Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Warth: Tsang Kin-Wahs «Ecce Homo Trilogy II» in der Kartause Ittingen

Bilder verführen zu Urteilen. Sie sind ein Machtinstrument, nicht erst seit sie sekundenschnell weltweit verbreitet werden können. Tsang Kin-Wahs begehbare Inszenierung im Kunstmuseum Thurgau thematisiert Menschlichkeit und Wahrheit mit dokumentarischem Filmmaterial. Es ist seine erste Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum.

Das Ecce Homo-Motiv zeigt den gefolterten Jesus, zeigt ihn als Mensch. Es zeigt aber auch das Zeigen selbst, das Präsentieren des Leidens und das Betrachten desselben. Zeigend tritt Pontius Pilatus auf. Betrachtend das Volk – und jene, die das Bild ansehen. Auch sie schauen das Leiden und machen sich ihr eigenes Bild, deuten das Gezeigte. Diese Dimensionen des verbreiteten christlichen Sujets, das Zurschaustellen des Leidens und das Betrachten des Spektakels, dominieren in der «Ecce Homo Trilogy» von Tsang Kin-Wah (*1976). Der zweite des auf drei Teile angelegten Werkes ist derzeit im Kunstmuseum Thurgau ausgestellt und wird auch nur hier zu sehen sein, denn der in Hong Kong lebende Künstler hat seine Installation passgenau auf das ehemalige Kartäuserkloster und seinen Ausstellungsraum zugeschnitten. Wie in seiner Arbeit «The Infinite Nothing», mit der er Hong Kong an der diesjährigen Biennale in Venedig vertritt, gibt es eine ausgetüftelte Raumchoreografie. Doch während der Künstler dort mit projizierten, bewegten Satz- und Wortreihen arbeitet, sind sie hier fix auf Wänden und Boden angebracht. Sie schlingen sich übereinander, sind verzerrt und dennoch gut zu lesen. Sie künden von Gewalt, Rache, Waffen, von Schuld und Resignation. Doch nicht nur die fehlenden Leerzeichen erschweren es, sich auf die Entzifferung einzulassen, stärker noch verhindern es die mal dumpf wummernden, mal kreischenden Klänge aus dem Inneren der Ausstellung. Sie verbreiten Unbehagen genauso wie sie das Verlangen schüren, ihren Ursprung zu ergründen, sich Klarheit zu verschaffen.

Klarheit, Wahrheit – das einzulösen versprechen Fotografien und Filme noch immer, ungeachtet des längst verbreiteten Wissens um die Manipulierbarkeit aller, auch dokumentarischer Bilder. Solcher bedient sich Tsang Kin-Wah: Er hat für drei Projektionen Videomaterial aus dem Internet verarbeitet. Die Aufnahmen zeigen den Prozess gegen Saddam Hussein, die Exekution des Diktators und schliesslich dessen Begräbnis. Indem der Künstler die Farben eliminiert, den Grad der Unschärfe stark erhöht und die Geschwindigkeit reduziert, homogenisiert er das Material nicht nur, er verunklärt es auch. Denn was ist schon wahr? Oder mit Nietzsche formuliert: Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wie auch immer diese ausfallen, die Hinrichtung eines Menschen ist niemals gerechtfertigt; auch diesen Bezug zum Ecce Homo-Motiv impliziert Tsan Kin-Wahs Arbeit.

bis 15. Dezember 2015

www.kunstmuseum.tg.ch/

Prozesshafte Plastik: Phyllida Barlow und Richard Deacon

Komplexe Gestaltung, aufwendige Arbeitsprozesse, unkonventionelle Formen und Farbigkeit – Phyllida Barlow und Richard Deacon interessiert, wie Materialien sich verhalten. Die Koinzidenz zweier unabhängig voneinander entwickelter Ausstellungen erlaubt eine vergleichende Betrachtung beider Werke und zeigt spezifische Unterschiede.

Beide gehören zu den Grossen der internationalen Bildhauerszene, beide arbeiten seit über vierzig Jahren an ihrem plastischen Werk, beide loten die Möglichkeiten des Materials aus, ohne einem vorgefassten Formgedanken zu folgen. Gemeinsamkeiten zwischen Phyllida Barlow und Richard Deacon gibt es einige, doch zahlreicher noch sind die Unterschiede. Daher ist die Gleichzeitigkeit der beiden monografischen Ausstellungen in der Lokremise St.Gallen und im Kunstmuseum Winterthur ein Glücksfall. Und es passt ebenso gut, dass Phyllida Barlow (*1944) in der noch immer nachwirkenden Arbeitsatmosphäre des ehemaligen St.Galler Lokomotivdepots zu sehen ist und Richard Deacon (*1949) im hochästhetischen, reduzierten Ambiente des Winterthurer Museumsanbaus von Gigon Guyer.

