Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Vaduz: Hilti Art Foundation

Ein neues Museum, ein eigenes Museum und doch ein Museum mit konsequentem Bezug auf Bestehendes: Die Hilti Art Foundation ist in ein eigenes Haus gezogen. Entworfen wurde es vom Basler Architekturbüro Morger + Dettli in unmittelbarer Nachbarschaft des Kunstmuseum Liechtenstein und als weisse Antwort auf den schwarzen Würfel. Die räumliche Nähe beider Häuser forderte Kompromisse, denn das Grundstück neben dem markanten Monolith im Zentrum von Vaduz war nur zu haben, wenn das dort existierende Uhren- und Schmuckgeschäft bleiben durfte. Dieses wurde mit dem Museumsneubau verzahnt. Beide Gebäudeteile sind jedoch vollständig autonom in ihrer Erschliessung und Technik. Mit lichtdurchfluteten, langen Treppen überspannt das Museum die zwei rückwärtigen Ladengeschosse. Sanfte Aufstiege in musealem Tempo wie im Kunstmuseum Liechtenstein sind hier nicht möglich, und die Pläne, dereinst im Treppenhaus Kunst zu zeigen, muten denn auch gewagt an, benötigen die steilen Stufen doch die volle Konzentration.

Die Eröffnungsausstellung zeigt Bekanntes und Neues. Einige der Werke waren bereits im Kunstmuseum Liechtenstein zu sehen. Künftig soll dies weiterhin möglich sein. Das Bekenntnis, kuratorisch zusammenzuarbeiten, fällt ebenso positiv auf wie der gemeinsame Museumseingang am gewohnten Ort.

St.Gallen: Florian Graf – Kammermusik im Lagerhaus

Fabrikhallen, Remisen, Lagerhäuser sind längst als Kulturorte etabliert. Sie sind gross, vergleichsweise günstig und vor allem bieten sie als architektonische Zeugnisse einer produktiven Zeit gute Reibungsflächen für die Kunst. Auch Florian Graf nutzt solche konkreten Vorgaben der Architektur und arbeitet zugleich weit über sie hinaus.

Drehmoment der Ausstellung Florian Grafs in der Kunst Halle Sankt Gallen ist die Triade. Die drei Ausstellungsräume in einem ehemaligen Lagerhaus bespielt der Kosmopolit mit Appenzeller Wurzeln mit drei Elementen in drei Farben und in für jeden der drei Räume verschiedenen Dimensionen und Materialien. Jedes der drei Elemente verweist für sich genommen auf architektonisches Formenvokabular aus den Bereichen Statik, Ornament und Repräsentation.

Den ersten Raum dominieren die Elemente architektonisch. Sie sind Stütze, Gebäude und Portal. Sie reichen sie bis zur Decke und verschmelzen mit dem Raum, da sie dessen Pfeiler umgeben und somit deren tragende Funktion imitieren. Sie bilden in ihrer hochartifiziellen Ästhetik den grössten Gegensatz zur Lagerhallenumgebung und lassen dennoch den Raum als begehbare städtische Zone wirken. Der zweite Raum zitiert mit Mobiliar und Farbigkeit eine Wohnsituation. Die drei Elemente sind diesmal aus glasierter Keramik und erscheinen als Designobjekt mit untergeordnetem Gebrauchswert. Im dritten Raum wird die Farbigkeit, das Lila, Gelb und Grün, von Kerzen, Blüten und Pflanzen getragen. Die drei Elemente sind hier aus Chromstahl, stehen auf Sockeln und dienen als Brunnen, Skulptur oder .

