdem musste herausgefunden werden, wie er auf seinem Sockel befestigt war. Auf der Plinthe wurde schliesslich eine zweite bleiverstemmte Öffnung gefunden. Hier führte ein einziger grosser Bronzebolzen in den Granitsockel. Er allein hielt die tonnenschwere Statue auf dem Stein.

Vadians Plinthe war nicht mehr intakt. 1944 war sie bereits aufgebogen worden. Diesen Schaden nutzten die Restauratoren jetzt: Hier konnten sie Figur und Sockel mit einer Diamantseilsäge voneinander trennen, ohne Bronze oder Stein zu verletzten. Vadian konnte seinen Sockel verlassen, aber reisefähig war er nicht ohne weiteres. Er erhielt ein passgenaues Transportbett auf der Basis während einer Nacht erstellter digitaler Daten. Sie dienten ausserdem dazu, ihm eine Lagerungstrommel zu bauen. Darin konnte er in der Werkstatt der Kunstgiesserei wie in einer Waschmaschine liegend um die eigene Achse gedreht und ohne Folgeschäden behandelt werden. Höhlenerfahrung war dabei von Vorteil: Ein Mitarbeiter der Kunstgiesserei stieg durch die Halsöffnung in Vadian ein und bohrte über mehrere Wochen vorsichtig mit verschiedenen Werkzeugen den 1944 eingefüllten Beton heraus. Vadian wurde leichter und luftiger: Die verstopften Drainagelöcher wurden geöffnet. So kann die Luft wieder zirkulieren, denn immerhin gibt es im Vadian jahreszeitliche Temperaturunterschiede von bis zu 55° Celsius. Was es jedoch kaum noch gibt: sauren Regen. Die Luftqualität ist heutzutage bedeutend besser als noch vor 50 Jahren. Darum durfte Vadian seine markante grüne Patina behalten und wurde nur leicht gewachst.

Alle Eingriffe wurden so geplant, dass sie rückgängig gemacht werden können, sollten sich die technischen Möglichkeiten oder Ansprüche ändern. Stabilisiert werden konnte Vadian auch Angriffe auf seine Substanz. Stattdessen wurden seine alten Knochen sogar verstärkt: Ein Chromstahlgerüst umschliesst die Originalarmierung von 1904 und hebt die Plastik von der Hüfte an um ungefähr 1cm vom Sockel. Vadian steht damit nicht mehr auf den eigenen Beinen. Zudem ist er jetzt demontierbar, denn Plinthe und Sockel wurden durch die 1944 gebohrten Löcher miteinander verschraubt. Auf den neuen Schrauben sitzen die alten Schraubenköpfe von 1944.

Auf seinem Rückweg an den prominenten Standort auf dem Marktplatz brauchte der grosse Mann keine Gurte mehr. Auch seinen Kopf durfte Vadian selbstverständlich aufbehalten. Im Schritttempo ging es per LKW zurück in die Stadt. Jetzt steht der Stadtvater selbst im Orkan sicher.

Baudokumentation der Stadt St.Gallen

Die Wucht des Belanglosen

Peter Piller im Fotomuseum Winterthur

Was tun? Wie der Flut der Bilder begegnen? Künstler haben verschiedene Strategien entwickelt um mit der Übermacht der Fotografien umzugehen. Gerhard Richter beispielsweise sammelt seit 1962 für seinen «Atlas» Zeitungsausschnitte, Fotografien und anderes Material, das für ihn potentiell als Malvorlage in Betracht kommt. Überträgt der Künstler dann eine ausgewählte Fotografie in ein Gemälde, erlangt sie einen völlig neuen Status, wird einzigartig, dauerhaft und wertvoll. Oder Beni Bischof: Er stürzt sich auf die Bilderflut, attakiert sie mit Fingern, Scheren, Stiften, verwurstet und verwundet sie. Der Hamburger Peter Piller sichtet, ordnet, kategorisiert. Er nimmt das Material ernst; ernster sogar als es gemeint gewesen war. Das vom Lokalberichterstatter geknipste Bild einer Jubilarin, eines Rätselgewinners mit Geldschein oder einer leeren Gastwirtschaft war aktuell für einen Tag, in einem Ort. Es illustrierte einen einzigen, kurzlebigen Bericht. Piller isoliert das belanglose Einzelbild und stellt ihm gleichartige Aufnahmen an die Seite, er multipliziert das Banale, auf dass sich das Besondere zeige.