Bei Phyllida Barlow wuchert und quillt es. Die britische Künstlerin rezykliert und kumuliert. Alles birgt Veränderungspotential, könnte weiterwachsen und noch stärker in den Raum hineingreifen – und das obwohl Barlow für diese Schau bestehende Werke aus unterschiedlichen Werkgruppen kombiniert und nicht wie sonst (beispielsweise in der letztjährigen Ausstellung in der Tate Britain) Plastiken eigens für den Raum entwickelt. Auch den bestehenden, abgeschlossenen Werken eignet ungebändigte Dynamik und ein provisorischer, unfertiger Charakter. Die Oberflächen sind rau, die Materialien disparat. Plastik trifft auf Karton, Filz auf Zement, Styropor auf Holz. Kunststoffbänder bilden unentwirrbare Knäuel, rosafarbene Stofffetzen drängen aus kolossalen Baumaterialbällen. Formen sind aufgebrochen oder zu fragilen Haufen getürmt. Ganz anders bei Richard Deacons in den letzten 10 Jahren entstandenen Werken. Statt der Lust am Vermengen und Häufen dominiert die Freude an der Finesse, statt schrundiger Oberflächen die geschliffene oder glasierte Haut. Deacon betont die Qualität des Materials, indem er es gerade nicht seinen Eigenschaften gemäss verwendet, sondern es manipuliert und die Grenzen dessen auszulotet, was sich mit Holz oder keramischen Werkstoffen konstruieren lässt. Dies wirkt bisweilen manieriert, mündet aber letztlich im spannungsvollen Inszenieren von linear umschriebenen Zwischen- oder Binnenräumen. Das Verhältnis von Innen und Aussen ist Deacon ebenso wichtig wie das physisch Vorhandene. Dessen Gestalt ergibt sich besonders bei den Keramiken erst während des Arbeitsprozesses. Und hierin gleichen sie schliesslich den ungestümen Werken Barlowes.

Lokremise St.Gallen: bis 8. November

Kunstmuseum Winterthur: bis 22. November

Kinderfest: Bauen für einen Tag

Das St.Galler Kinderfest hat keinen festen Termin und keine festen Bauten. Aber es hat eine bis ins Jahr 1824 zurückreichende Tradition, eine Wiese und einen Rhythmus. Alle drei Jahre findet das Fest im Frühsommer statt, dann wenn die Wiese trocken genug ist, um Zehntausenden von Besucherinnen und Besuchern und 5‘000 teilnehmenden Kindern Stand zu halten. Das verlangt Flexibilität nicht nur im Privat- und Geschäftsleben der Stadt und der Stadtverwaltung, sondern auch bei der Festinfrastruktur. Einfache Holzelemente unter weissroten Stoffbahnen bestimmen das sommerliche Bild der temporären Bauten.

Die Kinderfestwiese ist Landwirtschaftsfläche. Auf dem grünen Höhenzug nördlich der Stadt gedeiht Viehfutter, weiden die Kühe. Nur einmal in drei Jahren wird die Wiese in einen Festplatz verwandelt, einen Festplatz für einen Tag. St.Galler Schülerinnen und Schüler ziehen dann durch die Innenstadt auf den Rosenberg hinauf und bis zu 50‘000 Personen verfolgen die an den Schulen einstudierten Bühnendarbietungen, essen Kinderfestbratwürste, spazieren über die Wiese, treffen Freunde und geniessen den festlichen Anlass. Doch wenige Tage später ist die Fest- wiese wieder Futterwiese – für knapp zweieinhalb Jahre, bis anfangs April der Aufbau der Infrastruktur wieder beginnt.

Alles muss mobil sein, leicht, gut zu zerlegen und zu montieren – und bei Bedarf mit geringem Aufwand zu ersetzen, denn nicht erst einmal ist schon in der Aufbauphase für das Kinderfest ein Unwetter in die 300 Dächli hineingefahren, hat die Stoffbahnen zerfetzt und Latten abgerissen. Doch nicht nur Sturm setzt den Kinderfestbauten zu, die Sonne bleicht die weiss-roten Stoffbahnen aus, der Regen wäscht Senken in den Bühnenboden. Dennoch: Die Bühnen sind zuerst dran – sowohl in der Aufbauphase als auch vorab in der Planung. Da sie für jedes Kinderfest neu erstellt werden, erfolgt bereits Monate vor dem Kinderfest die Ausschreibung; ebenso für die Beschallung, die Technik muss schliesslich für mehrere Wochen reserviert werden, denn ob das Kinderfest bereits am ersten geplanten Durchführungstag stattfinden kann, ist ungewiss – der St.Galler Sommer folgt eigenen Regeln.

Der Platz der Bühnen wird bereits im Spätherbst definiert. Dies ist nicht einfach im nebligen November auf nasser, kalter, grosser Wiese. Da ist der Übersichtsplan vom Areal ein Hilfsmittel. Bodenunebenheiten und Baumwuchs sind nicht nur Orientierungsmarken, sondern für den Aufbau zu berücksichtigende Faktoren. Wird eine Bühne zu weit in die Wiese hinein gebaut, verkleinert sich der Platz fürs Publikum. Wird sie zu weit nach hinten versetzt, ist das Gelände zu abschüssig. Ist der rechte Ort gefunden, werden die Koordinaten gespeichert. Pflöcke werden noch keine eingeschlagen. Denn die Wiese soll so lange wie möglich geschont werden. Daher dürfen auch keine fremden Fahrzeuge über die Wiese fahren, der Bauer erledigt alle Transporte für die Aufbauten.

