Der restaurierte Stadtvater
by Kristin Schmidt
Vadian wurde liegend abtransportiert – er war ein Fall für die Restauratoren. Von Anfang an war der bronzene Stadtvater zu schwer gewesen für seine dünnwandigen Beine. Frühere Stabilisierungsversuche hatten zu Rissen im Material geführt. Die Originalsubstanz war gefährdet. Also musste der Reformator vom Sockel und wurde in einem massgeschneiderten Verfahren so restauriert und stabilisiert, dass er stehend zurück auf seinen Platz transportiert werden konnte. Vadian präsentiert sich 100 Jahre nach seiner Errichtung in seiner gewohnten Patina und vollständigen Originalsubstanz. Zusätzlich hat er im Inneren ein neues Knochengerüst erhalten, denn «Vadian ist das Ganze, nicht nur die äussere Hülle».
Vadian lebte von 1484 bis 1551 in St.Gallen. Der Gelehrte führte in St.Gallen die Reformation ein. Er war Mediziner, Humanist und Bürgermeister. Die Bronzestatue ihm zu Ehren wurde im Jahr 1904 vom Bildhauer Richard Kissling geschaffen und in der Pariser Giesserei Fonderie Val d’Osne gegossen. Allerdings nicht sorgfältig genug: Der Körper der Plastik war von Anfang an zu schwer für die dünnwandigen Beine. Schon 1944 hatte die Statue erste Risse. Die Glockengiesserei Aarau wurde damals mit der Reparatur beauftragt: Bis auf die Höhe des Rockes wurde Zement in die Statue gefüllt. Mit dieser «pragmatischsten, einfachsten und billigen Lösung», so Felix Lehner, Leiter der Kunstgiesserei St.Gallen, sorgte man damals für schnelle Festigkeit. Aber die Zementfüllung brachte neue Probleme mit sich: Kondenswasser konnte nicht austreten. Im Winter gefror es und sprengte die dünne Bronzehaut. Staub sammelte sich in den Rissen, nahm mehr Wasser auf, beim nächsten Frost wurden die Risse grösser – ein Zerfall, der sich in den letzten Jahren sichtbar weiterentwickelte, so dass immer mehr originale Substanz unwiederbringlich verloren zu gehen drohte. Vadian benötigte dringend eine Kur. Zuvor wurde der Patient durchleuchtet. Dafür musste er nicht einmal aufgebohrt werden. Unterhalb seines Rockes gibt es ein zwei Handteller grosses Loch – ideal für eine Endoskopie.
Die Endoskopie zeigte, dass die Figur aus neun einzelnen verschraubten Teilen besteht und im Sandguss gegossen wurde. Also musste es eine Eintrittsöffnung geben. Aber wo sollte diese Tür gesucht werden? Auf dem Hut des Reformators entdeckten die Restauratoren eine fast unsichtbare Linie: eine mit Blei verhämmerte Naht, gewissermassen das finale Puzzlestück der Figur. Für einen Einstieg war diese Öffnung zwar zu schmal, aber sie ermöglichte einen Zugriff auf die Schraubverbindungen am Hals des Reformators: Hier war das Einstiegsloch.
Der Stadtvater wurde kopflos: Ein Jahr vor der Demontage der gesamten Figur wurde das Haupt entfernt und Vadians Innenleben detaillierter untersucht. Ausserdem musste herausgefunden werden, wie er auf seinem Sockel befestigt war. Auf der Plinthe wurde schliesslich eine zweite bleiverstemmte Öffnung gefunden. Hier führte ein einziger grosser Bronzebolzen in den Granitsockel. Er allein hielt die tonnenschwere Statue auf dem Stein.
Vadians Plinthe war nicht mehr intakt. 1944 war sie bereits aufgebogen worden. Diesen Schaden nutzten die Restauratoren jetzt: Hier konnten sie Figur und Sockel mit einer Diamantseilsäge voneinander trennen, ohne Bronze oder Stein zu verletzten. Vadian konnte seinen Sockel verlassen, aber reisefähig war er nicht ohne weiteres. Er erhielt ein passgenaues Transportbett auf der Basis während einer Nacht erstellter digitaler Daten. Sie dienten ausserdem dazu, ihm eine Lagerungstrommel zu bauen. Darin konnte er in der Werkstatt der Kunstgiesserei wie in einer Waschmaschine liegend um die eigene Achse gedreht und ohne Folgeschäden behandelt werden. Höhlenerfahrung war dabei von Vorteil: Ein Mitarbeiter der Kunstgiesserei stieg durch die Halsöffnung in Vadian ein und bohrte über mehrere Wochen vorsichtig mit verschiedenen Werkzeugen den 1944 eingefüllten Beton heraus. Vadian wurde leichter und luftiger: Die verstopften Drainagelöcher wurden geöffnet. So kann die Luft wieder zirkulieren, denn immerhin gibt es im Vadian jahreszeitliche Temperaturunterschiede von bis zu 55° Celsius. Was es jedoch kaum noch gibt: sauren Regen. Die Luftqualität ist heutzutage bedeutend besser als noch vor 50 Jahren. Darum durfte Vadian seine markante grüne Patina behalten und wurde nur leicht gewachst.
Alle Eingriffe wurden so geplant, dass sie rückgängig gemacht werden können, sollten sich die technischen Möglichkeiten oder Ansprüche ändern. Stabilisiert werden konnte Vadian auch Angriffe auf seine Substanz. Stattdessen wurden seine alten Knochen sogar verstärkt: Ein Chromstahlgerüst umschliesst die Originalarmierung von 1904 und hebt die Plastik von der Hüfte an um ungefähr 1cm vom Sockel. Vadian steht damit nicht mehr auf den eigenen Beinen. Zudem ist er jetzt demontierbar, denn Plinthe und Sockel wurden durch die 1944 gebohrten Löcher miteinander verschraubt. Auf den neuen Schrauben sitzen die alten Schraubenköpfe von 1944.
Auf seinem Rückweg an den prominenten Standort auf dem Marktplatz brauchte der grosse Mann keine Gurte mehr. Auch seinen Kopf durfte Vadian selbstverständlich aufbehalten. Im Schritttempo ging es per LKW zurück in die Stadt. Jetzt steht der Stadtvater selbst im Orkan sicher.
Baudokumentation der Stadt St.Gallen