Piller ist Fotograf. Auf der Suche nach seinem spezifischen Bild kam er zum vorgefundenen Bild: Er wollte eine ausgewogen leere Situation fotografieren. Da stiess er in Lokalzeitungen auf Aufnahmen von sogenannten Bauerwartungsflächen; also von Brachen, Wiesen und Randzonen, die demnächst bebaut werden sollten. Zonen des Übergangs, nicht leer, aber auch nicht besetzt, noch nicht. Sie strahlen Stille aus und zugleich die eigentümliche Spannung des Kommenden. Dass Piller anhand dieser Aufnahmen einen Typus herausarbeiten konnte, lag an der Menge der verfügbaren Fotografien und diese wiederum an seinem Studentenjob. Während seines Kunststudiums arbeitete er in einer Hamburger Medienagentur. Dort prüfte er im Auftrag regionaler Werbekunden und Firmen, wo und in welcher Form die von ihnen geschalteten Anzeigen erschienen waren. Er hatte deutschlandweit Regionalzeitungen zu durchforsten. Bei der täglichen Presseschau begann Piller neben seinem eigentlichen Auftrag fotografische Verwandtschaften zu entdecken: Feuerwehrleute, deren Schutzanzüge beim Fotografiertwerden reflektierten, Lokalpolitiker vor geöffneten Dolendeckeln oder beim Durchschneiden von Einweihungsbändern, Autos berührende Menschen oder eben leere Stellen.

Wenn Andere sagen, da sei nichts Interessantes drauf, beginnt Pillers Arbeit. Wiederholt und konzentriert betrachtet er die Gebrauchsfotografien und filtert ihre verborgenen Qualitäten heraus. Selbst dort, wo kein Gegenstand gemeint ist, oder an den Rändern der Motive legt er Konzepte offen, die ursprünglich nicht beabsichtigt worden waren.

Aber ist sind diese Ordnungssysteme geeignet, das grosse Ganze zu bewältigen? Zielen sie überhaupt darauf ab? Peter Pillers Werk eignet eine grundsätzliche Skepsis. Seine Klassifizierungen sind willkürlich und Ausdruck seines individuellen Blicks. Jederzeit bleibt bewusst, dass sich unzählige andere Kategorien finden liessen: «Mir geht es nicht um die Wahrheit. Mein Archiv ist nicht objektiv».

Inzwischen werden Piller Archive angeboten. Etwa dasjenige einer Schweizerischen Versicherungsgesellschaft. Entstanden ist daraus die Gruppe «nimmt schaden.» Wo der Schaden ist, spielt auch hier weniger eine Rolle als das, was sonst noch ins Bild gerät – unbeabsichtigt oder unbeachtet. Diese Serie ist ebenso im Fotomuseum Winterthur zu sehen wie die Archivauswahl aus dem Nachlass einer Luftbildfirma. Damals wurden Siedlungen überflogen, um mit einer Mittelformatkamera aufgenommene Eigenheimbilder anschliessend den stolzen Hausbesitzern verkaufen zu können. Jene Fotos waren beschnitten, bei Piller hingegen ist die ganze architektonische Langeweile zu sehen, die nassen Flecken unter frisch gewaschenen Autos oder die adretten Plättlipfade durchs kurzgeschorene Grün. Gerade die Langeweile führt Piller zum Entdecken: «Dann bin ich nicht mehr anfällig für Vordergründiges.» Bis dieser Zustand eintritt, ist viel Energie nötig, auch Langeweile muss man sich erarbeiten. Immerhin umfasst der Nachlass dem 20´000 Bilder. Das Fotomuseum zeigt den bisher grössten Ausschnitt der daraus entstandenen Gruppen. Es ist die erste Überblicksausstellung von Pillers Arbeit überhaupt. So sind neben den Archiven auch die Stadtumwanderungen oder die Fotografien aus dem fahrenden Auto zu sehen, zudem Postkarten und Kleinpublikationen.