Stehen die Bühnen, folgt der Aufbau der Bänke und Tische. Auch hier ist Augenmass gefragt. Manche der Elemente sind gut zu identifizieren, die Dachwinkel beispielsweise oder auch die fest verbundenen Bank-Tisch-Winkel. Anderes ist nicht so leicht zuzuordnen und wird alle drei Jahre neu montiert. Mehr als 250 kg Nägel und einige Schrauben sind dafür nötig und eine gehörige Portion Erfahrung. Das gesamte Material, die Pfosten, Bänke, Latten, Stoffe, Bretterböden, Zäune und die 99 Fahnenstangen sind in zwei Scheunen auf der Kinderfestwiese eingelagert; auch die Hauswarttische und die hölzernen Trinkbrunnen, die so manchen vielleicht noch nie aufgefallen sind. Meterweise wird aufgebaut.

Bis zu zehn Bühnen- und Gerüstbauer, mehr als ein Dutzend Zimmermannsleute aus drei verschiedenen Betrieben sind an der Arbeit. Zusätzlich befestigen bis zu 20 Dekorateure 6 Kilometer Stoffbahnen. Alles ist vor dem ersten Durchführungstermin parat. Auch die Vorhänge, die Fähnchen am Bühnenrand oder Kreuzchen auf dem Boden für die Aufführungen. Zwei Scheunen sind in Sanitätsposten verwandelt. Strom und Wasser stehen bereit. Dann beginnt das Warten, denn das Wetter lässt sich nicht planen. Drei Tage lang muss die Wiese trocken sein, damit nach dem Kinderfest möglichst schnell alles wieder wie vorher ist.

Baudokumentation Stadt St.Gallen | Hochbauamt, 2015 | N° 183

Appenzell: Gerold Tagwerker

Gerold Tagwerker im Kunstmuseum Appenzell: _grids.zeroXV

Ordnung ist das halbe Leben – und die ganze architektonische Moderne. Sie ist sachlich, klar, reduziert; rechte Winkel, Vertikale und Horizontale dominieren das Erscheinungsbild. So einfach diese geometrischen Prinzipien sind, so anfällig sind sie für Abweichungen. Dort setzt Gerold Tagwerker an. Der österreichische Plastiker geht vom Raster aus, sowohl formal als auch mit seinen Materialien: Er verwendet Armierungsgitter, Drahtglas oder Lamellenblenden und konstruiert Arbeiten gemäss der modernistischen Logik, um diese gleich darauf zu unterwandern. Das Regelmass kippt in die Diagonale, ins X, Leuchten entfalten ein Eigenleben, Spiegel reflektieren gerasterte Porträts oder hinterlassen im Zersplittern dynamische Bilder. Der Notausgang schliesslich führt ins Nichts und hat sein Pendant in einer Stahltüre, deren Konstruktion eine Holztüre imitiert. Tagwerkers Arbeiten offenbaren das Formendiktat von Materialien wie auch deren Potential, vorhandenes Vokabular beliebig zu variieren und zu multiplizieren.

Knapp 20 Werke umfasst die erste monografische Ausstellung des gebürtigen Vorarlbergers in der Schweiz. Reduktion also auch hier, aber genau im rechten Mass. Der Rundgang ermöglicht Überblick und Konzentration und nimmt sinnfälligen Kontakt auf zum Museumsbau von Annette Gigon und Mike Guyer.

Hügel, Wellen, Grenzen und ein grosser See

Mit Walter Graf und Davide Tisato unterwegs von Heiden zum Kindlistein

Der Gstaldenbach ein ideales Revier für Mutproben? Durchaus; verschwindet er doch kurz vor dem Schwimmbad Heiden in einem unterirdischen Kanal und erscheint erst dahinter wieder an der Erdoberfläche: Wer sich traut, stapft unterhalb der Badi-Wiese durch.

Noch waghalsiger ist es, im eingedolten Werdbach das ganze Dorf zu durchqueren. Davide Tisato berichtet von Mutproben aus Schulzeiten. Die gehören für den jungen Häädler schon zur Vergangenheit, inzwischen hat es ihn in die Welt hinaus verschlagen, zum Studium nach Valencia, Lissabon und Montpellier. Heute aber wandert er zu altbekanntem Ziel auf ungewohnten Pfaden: zum Kindlistein übers Löchli hinauf. Walter Graf hat die Route vorgeschlagen. Der Primarlehrer, der auch Davide Tisato zu seinen Schülern zählte, kennt hier jeden Weg. Nach der Pensionierung stand er für einige Zeit an Kasse und Bar des Kinos Rosental und seit 12 Jahren ist er verantwortlich für die Wanderwege des Bezirks Vorderland.

Kino und Schwimmbad haben wir hinter uns gelassen und laufen ortsauswärts. Autos lärmen auf der regennassen Obereggerstrasse. Dann biegt der Weg links ab und rechter Hand ragt der Bischofsberg auf, liegt Bissau, die Bischofsaue. Wir sprechen Walter Graf auf Historisches an, auf die früheren Besitzverhältnisse: Der gut sichtbare Kaien markiert die Grenze zwischen dem äbtischen Appenzellerland und dem bischöflichen Gebiet gegen das Rheintal hin.