Unwillkürlich fällt der Blick von den natürlich unnatürlichen Pflanzungen innerhalb des Raumes auf den Aussenraum der Kunsthalle. Auch hier: gebändigte Natur, Natur in Anführungszeichen, Natur, die kaum noch natürlich ist, aber als solche einen Zweck erfüllen soll. Diese Instrumentalisierungen des Raumes interessieren Florian Graf ebenso wie die Wirkung dieser eigens gestalteten Räume auf die Menschen. Welchen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen sollen Innen- und Aussenräume, private und urbane, naturnahe und öffentliche Räume dienen? Wie wird der Raum physisch und emotional erlebt? Wie lässt sich menschliches Verhalten durch räumliche Setzungen manipulieren? Florian Graf geht für seine Arbeit von Architektur- und Stadtplanungstheorien sowie von eigenen Beobachtungen und Studien aus. Und er bringt es in eine ebenso reduzierte wie universale Form. So kann auch der Ausstellungstitel „Chamber Music“ in dreierlei Hinsicht gelesen werden: als Anspielung auf die multifunktionale Kammer, als Hinweis auf die virtuosen Variationen über ein Thema und als Einladung zu einem sinnlich konzentrierten Erlebnis.

Kunst – Kommerz – Krisen

Der Eintritt war frei, die Gemälde und Plastiken transportabel und käuflich: In Venedig fand 1895 die allererste Kunstbiennale statt – als Benefizveranstaltung mit unverhohlen kommerziellem Hintergrund. Der blieb ihr viele Jahrzehnte erhalten; die ausgestellten Arbeiten waren zum Erwerb gedacht und somit einigermassen handlich im Format. Erst in Zeiten raumgreifender, passgenau für die Länderpavillons entworfener Installationen, kann von transportablen Werken nicht mehr die Rede sein. Und von Kommerz? Die Galerien bleiben zwar im Hintergrund, aber sie finanzieren kräftig mit. Ohne sie liefe wenig an der Biennale, nicht nur in den Länderpavillons, sondern auch in der internationalen Ausstellung. Okwui Enwezor, der diesjährige Kurator, geht offensiv mit dem Thema um. So wird in der eigens gestalteten Arena Karl Marx gelesen: „Das Kapital“, komplett, von Arbeit bis Zirkulation, von Profit bis Privateigentum. Im Herzen der Biennale also das Wort und drum herum der Puls. Enwezor, der bereits als Leiter der Documenta 11 im Jahr 2002, also unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, eine hochpolitische Ausstellung gezeigt hat, macht auch diesmal um keine der weltweiten Krisen einen Bogen. Flüchtlinge auf dem Mittelmeer, prekäre Produktionsbedingungen in Fernost, Waffengewalt – alles, was brennt, wird nicht einfach künstlerisch verpackt, sondern reflektiert sowohl von etablierten als auch von unbekannten internationalen Künstlerinnen und Künstlern.

Viele der ausstellenden Länder halten es ähnlich, so richten sie den Blick auf die eigene koloniale Vergangenheit, die ökologischen Katastrophen oder die ausgebeutete indigene Bevölkerung. Klingt belehrend, ist es aber meist nicht, der Kunst sei dank. Viele der Werke entfalten eine visuelle Kraft, die noch lange im Hirn nachwirkt – erstaunlich genug angesichts der schieren Menge des Ausgestellten. Denn es geht neben den offiziellen Pavillons in eigens angemieteten Palazzi weiter, die manchmal der Kunst den Rang ablaufen, aber oft sehenswerte Aussenstationen oder in der Biennale-Sprache Eventi collaterali beherbergen. Zum Beispiel thematische Präsentationen wie jene der „Frontiers Reimagined“. Und hier plötzlich auch Schweizerisches ausserhalb des (sehr sehenswerten) Schweizer Pavillons: Sasha Huber, Mitglied in Hans Fässlers transatlantischen Komitee „Démonter Louis Agassiz“, zeigt ihre Arbeit zum Rentyhorn und somit quasi die Schwesternausstellung zu Fässlers Agassiz-Ausstellung ab August in der Kantonsschule am Burggraben.

Büffelsoldaten und Dumpfköpfe

Daniel Ammann aus Herisau und Hans-Jörg Ammann aus Frankreich stellen im Alten Zeughaus Herisau aus. «Ammann» ist eine Ausstellung mit Aha- und Dada-Effekten.

Kommen sie? Gehen sie? Ist der Krieg vorüber oder erwartet er seine Opfer? Daniel Ammann sendet im Alten Zeughaus Teufen eine Einheit «Buffalo Soldiers» ins Ungewisse.