Es dämmert – Michèle Mettler im Architekturforum

Wann ist eine Fotografie eine Fotografie? Wie wird sie zum Bild? Wie kann sie wieder verschwinden? In Zeiten der unendlichen digitalen Bilderflut beschäftigt sich Michèle Mettler mit grundsätzlichen Fragen zum Medium Fotografie. Die St.Galler Künstlerin erforscht die zum Bild führenden Prozesse. Mettler experimentiert unter anderem mit Fotoemulsion auf Glas und mit Fotografien auf textilem Gewebe. Analog aufgenommene Motive verändert sie manuell; sie übermalt, belichtet erneut oder entfernt Material mit mechanischen Methoden. All diese Vorgänge vereint ihr Potential, in zweierlei Hinsicht wirken zu können: Ebenso wie sie zu einem Bild führen können, tragen sie zu dessen Auflösung bei. Die Bilder entstehen und vergehen, sie kommen näher und entfernen sich wieder. Jedes Motiv enthält bei Michèle Mettler auch sein Gegenteil, es hat das Potential unsichtbar zu werden. Damit ist das Werk der St.Galler Künstlerin von besonderer Aktualität. Statt nur etwas zum ständig wachsenden und permanent verfügbaren Bilderreservoir hinzuzufügen, arbeitet Mettler gleichzeitig am Verschwinden der Bilder. Im Architekturforum zeigt sie aktuelle Arbeiten und künstlerische Recherchen der vergangenen 20 Jahre. Ihre prozesshaften Werke stellt sie grossformatigen schwarzweissen Fotografien gegenüber.

Michèle Mettler erhielt 2011 den Förderpreis der Stadt St.Gallen. Die Künstlerin (*1971) lebt und arbeitet nach Jahren des Unterwegsseins in Frankreich, Kanada und China seit 2003 wieder in ihrer Heimatstadt St.Gallen. Zuvor bildete sie sich während eines zweijährigen Aufenthalts in Peking in Tuschmalerei und Film weiter. Fotografisch aufgenommene Motive aus jener Zeit sind in ihrem Werk bis heute präsent und zu sehen auch in ihrem Langzeitprojekt „Akupunkturtafeln“.

Pressetext zur Städtischen Ausstellung im Architekturforum

St.Galler Kulturpreis für Bernard Tagwerker

Bernard Tagwerker erhält den Kulturpreis 2014 der Stadt St.Gallen. Der St. Galler gehört international zu den ersten Künstlern, die den Computer als generative Maschine verwenden. Begonnen hat er damit während seiner Zeit in New York von 1976 bis 1985. Er bezog elektronische Rechner in den kreativen Prozess ein und ging in seiner Absage an tradierte Autorschaft immer weiter. Inzwischen werden die Werkserien ohne ästhetischen Entscheid ausschliesslich via Computer umgesetzt. Seit Tagwerker in den späten 1980er Jahren erstmals einen Flachbettplotter verwendete, führt er keine manuellen Arbeiten mehr aus. In seinen aktuellen Arbeiten übersetzt er Texte in dezimale, binäre und andere Zahlensysteme oder konstruiert reversible Lernprozesse. Sein wissenschaftliches Interesse schliesst von Beginn an die Faszination für Spiel und Zufall ein. Tagwerker legt die Gesetzmässigkeiten des Zufalles offen: Auch scheinbar chaotische Gestaltung kann in autonomen Ordnungsstrukturen münden. Tagwerkers Werk ist seit Jahrzehnten unverändert radikal und aktuell.

Die Auszeichnung der Stadt St.Gallen ist mit 30‘000 Franken dotiert und wird alle vier Jahre vergeben. Ausgezeichnet werden Kulturschaffende, deren Wurzeln in St.Gallen liegen, die aber mit ihrem Wirken über die regionalen Grenzen hinaus ausstrahlen. Den Preis erhielten unter anderem Roman Signer, Silvie Defraoui und Peter Liechti.