Neben dem Weg fliesst der Löchlibach, rechts und links davon ist das Gras vom hohen Wasserstand niedergedrückt. Auch im Wald plätschert es. Drei Bäche fliessen im Löchli zusammen, ein kleiner Weiher hat sich gebildet, der Boden ist sumpfig. Durch eine hohle Gasse mit grossen, regennassen Steinen führt der Weg hinauf auf der alten Fahrstrasse von Heiden nach Oberegg. Er ist, auch wenn er das Zeug dazu hätte, kein offizieller Wanderweg. Auch künftig hat er wenig Chancen. Zwar wurde früher dort markiert, wo bereits Wege existierten, aber seit fünf Jahren wird stärker auf Routen Wert gelegt, auf Wege von Ziel zu Ziel. Damit werden wenig begangene und parallele Wege sogar ausgemustert. Allerdings müssen die Gemeinden einer solchen Wegausklammerung zustimmen. Gar nicht so einfach, vor allem, wenn Wege über Gemeindegrenzen hinaus führen. So oder so: Einheimische gehen die Wege trotzdem, andere finden sie nicht oder nur per Zufall. Das ist vielleicht auch ganz gut so, denn noch ist es hier wildromantisch. Es rieselt und rauscht, tropft und raschelt im Wald. Bald öffnet sich der Weg zu einer kleinen Lichtung. Ab hier führt ein Kiesweg weiter, mitunter genutzt, um nach Hause zu gelangen, wenn der Alkoholpegel zu hoch für die offiziellen Strassen ist.

Walter Graf ist auch in der Exklave für die Wege zuständig; beim Wandern sind die Kantonsgrenzen aufgehoben. Kurz sind Oberegger Häuser zu sehen. Dann biegen wir in den Wald ab und alles wird noch grüner, noch üppiger. Der Weg wird unter den Füssen zum Pfad.

Wir wandern auf einer der Sandsteinrippen entlang, die das Vorderland prägen. Aus einem Grat der Rippe erhebt sich ein dicht umwachsener Felsen: die Teufelskanzel, nur gerade 3 Meter hoch, im Wald versteckt, kein Weg führt hin, keine Mythen ranken sich um sie. Ganz anders als beim Kindlistein. Dorthin lief früher bei Davide Tisato stets das Unbehagen mit – es waren die Geschichten von Hexen, Kinderseelen und Wiedergeburt, die ihn erschauern liessen. Heute wandern wir unbeschwert und schwenken ein auf einen lehmigen Weg, der für die Holzabfuhr genutzt wurde. Plötzlich bricht die Sonne durch, genau im richtigen Augenblick: Nachdem wir einen zwickenden Draht überwunden haben, stehen wir auf einer Wiese. Wie von selbst lenken sich die Füsse zum Horizont; Walter Graf hat recht: „Bevor wir rübergehen, müssen wir rüberschauen“. Der Blick lohnt sich. Wo vor wenigen Jahren die Bäume dicht wuchsen, stehen einzig vier hochstämmige Lärchen. Weit ist die Landschaft, und doch voller Grenzen: Wieder ist ein Ausläufer des Kaien zu sehen – vor der unbewaldeten grünen Krete äbtisches Gebiet, dahinter bischöfliches. Ausserdem die Weiler Benzenrüti, dahinter Schwarzenegg, die Treibhäuser von Ernst Graf, Biobauer und Präsident des Bauernverbandes Ausserrhoden, der Hof von Willi Schefer. Das Haus daneben gehört bereits zu Wolfhalden. Und hinter uns stehen Innerrhoder Kühe auf der einen Seite eines Sumpfstreifens, Ausserrhoder Kühe auf der anderen. Die einen sind ein bisschen brauner als die anderen, Hörner tragen beide; und seit zwei Jahren verbindet ein kleines Holzbrüggli die Kantone über den Morast hinweg.

Doch nun endlich der Kindlistein, der allerdings um genau so viele Zentimeter geschrumpft ist, wie Davide Tisato seit seinem letzten Besuch hier gewachsen ist. Ansonsten ist alles unverändert: der initialübersähte Sandstein, das Kind mit ausgebreiteten Armen im Loch, die Furchen steil in den Wald hinunter. Wir folgen ihnen, statt über die gerodete Fläche im kniehohen, nassen Gras abzusteigen.

Als wir den Wald verlassen haben, begegnen uns wieder die markanten gelben Pfeile. Der beschilderte Weg führt rund um den Hirschberg, der im Gegensatz zum Hohen Hirschberg bei Gais eigentlich kein Berg und auf Landkarten nicht zu finden ist. Ein Berg, der wie Bischofsberg und Rosenberg ein Hügel ist, eine der Rippen, die Walter Graf anschaulich beschreibt: „So gaht‘s wällewies durab“ – sanft fallend in Richtung Bodensee und Rheintal. Die Wellen geben dem Vorderland seine Südhänge und Weinberge. In Lutzenberg, Walzenhausen und Wolfhalden bauen derzeit acht Produzenten Wein an. Bis ins 14. Jahrhundert geht der Weinbau in Ausserrhoden zurück, auch in Heiden gab es ihn damals.