Surrealer Alpaufzug

Gemeinsam mit seinem in Frankreich lebenden Onkel Hans-Jörg Ammann hat er für das Zeughaus eine Ausstellung entwickelt, und er hat sich dabei auf völlig neue Pfade begeben. Daniel Ammann ist Fotograf, in den vergangenen 20 Jahren war er fast ausschliesslich mit der Kamera unterwegs, oft auch für Saiten. Getreu seinem Motto «Mach etwas, mach das richtig» hatte er sich nach der Ausbildung von der Malerei verabschiedet. Auch jetzt greift er nicht zu Pinsel und Leinwand, die klassischen Medien überlässt er ganz seinem Onkel Hans-Jörg Ammann, der die unteren beiden Stockwerke des Zeughauses mit Stillleben, Aktzeichnungen und Landschaftsskizzen bespielt. Ammann hingegen begibt sich in den dreidimensionalen Bereich.

Seine «Buffalo Soldiers» sind kleine behornte Wesen, kniehohe Büffel aus Hockern, Schemeln, Ästen. Ein surrealistischer Alpaufzug, der ins Politische kippt, einerseits durch den namentlichen Bezug auf die afroamerikanischen Bürgerkriegssoldaten, andererseits durch die verwendeten Kürzel und Numerierungen und die textlichen Hinweise. Die Schar stolpert auf eine geöffnete Tür zu, Welcome und zugleich Go Home ist darauf zu lesen und in kleinen Bleistiftnotizen etwas von Demarkation, von Oil Peak und Treibstoffkapitalismus, von Drohender Deeskalation. Begriffe, die an Nachrichtensprache erinnern und dann doch ins Nichts führen.

Vorwärts-Rückwärts-Sätze

Sprache ist ein wichtiges Thema bei Daniel Ammann. Erst zur Finissage der Ausstellung wird das Rätsel der Buchstaben gelöst, die sich auf einer Leinwand, als dreidimensionale Objekte und auf dem Türblatt befinden. Zuvor darf anderes entziffert werden: Ammann hat einen Videobaum installiert. Für die Videos hat er Bekannte gebeten, einen Satz rückwärts zu sprechen, hat diesen aufgenommen und spielt ihn vorwärts wieder ab.

Gemischt werden die Sequenzen mit Videoaufnahmen aus Ammanns Archiv. So ist ein Bananentransport über den Victoriasee zu sehen, die Stimmung in einer Besenbeiz, ein Winterwald, kleine Roadmovies und vieles mehr. Eine stimmige Mischung – Kunst und Leben haben sich gefunden und sind mit einer Prise Dada gewürzt.

Vorbei geht’s dann an den «Dumbheads». Die mit Lehm gefüllten Ballons baumeln an Gummiseilen, dumm oder stumm, und genauso farbenfroh wie die Früchte in Hans-Jörg Ammanns Bildern. Die Köpfe lassen sich kneten und ziehen – auch ein möglicher Kommentar zu dem, was die Medienwelt vermag. Mehr davon gibt es am Dienstagabend im Rahmen des dichten Begleitprogramms zu hören: «Ist der Journalismus am Verludern» – es diskutieren Sina Bühler, Roland Falk, Marcel Elsener, Markus Rohner und Kaspar Surber, danach Musik von LSKB Session 15.01, One Hour Studio Session.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/buchstaben-sprache-und-bilder/

Wandel und Weben

Die Sefar AG stellt Präzisionsgewebe her. Ihren Stammsitz hat die Weltfirma in Thal, mit weiteren Produktionsstätten in Heiden und Wolfhalden. Hier begann vor fast 200 Jahren die Produktion der Seidenbeuteltücher.

Das Neue Museum Kassel, die Pilgerstätte in Medina, Operationssäle in Spitälern, das Forum Würth in Rorschach, der Centre Court von Wimbledon – das sind Orte von ganz unterschiedlicher Qualität und Funktion und doch mit einem gemeinsamen Merkmal: Hier spielen Gewebe eine wichtige Rolle, Gewebe der Sefar AG. Es sind Textilien, die ganz besonderen Anforderungen genügen müssen; sowohl technisch als auch ästhetisch. Als Flächenbespannungen müssen sie maximal flexibel sein, reissfest also. Sie müssen leicht sein und bei ihrem Einsatz in grossen Bahnhofs- oder Flughafenhallen auch schalldämpfend. Sie leiten das Licht, spenden Schatten und heben so sogar die Stimmung. Bis es soweit ist, liegt ein langer Weg hinter jedem der Produkte; ein langer Weg, der fast 200 Jahre zurückreicht.