Vaduz: Gary Kuehn

«Butter in der Sonne. Was könnte fataler sein» So notierte es Gary Kuehn 1966 in seinem Skizzenbuch. Der Kubus beginnt zu schmelzen, er verliert seine Gestalt, seine Strenge, der Körper verwandelt sich in Masse. Gary Kuehn lässt nicht nur die Butter schmelzen, bei ihm schmilzt die ganze Minimal Art, einschliesslich ihres autoritären, heroischen Ausdrucks: Die Geometrie wird menschlich und die ursprünglich klar gesetzte Geste sich selbst überlassen; Kuehn initiiert Prozesse und setzt auf Kontrollverlust. Bereits in den 1960er Jahren stellte er sich mit seinen Arbeiten gegen rigide Formensysteme. Die Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein legt einen Schwerpunkt auf diese frühen Werke. So wird in einem Raum des Hauses Kuehns 1971er Ausstellung in der Neuen Galerie Aachen rekonstruiert. Im Vaduzer White Cube ergeben die Plastiken freilich ein anderes Bild als im barocken Ballsaal, aber nichtsdestotrotz zeigt «Between Sex and Geometry» wie Kuehn die Kunst seiner Zeit reflektiert hat und bis heute mit Form und Material experimentiert. Er stellt beide gegeneinander und inszeniert auch sonst manchen Gegensatz. Ins assoziationsreiche Spiel bringt die Ausstellung ausserdem die Zeichnungen und Gemälde und zeigt ein umfassendes Bild des Post-Minimal-Künstlers.

Bis 25. Januar

St.Gallen: Katalin Deér

Neapel hat eine grosse Vergangenheit. Die Stadt war im 17. Jahrhundert die drittgrösste Europas und wichtiges Ziel von Bildungsreisenden. Und heute? Wie sieht es in der Stadt jenseits der Negativschlagzeilen aus? Wie präsent ist die Vergangenheit? Wo beginnt die Zukunft? Die St.Galler Künstlerin Katalin Deér kennt und fotografiert Neapel, seine Architektur und ihre Zwischenräume, den Beton und Barock und das Leben in der Mitte von beidem. Sie fotografiert aus der Distanz, manchmal beiläufig, scheinbar zufällig, aber immer mit sachlichem Blick und besonderem Gespür für die Qualität des öffentlichen Raumes. Dieses zeigt auch die Installation ihrer Neapelaufnahmen auf dem St.Galler Klosterplatz. Im dortigen Kulturrraum dokumentiert das Stiftsarchiv die Italienreisen der Benediktinermönche. Deren Tagebücher sind unter dem Motto «Vedi Napoli e poi muori» zum ersten Mal ausgestellt. Auf dem Platz vor dem Gebäude schlägt Katalin Deér mit «Napoli e poi» den Bogen in die Gegenwart, nicht nur für Neapel, sondern gleich für den ganzen St.Galler Stiftsbezirk. Sie präsentiert ihre Fotografien auf einbeinigen Plakattafeln. Damit legt sie über die grosszügige Weite des Platzes eine zweite Ebene. Mit der durchdachten Platzierung der Tafeln ergeben sich vielsagende Konstellationen zwischen neapolitanischen Topoi, der imposanten Klosterkulisse und dem Leben davor.

Bis 30. November 2014

www.vedinapoli.ch

Zukunft Kultur

Kultur in der Zukunft? Ein grosses Thema, aber eines für eine Kommunikations- und Projektagentur? Agenturen vermitteln und kommunizieren – schaffen sie auch kulturelle Werte? Was überhaupt ist die Kulturproduktion, über die an dieser Stelle nachgedacht werden soll? Und warum braucht sie Vermittlung? Philipp Lämmlin und Marcus Gossolt, Gründer der Agentur Alltag, stellen grundlegende Fragen. Erst wenn diese beantwortet sind, kann der Blick in die Zukunft gerichtet werden.

Der Kulturbegriff lässt sich weit fassen. Entscheidendes Kriterium für einen zeitgenössischen Kulturbegriff ist für Marcus Gossolt die grundsätzliche Autonomie der Kultur gegenüber äusseren Zwängen: «Die Kultur sollte die geistige Freiheit aufrechterhalten, sie sollte Kommunikation und Formen ästhetischer Erfahrung herstellen und ermöglichen; also Erkenntnisgewinn und damit Identitätsfindung durch Fragen und Debatten.» Diese Autonomie führt im Gegenzug dazu, dass die Kulturproduktion auf sich gestellt ist. Sie schafft Werte, sie arbeitet sich an der Welt ab, reflektiert und analysiert. Sie ist ein grundlegendes Element für die Entwicklung der Gesellschaft. Um also relevante Aussagen treffen, Behauptungen aufstellen oder Denkprozesse anregen zu können, sollte sie unabhängig agieren können. Trotzdem und gerade deswegen muss sie wahrgenommen werden.