Über Langmoos nähern wir uns dem Ort wieder. Von hier aus wirkt es, als läge er ganz in einer Niederung. Doch der Dorfkern ragt im Norden hoch hinauf gleich einer Staumauer. Wäre nur noch die Enge beim Gstaldenbach zu verschliessen: Es entstünde wie in den Kinderfantasien Davide Tisatos ein grosser, tiefer See.

Obacht Kultur Nr. 22, 2015/2

„Wir erben – wir Erben“

Anita Zimmermanns künstlerischer Beitrag zur Kulturlandsgemeinde 2015

Leben bedeutet erben – in materieller Hinsicht ebenso wie geistig, kulturell und gesellschaftlich. Das Vorherige bricht mitunter kraftvoll in die Gegenwart, mitunter ist es nur noch in der Erinnerung einiger weniger Menschen verankert. Kann man dieses vielgestaltige Erbe in Bilder fassen? Anita Zimmermann lässt alle Motive zu. Die Künstlerin entwickelt ihre Zeichnungen gleich einem Strom von Bildern. Sujets ergänzen einander oder beginnen neue Assoziationsketten. Sie verzweigen sich und legen wieder neue Blickfährten. Die Vielfalt der Bilder und daraus erwachsenden Erzählstränge gleichen der Appenzeller Landschaft wie sie Anita Zimmermann beschreibt: «Unterwegs im Appenzeller Land gibt es alle vier Minuten einen Szenenwechsel».

Zeichnen ist bei Anita Zimmermann Konzentration auf das Wesentliche, auf die charakteristische Gestalt und Binnenzeichnung. Die Reduktion ist in den kreisrunden Gesichtern auf den Höhepunkt getrieben: Sie erinnern an die im elektronischen Nachrichtenverkehr verwendeten Emoticons und wirken doch ganz anders mit ihren Unregelmässigkeiten und Tropfspuren. Sie schauen verzagt oder fröhlich, resigniert oder mutig. Sie fallen oder steigen, schweben in der Fläche. Einzig der grosse Affe gibt ihnen Halt. Er hat sich eines auserwählt und greift vorsichtig nach dem Zweiten. Ist er fürsorglich oder forsch? Anita Zimmermann gibt keine Deutungen vor. Die Gesichter sind universale Zeichen für die Menschen: Auch wenn sie noch so verschieden sind, sind sie Früchte ein- und desselben Stammbaumes. Auch wenn sie einander noch so ähnlich sind, haben sie doch alle etwas Anderes geerbt. Es kann sich in äusserlichen Merkmalen manifestieren oder im Verhalten.

Seit einigen Jahren arbeitet Anita Zimmermann mit der Airbrush-Pistole auf grossen Formate und entwickelt die Bilder linear aus der Bewegung heraus. Als Bildträger verwendet sie Ausschusspapiere von Druckhintergründen der Textilfirma Jakob Schläpfer AG. Schwach sind die Stoffmuster noch sichtbar. Sie sind Überbleibsel des Vorherigen und Basis für das Neue. So wie die vorhandenen Muster und Farben das Bild durchdringen, so sind die ererbten Merkmale, Traditionen und Werte der Bodensatz auf dem das Individuum agiert.

Kurztext für Obacht Kultur, Sonderausgabe Kulturlandsgemeinde 2015

St.Gallen: Gerard Byrne

Mut zur Lücke mag für die internationalen Kunstgrossanlässe ein taugliches oder auch das einzig praktikable Konzept sein. Wer jedoch eine sorgfältig kuratierte monografische Schau besucht, geht die Sache gern anders an, versucht, ein möglichst vollständiges Bild zu erlangen. Gerard Byrne (*1969) durchkreuzt solche Ambitionen, und er tut dies so systematisch, dass sich Lücke und Vollständigkeit nicht ausschliessen. Seine umfangreiche Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen ist vom ersten bis zum letzten der sieben Räume durchchoreografiert. Von den Fotografien, dem Licht, den Sitzgelegenheiten, bis hin zur technischen Ausstattung, den Kabeln, Kopfhörern und Monitoren ist alles präzise gesetzt, auch die Projektionswände: Sie stehen schräg im Raum, sind gegeneinander gekippt und verkantet. Sie besitzen selbst skulpturale Qualitäten und sind so mehr als nur Folie für Byrnes Reflektionen über die dreidimensionale Kunst in den 1960er Jahren. In der Fünf-Kanal-Videoarbeit „A thing is a hole in a thing it is not“ wird die Minimal Art in nachgespielten Interviews, Performances, Ausstellungsrundgängen thematisiert. Die unterschiedlichen filmischen Herangehensweisen, das Re-Enactement und die Präsenz der Projektionen vermitteln die revolutionären künstlerischen Haltungen von Judd, Flavin und Co. Alternierend zeigt Byrne auf diesen Wänden die an der dOCUMENTA 13 in einem ehemaligen Hotel ausgestellte Arbeit „A man and a woman make love“. Auch hier ergibt das Kippen der Wände Sinn, geht es doch mit Erotik und Sexualität um einen fragilen Bereich menschlichen Zusammenlebens. Byrnes inszeniert die das Gespräch vierer Surrealisten und verbirgt die Instrumente der Inszenierung nicht.