Angefangen hat es im Jahre 1830 mit Garnen aus Naturseide. Die Geschichte „Wie die Thaler und Appenzeller zu einer neuen Industrie kamen“ ist in einem kleinen Heftchen publiziert, dessen Impressum wenig mehr verrät, als dass es überreicht wurde von der Schweizerischen Seidengazefabrik AG Thal. Ein paar Dutzend Exemplare gibt es noch. Sie schildern die erfolgreiche Suche des Kaufmanns Pierre Anton Dufour nach guten Webern in Thal, SG und liegen wohl verwahrt im Archiv der Sefar AG in Heiden. Hier ist der beste Ort, um tief in die Firmengeschichte einzutauchen. Und der beste Begleiter dabei ist Johan Böhi. Der an der Müllerei-Schule St.Gallen ausgebildete, ehemalige Reiseobermüller hat nicht nur die Materialien für das Archiv zusammengetragen. Er hat selbst in verschiedenen Positionen für die Sefar AG gearbeitet und kennt die Firma und ihre Mitarbeitenden gut. Auch heute noch, 10 Jahre nach seiner Pensionierung ist mit jedem seiner Schritte durch die grossen Produktionshallen in Heiden spürbar: Hier geht einer, der dazu gehört, der sich mit der Firma identifiziert; einer, der sich immer neu begeistern kann für die Qualität der hergestellten Garne und Gewebe.

Während durch die grossen Fensterscheiben die wunderschöne Aussicht auf den Biedermeierort Heiden lockt rattern die Maschinen. An einer werden so zarte Fäden verwebt, dass sie kaum zu sehen sind. An einer anderen entsteht gerade die Grundstruktur für ein titanbeschichtetes Gewebe, das sowohl hitze- als auch kältebeständig ist. 24 Stunden 7 Tage die Woche wird hier produziert. Noch sind sämtliche Websäle voll belegt. Aber wie lange die Standorte in Wolfhalden, Thal und Heiden noch ausgelastet sein werden, kann auch Christoph Tobler angesichts der Euroschwäche nicht vorhersagen. Er ist CEO der Sefar Gruppe und der Urenkel des gleichnamigen Firmengründers. Dass er dereinst in die Fussstapfen seines Urgrossvaters treten wird, war nicht von Anfang an geplant. Als jedoch 2004 ein neuer Firmenchef gesucht wurde, nahm der studierte Elektroingenieur die Herausforderung an und behält seither nicht nur die Sefar, sondern auch die internationale Konkurrenz fest im Blick. Zwar ist „Swiss Made“ in einigen Teilen des Weltmarktes noch ein besonderes Wertzeichen, aber darauf ausruhen kann sich kein Schweizer Unternehmen. Als beispielsweise abzusehen war, dass die Gewebetechnologie im Siebdruckbereich weniger nachgefragt wird, begann Sefar mit ihren Expertinnen und Experten nach neuen Tätigkeitsfeldern zu suchen: „Wir sahen grosses Potential in der Elektrovoltaik, in den leitenden Geweben und in der Architektur. In solchen neuen Märkten mussten wir ergründen, wer über den Einsatz und den Kauf entscheidet. Das ist insbesondere in der Architektur nicht immer einfach.“ Neu kam hier auch hinzu, dass die Produkte sichtbar bleiben. Das hatte es bis dahin bei keinem Erzeugnis der Sefar gegeben. Nun ging es plötzlich um Ästhetik, denn das menschliche Auge erkennt die kleinsten Abweichungen: Farb- und Webfehler dürfen auf den teilweise mehrere Tausend Quadratmeter grossen Geweben nicht auftreten.