Zugleich braucht die Kulturproduktion eine finanzielle Basis. Gerade hier ist die Autonomie der Kultur gefährdet, denn wenn sie gezwungen ist, sich zu verkaufen, zu korrumpieren, gerät ihre Freiheit unter Druck. An dieser Stelle sind Vermittler besonders gefordert: Sie haben es in der Hand kulturelle Werte angemessen zu platzieren, ihnen den erforderlichen Resonanzraum zu verschaffen und – mit grossem Fingerspitzengefühl – auch Geldquellen zu erschliessen, so dass im Idealfall alle profitieren: Finanzpartner und Kulturproduzierende und nicht zuletzt die Öffentlichkeit. Die Agentur ist in diesem Dreieck die Schnittstelle. Voraussetzung ist, dass sie aus einem grundlegenden Verständnis für die Kultur heraus handelt. Nur so kann die Autonomie der Kultur gewahrt werden, nur so können die richtigen Partner gefunden und die unverfälschten Inhalte für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Beispielsweise bei Abstimmungsvorlagen: «Gerade bei Abstimmungen kann es nicht darum gehen, wer die lustigste Idee für ein Plakat hat, sondern es kommt darauf an, Bedeutung zu vermitteln, sie zu den Menschen, in die Quartiere der Stadt zu bringen.» so Philipp Lämmlin. Bei der Abstimmungskampagne für die Lokremise St.Gallen war es entscheidend, dass die St.Gallerinnen und St.Galler die Lokremise bereits als guten Kulturort erlebt hatten. Nach dem Weggang der Sammlung Hauser und Wirth hatte Alltag in dem ehemaligen Lokomotivdepot faktisch das Provisorium betrieben und kommunikativ begleitet. Im besonderen Ambiente des Hauses wurden Theater- und Tanzstücke aufgeführt, es gab Kunst, Musik und Openairkino. Bei Alltag liefen die Fäden zusammen, ein Vorteil nicht nur für ein positives Abstimmungsresultat, sondern auch für den laufenden Betrieb: «Uns liegen besonders Pionierprojekte am Herzen, die nicht im Standardmodus betrieben werden können.» so Philipp Lämmlin. «Angefangen von der Suche nach Kooperationspartnern über die Budget- und Detailplanung bis hin zu Namensgebung, Gestaltung und Publikation kommt bei uns alles aus einer Hand.» Ein grosses Projekt also, aber was ist mit den kleinen? Sie gibt es nicht nur auch, sondern vor allem. Die moderne urbane Gesellschaft ist geprägt von Individualisierung und Pluralisierung, das ist auch im Kulturleben zu spüren. Es wird immer vielgestaltiger, es ist geprägt von Experimenten und Einzelinitiativen, es gibt wechselnde Gruppierungen und Zusammenschlüsse von jungen Kulturschaffenden, genauso wie Alteingesessene neue Kulturformen erproben. Diese Vielfalt bedeutet einerseits, dass die Rezipientinnen und Rezipienten gezielter auf die Suche nach den an sie gerichteten Kulturangeboten gehen müssen, andererseits ist es für die Kulturschaffenden immer wichtiger, Hilfe bei der Suche der geeigneten Vermittlungskanäle zu erhalten, denn Kulturarbeit zeichnet sich grundsätzlich durch einen dialogischen Charakter aus. Nur in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber entfalten sich Leben und Wirkung. So wie sich aber die Kulturproduktion in der postindustriellen Zeit verändert, so verändern sich auch die Vermittlungskanäle: «Wahrnehmung ist nicht mehr nur mit grossem Budget oder dominanter physischer Präsenz möglich. Dank der neuen Kommunikationskanäle können wir viel punktgenauer agieren. Allerdings wird auch das Zielpublikum kleiner, weil alle Angebote spezialisierter sind.» Daher braucht es laut Marcus Gossolt, neue Vermittlungsmomente: «Das Vorhandensein der Multimediakanäle allein genügt noch nicht, sie bieten nur das Format.» Philipp Lämmlin betont, dass es gerade in der Kultur auf solche neuen Momente ankommt, denn «Kultur ist nie ein Low Involvement.» Ideal sei es daher, die Kanäle bi-direktional zu nutzen: «Bisher waren wir es gewohnt, Botschaften bereitzustellen, aber nun ist es möglich, Antwort zu geben,» wie Marcus Gossolt betont, «und sich in die Lebenswelt der Menschen einzuschreiben.» Zudem sind die neuen Kanäle weder das einzig verfügbare, noch das einzig nützliche Medium. Die Auswahl des richtigen Vermittlungskanals erfordert eine gute Kenntnis sowohl der Zielgruppe, als auch jener, die Kultur verbreiten wollen: «Medium und Kanal müssen von denen gelebt werden können, die sie betreiben. Unsere grösste Lust ist es, zu orchestrieren.» Und eben nicht, selbst Kulturinhalte zu schaffen. Daher verändert die Agentur die Inhalte nicht, sondern arbeitet an der Form. Philipp Lämmlin dazu: «Wir suchen oder erfinden die geeigneten Instrumente, die idealen Rahmenbedingungen, um Ideen laufen zu lassen. Wir sind die Inhaltsverstärker, nicht die Köche.» Das gilt für Projekte ebenso wie für Produkte, so Marcus Gossolt: «Am liebsten haben wir es, wenn eine Idee noch nicht vollständig fertig gedacht ist, sondern die Menschen mit einer Absicht zu uns kommen. Dann können wir mitdenken, wie sich bereits in diesem Stadium die besten Mehrwerte schaffen lassen.“ Auch Philipp Lämmlin sieht das so und betont den Kostenfaktor: «Je früher wir einbezogen werden, desto kosteneffizienter ist dies. Denn es ist viel teurer, ein fertiges Produkt zu promoten, als eines, für das von vornherein bei der Entwicklung auch die Wirkung mitgedacht ist.»