In seinen Arbeiten lässt der Künstler kulturelle Kodes ebenso aufeinandertreffen wie Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Theater. Er erzählt Geschichte und Geschichten weiter, aber er präsentiert nicht einfach einen Bilderstrom, in den sich beliebig ein- und auftauchen lässt, sondern er konstruiert eine Narration über alle Werke hinweg. Die Videofilme beginnen und enden in einem vom Künstler gesteuerten Rhythmus, nie sind alle gleichzeitig zu sehen und manche auch während eines lang andauernden Ausstellungsrundganges nicht. Darin steckt in Zeiten omnipräsenter Bilder ein gewisses Frustrationspotential, aber genau hier liegt die Herausforderung der Ausstellung: Das Bild der Welt verlangt Partizipation, verlangt aktives Denken.

Bis 13. September 2015

http://www.kunstmuseumsg.ch

Vom Schwein haben und dem Ziegenproblem

Heute schon Glück gehabt? Oder war es Schicksal? Musste es ja so kommen? Die Ausstellung «Unwahrscheinliche Möglichkeiten» geht dem Zufall auf den Grund und untersucht seine Komplizen Erwartung und Fatalismus.

Der starke Wanja zieht in die Welt hinaus um Zar zu werden. Den Weg weist ihm ein Dreikopekenstück: Zahl links – Adler rechts; an jeder Kreuzung, jeder Weggabelung. Selten zaudert er, immer verlässt er sich auf den Silberdreier. Nach vielen Abenteuern ist es vollbracht, der Bauernbursche Wanja ist in der fernen Zarenstadt eingetroffen und wird der neue Zar Iwan Wassiljewitsch. Otfried Preußler verwob bekannte Märchenmotive zu einer bildstarken Erzählung, an deren Ende der Gute über das Böse siegt. Selbstverständlich. Doch wie hat Wanja den richtigen Weg gefunden? War es Glaube, Zufall oder Schicksal? Symbolisiert der Münzwurf von allem etwas? Oder ist das eine so hilfreich wie das andere? Die aktuelle Ausstellung in der Probstei St.Peterzell ist dem Zufall gewidmet und dröselt dabei auch das verzwickte Verhältnis zu seinen Geschwistern Glück und Vorsehung auf. Es fängt bereits mit dem Eintritt an: Der einen mag der Zufall hold sein und die beiden Würfel fallen günstig, der andere weiss schon im Voraus, dass er nie Glück hat in solchen Dingen und würfelt tatsächlich zweimal einen Sechser – pro Punkt wird ein Franken fällig.

Die Ausstellung (Konzept, Gestaltung, Ausstellungsaufbau: Ueli Frischknecht, Christian Hörler, Angela Kuratli und Daniela Stolpp) zeigt eindrücklich, wie gross die Rolle des Glaubens ist, auch wenn sie nicht religiös motiviert ist: denn «Uns Menschen liegt der Zufall nicht. Wir sind es nicht gewohnt, dass Dinge grundlos geschehen, ohne Ursache. Kaum auf der Welt, beginnen wir sofort, Zusammenhänge zu suchen und – falls nötig – auch aktiv herzustellen.» In prägnanten Texten wird das Thema von Rolf Bossart und Emil Müller von der philosophischen und naturwissenschaftlichen Seite her behandelt. Schrödingers Katze fehlt hier ebensowenig wie der Abzählvers oder das Ziegenproblem. Aber auch die Empirie kommt nicht zu kurz. So wartet ein einarmiger Bandit auf Kundschaft. Statt der Früchte und Symbole erscheint eine Farbabfolge im Sichtfenster des Spielautomaten. Die entsprechenden Farbpunkte dürfen an die Wand geklebt werden und so füllt sich die Wand nach vielen Spielen mit einer rein zufälligen Textur – ein echtes Zufallsprodukt im Gegensatz zu den von Computern generierten Pseudo-Zufällen. Rechner können eben nur rechnen. Zwei Fotografien von Bernard Tagwerker zeigen dies eindrucksvoll. Für beide Bilder wurde von einem Computer aus 100 000 Punkten eine vorher bestimmte Anzahl in mehreren Durchgängen ausgewählt und gedruckt. Wäre der Zufall ein echter, liesse sich kein Muster erkennen, so aber zeichnet sich ein diagonales Raster ab.

Aber wir Menschen können Zufälliges noch schlechter vortäuschen. Auch dies lässt sich in der Ausstellung überprüfen: Ein einfaches Computerprogramm erkennt mit grosser Treffsicherheit, ob eine Zufallsfolge von einem Menschen stammt oder echt zufällig erzeugt worden ist. Kein Wunder also, dass wir so gut darin sind, Wahrscheinlichkeiten zu negieren und Lotto spielen wider besseres Wissen, Flugangst haben, aber jeden Tag ins Auto steigen, rauchen, aber Angst haben vor Haiattacken.

Doch der Zufall kann auch schön sein, so schön wie Bernard Tagwerkers «Flawiler-Serie». Der Künstler kombinierte aus einer Palette von 235 Farben jeweils fünf zufällig ausgewählte nach dem Zufallsprinzip und druckte sie im Siebdruckverfahren jeweils in acht Durchgängen. Es ist im engeren Sinne der Ausstellung kein Zufall, 78 dieser Blätter hier neben- und übereinander zu sehen, aber dennoch ein Glücksfall. Selbstverständlich erfolgte auch die Hängung nach dem Zufallsprinzip und verführt nur umso mehr zur Suche nach Entsprechungen.