Sie überspannen riesige Flächen, und doch bilden die Architekturgewebe nur einen kleinen Anteil der Firma: „Gewebe auf Diagnostikstreifen in der Medizinbranche ist weniger als ein Quadratzentimeter gross, aber davon werden täglich weltweit Millionen verbraucht. Die Architekturanwendungen hingegen sind immer Spezialentwicklungen, die dauerhaft installiert werden.“ Hingegen werden die Produktions- und Konsumartikel regelmässig ersetzt: die Wasserfilter, die Bluttransfusionsfilter, all die Partikel- und Flüssigfilter. Das ist das Stammgebiet der Sefar. Die Schweizerische Seidengazefabrik AG Thal stellte Siebgewebe her, mit dem die Müller, auch heute noch, die Mehle zum Backen und die Griesse für die Teigwarenherstellung von der Kleie trennen. Hundert Jahre lang produzierten die Weber ausschliesslich in Heimarbeit und jedes gelieferte Stücklein Seidengaze wurde in dicken Folianten verzeichnet. Ab 1930 begann dann die konsequente Mechanisierung und 1950 der Umstieg auf synthetische Garne. Inzwischen wird gar keine Naturseide mehr verarbeitet, auch nicht, wenn für die Crew der Alinghi besonders leichte Kojen entwickelt werden. Weltklassesegler muss jedoch nicht sein, wer ein Stück Sefar erleben will. Es reicht, sich das Mobiltelefon ans Ohr zu halten: Wahrscheinlich steckt ein Akustikfilter der Sefar AG darin.

«Obacht Kultur» No. 21, 2015/1

Anita Zimmermann

Künstlerischer Beitrag zur Kulturlandsgemeinde 2015 «Wir erben – wir Erben»

Leben bedeutet erben – in materieller Hinsicht ebenso wie geistig, kulturell und gesellschaftlich. Das Vorherige manifestiert sich im Heute. Mal tritt es deutlicher hervor, mal weniger deutlich; mitunter bricht es kraftvoll in die Gegenwart oder es ist nur noch im das Wissen einiger weniger Menschen verankert. Wie also dieses Erbe und seine Gestalt in Bilder fassen? Wie dem immateriellen und dem physischen Nachlass künstlerisch gerecht werden?

Anita Zimmermann lässt alle Motive zu. Die Künstlerin entwickelt ihre Zeichnungen gleich einem Strom von Bildern. Eines kommt zum anderen, Sujets ergänzen einander oder beginnen neue Assoziationsketten. Sie verzweigen sich, werden durch Worteinsprengsel akzentuiert und legen wieder neue Fährten.

Die Vielfalt der Bilder und daraus erwachsenden Erzählstränge gleichen der Appenzeller Landschaft wie sie Anita Zimmermann beschreibt: «Unterwegs im Appenzeller Land gibt es alle vier Minuten einen Szenenwechsel». Doch auch die Hügellandschaft hat ihre Konstanten genau wie die Arbeit der in St.Gallen lebenden Künstlerin. Seit einigen Jahren zeichnet Anita Zimmermann mit der Airbrush-Pistole auf grosse Formate. Sie arbeitet linear aus der grossen Bewegung heraus. Zeichnen ist dabei Konzentration auf das Wesentliche, auf die charakteristische Gestalt und Binnenzeichnung.

Die Reduktion ist in den kreisrunden Gesichtern auf den Höhepunkt getrieben: Sie erinnern an die im elektronischen Nachrichtenverkehr so häufig verwendeten Emoticons und wirken doch ganz anders, denn sie sind von Hand gesprayt, leben von kleinen Unregelmässigkeiten, Farbverläufen oder Tropfspuren. Sie schauen verzagt oder fröhlich, resigniert oder mutig. Sie fallen oder steigen, schweben oder treiben in der Fläche. Einzig der grosse Affe gibt ihnen Halt. Er hat sich eines auserwählt und ist im Begriff das zweite vorsichtig zu greifen. Ist er fürsorglich oder forsch? Anita Zimmermann gibt keine Deutungen vor. Sie zeichnet die Gesichter als universale Zeichen für die Menschen: Auch wenn sie noch so verschieden sind, sind sie Früchte ein und desselben Stammbaumes. Auch wenn sie sich noch so ähnlich sind, haben sie doch alle etwas Anderes von ihren Eltern geerbt. Es kann sich in äusserlichen Merkmalen manifestieren oder in Verhaltensweisen und Meinungen.