Bei der möglichst frühen Mitarbeit geht es Alltag nicht darum, einen eigenen Fingerabdruck zu hinterlassen, sondern Dinge besser erzählen zu können: «Wir sind die Dramaturgen und schärfen die Geschichte. Das Copyright behalten Autor, Regisseur und Schauspieler.» Marcus Gossolt vergleicht die Rolle der Agentur mit jener des Kurators: «Ein Kurator nimmt unsichtbar Einfluss, wenn er Kunst ausstellt, aber beansprucht niemals die Autorschaft für ein Kunstwerk, sondern nur für die Ausstellung.» Ein Kurator ist also beides, Kulturvermittler und Kulturschaffender; hier liegt der grundlegende Unterschied zu Alltag, so Lämmlin und Gossolt: «Wir sind nicht Initianten, sondern erster Betrachter.» Indem die Agenturmitarbeiter den ersten öffentlichen Blick einnehmen, und ihn sich vorab schon bei der Entwicklung der Vermittlungsideen vorzustellen versuchen, können sie Lösungen entwickeln, die funktionieren und die Kultur dort wirken lassen, wo sie ankommen soll. Das geht soweit, dass die Agentur den Anstoss dazu gab, Kuratorennachwuchs zu fördern: Sie entwickelte für die Gebert Stiftung für Kultur in Rapperswil-Jona das Konzept der «Förderung der Förderung»; mit einem Stipendium werden seit 2007 junge Kunstvermittlerinnen und -vermittler unterstützt und ein wachsendes Netzwerk aufgebaut. Die Kuratorenförderung ist in dieser Form einzigartig in der Schweiz und ermöglicht der Stiftung das Besetzen einer eigenständigen Fördernische. Solche Nischen gibt es immer noch und sie werden immer wichtiger, denn wenn sie präzise erkannt und genutzt werden, lässt sich auch das Ergebnis umso präziser vermitteln oder wie es Marcus Gossolt formuliert: «Es gibt für alles eine Zielgruppe, man muss sie nur finden.» Philipp Lämmlin zieht den Vergleich zum sogenannten «Long Tail»: «So wie Internetanbieter mit spezialisierten Produkten auf der virtuellen Ebene auf grosse Nachfrage treffen, die sich lokal kaum erreichen liesse, so werden künftige Harald Szeemanns und ihre Vermittlungsinstrumente auch für die Kulturschaffenden zur grossen Chance. Die Grenzen der Netzwerke werden ausgeweitet, die Multiplikatoren wandeln sich.» Wie künftige Kommunikationskanäle aussehen, ist kaum vorherzusehen, sicher ist aber, dass auch dank ihnen neue Felder nicht nur besetzt, sondern die Früchte vermittelt werden können – das wiederum ist ein spannendes Feld für die neue Generation der Vermittlerinnen und Vermittler.

Text für Swissfuture. Magazin für Zukunftsmonitoring, Nr 03/14