Theres Senn geht die Sache anders an. Ihre dreiteilige Arbeit mit «Newtons Wiege», «Wespenschaukel» und «Besen» reizt im Stil von Versuchsanordnungen, die Möglichkeiten gedanklich durchzuspielen: Was passiert, wenn… Bei Mina Monsef hingegen ist alles schon passiert. Ihre Fotografien aus der Serie «Random» zeigen alltägliche Orte mit mehr oder weniger kleinen, mehr oder weniger zufälligen Verschiebungen ins Ungewohnte. Auch die Schnappschüsse der Serie «Travelling by Car» dokumentieren nicht nur zufällig ausgewählte Aufnahmeorte, sondern dort auch das seltsame Zusammentreffen der Dinge, der Architektur, Stadtmöblierung, Vegetation und Strassensignalisation, die mehr als einmal zufällig anmutet. Solche unbeabsichtigt entstandenen Situationen lassen sich auch in St.Peterzell finden, am besten mit einem Zufallsspaziergang des Reisebüros ZündWerk: Die beiden Künstlerinnen Regula Pöhl und Daniela Villiger organisieren den Zufall und bieten im Rahmen der «Unwahrscheinlichen Möglichkeiten» kleine Reisen ins Ungewisse an.

Tagträumen im Gartenreich

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Kunst macht aus dem Weiertal einen Garten der Dinge. Surreales und Handfestes von 30 Schweizer Kunstschaffenden begegnet sich hier.

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„Dinge von denen wir nicht wissen ob es sie auch gibt“, „Dinge die unser Leben verändern“; „Dinge die uns verfolgen“; Dinge, hinter denen sich Gedanken, Geschichten, Vermutungen verbergen; Dinge, die dem Alltag entstammen oder so weit von ihm entfernt sind, dass sie einem Traum entsprungen scheinen, einem „Sommertagtraum“ vielleicht. Er steht als Motto über der diesjährigen Skulpturen-Biennale Weiertal. Nur schon der Idylle des Weiertales mutet in diesen heissen Sommertagen etwas Träumerisches an. Wenige Kilometer entfernt von Häuserzeilen, Strassenverkehr und Stadtrummel plätschert der Rumstaler Steinbach durch eine Streuobstwiese, umgeben von kleinen Waldstücken, Feldern, alten Gehöften. Eines davon nutzt der Kulturort Galerie Weiertal für seine alle zwei Jahre stattfindende Skulpturen-Ausstellung. Der Skulpturbegriff ist weit gefasst, genauso wie das Leitthema.

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Alex Hanimanns Textarbeit unter dem Dach der ehemaligen Scheune ist der passende Einstieg. Sie generiert immer neue „Dinge“-Aussagen und betont mit jedem Satz die Existenz des Dinglichen und unterwandert diese Feststellung zugleich. Ob lebensverändernd, ob nebensächlich, ob im Dunkeln, ob gut oder dumm, die Dinge sind gedacht, sie entspringen der Imagination. Die Vorstellungskraft ist angeregt, der Rundgang durch die Traumwelt des Gartens kann beginnen. Zuvor wird auch das letzte motorisierte Fahrzeug noch demoliert, dass hier die linde Luft verpesten könnte, Etienne Krähenbühl hat einen Meteor darauf hernieder saussen lassen. Wenige Schritte weiter atmen zwei Lungenflügel schwer, Container nehmen ihnen den Raum und sind ihnen zugleich Herberge – die Globalisierung ist mit Carlo Borers Arbeit im Grünen angekommen. Ein rotes Segel von Matthias Merdan bläht sich, Metallplatten von Daniel Meili und Bruno Lötscher wogen überm Gras oder rosten in Reto Bollers Arbeit langsam dahin.

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Poetisch wird es mit Not Vitals silberfarbener Lotusknospe und Teres Wydlers duftendem Riesenkokon. Unweit davon gelbgrüne Polyurethanschaumgeschwüre von Judith Villiger – in die Süsse des Traums mischt sich immer wieder das Unheimliche, das Giftige oder wie bei Manon das Explizite. Die Künstlerin lässt fleischfarbene Penispilze spriessen. Darüber hin summen die Bienen und Wespen machen sich übers Fallobst her. Das Paradies gärt. Elisabeth Eberles verbotene Früchte sind vom Baum gefallen, wollen nicht berührt werden und wollen es doch, dann aber färben sie die Hände schwarz. Anderswo begehren seltsame Wesen Einlass. Eine Hasenfrau etwa oder ein Waldurp. Es gibt ein Wiedersehen mit Beni Bischofs wippendem Clown, erstmals 2010 in der Kunst Halle Sankt Gallen ausgestellt. Hier unter blauem Himmel, zwischen Löwenzahn und Klee entfaltet der Zivilisationskitsch besonders intensive Wirkung. Leisere Töne schlägt Ursula Palla an, deren Videoinstallation mit Putte im Unterolz versteckt ist und Realität und Fiktion vermischt. Auch Esther Mathis Arbeit ist leicht zu übersehen, aber findenswert. Spiegel im Weiher lassen die Wasseroberfläche zusätzlich glitzern als wären kleine Sterne ins trübe Nass gefallen. Christian Gonzenbachs skelletiertes Dromedar im Nachbarteich entfaltet da eine ganz andere, oft fotografierte Präsenz.