Die ererbten Merkmale, Traditionen und Werte sind der Bodensatz auf dem das Individuum agiert – so wie die Muster und Farben auf den Papieren, die Anita Zimmermann als Material für ihre Zeichnungen verwendet. Die Papierbahnen sind Ausschusspapiere von Druckhintergründen der Textilfirma Jakob Schläpfer AG. Die Bahnen zeigen nun einen Abglanz der eigentlichen Muster. Sie sind Übrigbleibsel des Vorherigen und Basis für das Neue. Auf diesen Bahnen entwickelt Anita Zimmermann an der Kulturlandsgemeinde neue Werke. Vor Ort in Heiden wird das Erbe zum Anlass für eine neue künstlerische Ernte.

Text zur Kulturlandsgemeinde 2015 in Heiden

Dada vor Dada

Ein Jahr vor dem grossen Dadajubiläum feiert das Kunstmuseum Appenzell fünf Dadaistinnen. Zu den Gratulantinnen gehören auch zeitgenössische Künstlerinnen.

»Die Dada La Dada She Dada« – ein Ausstellungstitel wie ein Ohrwurm: Summ Dada, sing Dada, kling Dada! Und das alles im Femininum. Dada wird weiblich; war es immer gewesen. Künstlerinnen haben Dada geprägt. Sie tanzten und texteten, sie malten und montierten, sie zeichneten und politisierten. Sie hegten eine Vorliebe fürs Unkonventionelle, in der Kunst wie im Leben, und entgegen allen bürgerlichen Wertvorstellungen. Allerdings traten auch die Künstlerkollegen oft als Verhinderer auf und degradierten die Frauen zu Beiwerk. Daran änderte die lange von Männern dominierte Kunstgeschichtsschreibung wenig.

Allerhöchste Zeit also, die Dadaistinnen ins Rampenlicht zu stellen. Die Kuratorinnen Nadine Schneider und Ina Boesch haben fünf von ihnen ausgewählt und zeigen mehr als nur den weiblichen Blick. Sie bringen das ganze Dada-Panoptikum nach Appenzell, denn jede der Künstlerinnen steht zugleich für ein Dada-Zentrum und seine spezifische Dada-Spielart: Hannah Höch für Berlin, die Schriftstellerin Céline Arnauld für Paris, Angelika Hoerle für Köln, die Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven für New York und Sophie Taeuber-Arp für Zürich.

Hat nahe der Limmat alles angefangen? Oder doch in Paris, wo Marcel Duchamp bereits 1913 eine Fahrradgabel mit Rad in einen Küchenhocker steckte? Oder 1915 in New York wohin er emigrierte und Zugang zu dem Zirkel des Sammlerehepaares Arensberg fand? Oder eben in Zürich, wohin auf den Monat genau vor einhundert Jahren die Vortragskünstlerin Emmy Hennings und der Philosoph und Dramaturg Hugo Ball flüchteten? Die Ideen lagen mehrerenorts in der Luft. Aber um sich manifestieren zu können, brauchte Dada die komprimierte Atmosphäre der neutralen Schweiz mitten im grossen Krieg. Hier fanden Hennings und Ball gleichgesinnte junge Menschen. Hier gründeten sie am 1. Februar 1916 das Cabaret Voltaire. Aber diesem lassen Boesch und Schneider das Jubiläumsfest im kommenden Jahr.

»Die Dada La Dada She Dada« untersucht weniger das grosse Anti-Kunst-Spektakel als vielmehr den wichtigen Beitrag Dadas zur Kunst, insbesondere den der Künstlerinnen. Sie überwanden die Grenzen zwischen Malerei, Plastik und Zeichnung. Sie hoben die Hierarchie zwischen bildender und angewandter Kunst auf. Sie konnten einfach alles. Sophie Taeuber-Arp zum Beispiel: Neben ihren freien Arbeiten unterrichtete sie textiles Gestalten in Zürich und ermöglichte damit Hans Arp sein unabhängiges Schaffen. Aber sie war um ihrer Stelle willen gezwungen, bei Dada-Soireen unter Decknamen und mit Maske aufzutreten. Ihre Marionettenfiguren sind leider nicht im Original zu sehen, werden aber gleichzeitig mit den Tanzperformances im Video von Anka Schmid zum Leben erweckt. Die Zürcherin ist eine der fünf Gegenwartskünstlerinnen, die eingeladen wurden, sich mit dem Werk je einer Dadaistin auseinanderzusetzen.

Elodie Pong reagiert auf Elsa von Freytag-Loringhoven. Letztere ist eine der besonders spannenden und schillernden Dada-Figuren. In Pongs Installation wird das Tempo der Metropole ebenso nach Appenzell geholt wie die Selbstinszenierung urbaner Individuen. Chantal Romani wiederum arbeitet die grotesken Körperverformungen heraus, mit denen Angelika Hoerle auf die Versehrten des I. Weltkrieges reagiert hatte. Judith Alberts schlägt den Bogen von Hannah Höchs Collagen in die Gegenwart. Höch räumt mit tradierten Frauenbildern auf – Albert zeigt, was vom Aufbruch geblieben ist. Und wer aufs Kleine achtet, wird mit einer wundersamen Tintenwolke auf Haushaltspapier belohnt. Anne-Julie Raccoursier schliesslich findet filmisch poetische Pendants zu Céline Arnaulds rätselhafter Dichtung.

Die zeitgenössischen Künstlerinnen geben der Ausstellung entscheidendes Gewicht, denn dadaistische Originale sind leider nur sehr wenige zusehen. Das ist das einzige Manko der Ausstellung. Aber dank der gut gestalteten Plakate und der begleitenden Zeitung kommt dennoch Dada-Atmosphäre auf. Das Wissen ist hier nicht nur dicht gesät, sondern lesenswert aufbereitet: übersichtlich, kompakt und gut.

St.Gallen: Walter Mittelholzer

Äthiopien – der Klang des Wortes evoziert Bilder; zumeist Bilder aus zweiter Hand. Sie fügen sich gemeinsam mit Wissensfragmenten zu einer vagen Vorstellung von diesem Land. Karin Karinna Bühler misstraut den Bildern; im aktuellen Falle denjenigen Walter Mittelholzers (1894–1937). Der Pilot, Fotograf und Mitbegründer der Swissair prägte mit seinen Aufnahmen das Afrikabild seiner Zeit und wirkt bis heute. Im Zentrum der Ausstellung steht sein Kommunikationstalent und seine ausgefeilte Marketing- und Sponsoringpolitik. So wurden seine Unternehmungen durch Firmen unterstützt, die sich gute Verkehrsverbindungen zwischen der Schweiz und Afrika erhofften. Zwischenlandungen sind aber bis heute nötig, wie Bühler zeigt. Sie stellt ihre Reise nach Adis Abeba Mittelholzers Abessinienfilm gegenüber. Nicht eins zu eins, sondern in einem durchdachten Ablauf von Bildern, Farben, Notizen. Wie in ihrer Arbeit durchdringen sich in der ganzen Ausstellung Originalmaterial aus den zwanziger und dreissiger Jahren und die zeitgenössische Kunst. Costa Vece thematisiert gängigen Kulturimperialismus mit Zementsack und Souvenirskulptur. Roman Signer, Axel Heil und John Isaacs beziehen sich auf Sehnsüchte und Konsumikonen. Beni Bischof unterwandert die Schau mit lakonischen Einsprengseln – treffend und undogmatisch.

Teufen: Jürg Altherr

Jürg Altherrs Grossplastiken verändern die Kräfteverhältnisse im öffentlichen Raum. Dimensionen und Beziehungen können durch seine Arbeiten neu wahrgenommen werden. Verstanden als städtebauliche Elemente fordern sie auf, städtische Strukturen und Stadtplanung zu reflektieren. Damit ecken sie an; zum Beispiel in Aadorf. Dort regte sich vor 15 Jahren so erbitterter Widerstand gegen eine Stahlplastik Altherrs, dass sie entfernt werden musste. Die Bevölkerung war überfordert von der Kraft des künstlerischen Werkes, von seiner Strenge, seiner formalen Präsenz. Nun steht die ursprünglich liegend positionierte Arbeit aufrecht vor dem Zeughaus Teufen. Sie funktioniert als Messgerät und Landmarke, allerdings wohl nur vorübergehend – als Teil der aktuellen Ausstellung. Sie versammelt eigens angefertigte, grosse Arbeiten aus Wellpappe, aber auch ältere Werke in handlichen Formaten. Bewusst wurden sie nicht klassifiziert als Modelle, Entwürfe, freie Ideenskizzen oder vollendete Arbeiten. So fügen sie sich aufs Beste zu den Modellen des Barockbaumeisters Grubenmann im Dachgeschoss des Hauses. Die Brücken sind ein weiteres Bindeglied. Diese schwebenden, rhythmischen Strukturen schaffen wiederum den Anknüpfungspunkt zu den ausgestellten Fotografien von Thea Altherr.

Bregenz: Rosemarie Trockel

Rosemarie Trockel wird gern in eine Reihe gestellt mit Cindy Sherman, Barbara Kruger oder Jenny Holzer. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, allerdings fehlen in dieser Aufzählung die Künstlerkollegen. Nicht einmal, wenn eine wie Trockel Themen auswählt, die frauenspezifisch wirken, sich feministisch deuten lassen, rechtfertigt dies, für sie die Künstlerinnenschublade zu bemühen.

Trockel spielt die Frauenkarte so souverän, geist- und anspielungsreich wie sie jedes andere Thema auch behandelt. In ihrer aktuellen Ausstellung im Kunsthaus Bregenz ist es beispielsweise eine wahre Freude, sie die aktuelle und die nicht mehr ganz so zeitgenössische Kunst sezieren zu sehen.

Trockel ist bekannt geworden als die strickende Künstlerin, wobei ihre wollenen Bildwerke bereits in den 1980er Jahren per Computer gestaltet und maschinell hergestellt wurden. Nun aber verzichtet sie aufs vollautomatische Stricken und legt Acrylfaden an Acrylfaden, so dass Streifenbilder entstehen. Streifenbilder? Gab es die nicht in den vergangenen zwei Jahren allerorten zu sehen, eben doch mittels Computertechnik fabriziert, und zwar von Gerhard Richter und bis zu 10 Meter lang? Trockels Streifenbilder sind wesentlich kleiner, sie heissen „Easter Parade“ oder „Pattern is a teacher“, oder tragen sie gar keinen Titel. Gerade in ihrer überschaubaren Grösse, ihrer Machart und der beliebigen Benennung wegen konterkarieren sie Richters „Stripes“ und spielen mit der Lust, das Ungegenständliche unendlich zu erhöhen. Schade nur, dass sie im Kunsthaus Bregenz hinter Acrylglas hängen, das hemmt sie etwas in ihrer Wirkung. An anderen Stellen wieder ist die Präsentation der Werke gelungen und antwortet aufs Beste der Architektur Zumthors, wenn etwa Drucke in Beton gerahmt sind oder „Spiral Betty“ am Fusse einer der langen, die Stockwerke verbindenden Treppen hängt und den Herabschreitenden entgegen strahlt. Neonröhre, Eierstockplastik, Schnur – Betty ist die kleine Schwester von Jetty und lässt Robert Smithsons spiralförmige, mit schwerem Gerät erbaute Mole in Utah hoffnungslos romantisch erscheinen.

Nicht immer liegen Trockels Bezüge geografisch so weit; für ihre Märzschnee-Ausstellung im Kunsthaus Bregenz hat sich die Künstlerin im Vorarlberg umgesehen und ist auf Trachtenkunst und Amulette, auf Trophäen und Reizwäsche gestossen, und auf grosses (weibliches) Selbstbewusstsein. „The Critic“ ist die Synthese all dessen und noch dazu mit dem Ich der Künstlerin verwoben.

Trockel ist jetzt über sechzig, ihre Kunst jedoch ist kein abgeklärtes Alterswerk, sondern sowohl von ihren Inhalten her als auch in ihrer Ausformulierung mühelos auf der Höhe der Zeit.