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„Dinge die uns gut tun“, die mal mehr, mal weniger berühren. Und wenn es gar nicht klappt zwischen Werk und Publikum, wenn sie überhandnehmen, die „Dinge die uns nerven“ wäre da noch die Kunstsammelstelle von Martin Gut. Hier kann zweidimensionales oder dreidimensionales Kunstgut für die fachgerechte Entsorgung deponiert werden, nicht ohne Hinweis auf die korrekte Einwurfzeit, denn selbstverständlich darf es an Sonn- und Feiertagen nicht scheppern.

Bis 13. September, http://www.skulpturen-biennale.ch/

Textil Transformation Trinkwasser

Andrea Vogel ist unterwegs. Jenseits ihres Ateliers erforscht die Künstlerin die Atmosphäre von Räumen und Orten und filtert deren Besonderheiten heraus. Mit ihren Werken reagiert sie auf vorgefundene Stimmungen, Gegenstände oder auch auf Hindernisse.

Andrea Vogel entwickelt zufällig Aufgespürtes in ihren Arbeiten weiter. Bekannten Dingen verleiht die Künstlerin neue Bedeutung. So werden mit «Rosarock» ausgediente Marmeladengläser luftgefüllt zu Schwimmblasen. Einem alten Bilderrahmen entwachsen schwarze, dicht übereinander hängende Fransen, so wird er zum Porträt eines artifiziellen Schopfes. Oft arbeitet Vogel dabei mit Gegensätzen, tauscht Fülle gegen Leere, Zwei- gegen Dreidimensionalität oder spielt mit den Grössenverhältnissen wie ihrem zweieinhalbfach vergrösserten Wäschetrockner aus Stahl.
Andrea Vogel verwandelt, transformiert. Sie entwickelt aus dem Aneignungsprozess heraus dauerhafte Objekte, temporäre Installationen oder Performances.
Eine grosse Rolle spielt dabei immer wieder das Textile. Andrea Vogel setzt sich mit der Welt der Mode ebenso auseinander wie mit zeitgenössischen textilen Materialien und den Möglichkeiten durch Schnitt und Stoff eines Kleidungsstückes gesellschaftliche Aussagen zu treffen oder die Trägerin in diesem Sinne zu verwandeln. Stoff besitzt dabei skulpturale Qualitäten, wird aber immer wieder auch in seiner Funktion als Farbträger wahrgenommen. Wenn Andrea Vogel etwa ein weisses Kleid trägt und es im Rahmen einer Performance mit ausfliessender blauer oder pinkfarbener Tinktur benetzt, so wird nicht nur das zuvor makellose Stück fleckig, sondern die Künstlerin wird selbst zur Leinwand einer zufallsdominierten Malerei.
In der Performance «Laufsteg» beschreitet Andrea Vogel mit einem eng geschnittenen weissen Kleid und in Stilettos einen Parcours aus Altreifen, Brettern und sonstigen Fundstücken in einer alten Fabrikhalle: «Laufsteg» ist ein Balanceakt nicht nur im wörtlichen Sinne. Die Künstlerin lotet die Grenzen zwischen Anmut und Stolpern, zwischen Schönheit und Gefahr aus.
Auch das Vergängliche spielt eine wichtige Rolle in Andrea Vogels Werk. So hat sie für ihre Installation «Stäubungen» Mehl auf den grauen Boden des ehemaligen Ausstellungsraumes exex in St.Gallen gestäubt. Muster und Konturen gleichen denjenigen zarter Stickereien und betonen deren ephemeren Charakter. Vergänglich sind auch die zahlreichen Arbeiten der Künstlerin mit Wasser. Es ist ein wiederkehrendes Element, dass sehr unterschiedlich genutzt wird. Andrea Vogel schätzt insbesondere die performativen Qualitäten des Wassers, seine Dynamik, Kraft und stoffliche Eigenart. Wasser durchdringt die meisten Textilien, breitet sich aus, rieselt, tropft, es verursacht Geräusche und Farbveränderungen. Zugleich verwendet die Künstlerin es in seiner metaphorischen Bedeutung und als Stellvertreter für andere, zum Beispiel dem Körper entstammende Flüssigkeiten. So lässt die Künstlerin Wasser an sich herunterlaufen, zerplatzt am Körper getragene, wassergefüllte Säcke, so dass sie sich vollständig entleeren. Während des dreimonatigen Atelierstipendiums des Kantons St.Gallens in Rom lief die Künstlerin mit wassergefüllten Plastiktragetaschen durch eine belebte Einkaufsstrasse der Stadt. Die Tragetaschen hatten ein Loch, so dass ständig Wasser herauslief.
Es hinterliess eine temporäre Spur in der Stadt leere Tragetaschen. «VIA CONDOTTI» konnte im Kontext der Konsummeile vieldeutig interpretiert werden. Hier wie in allen anderen Performances tritt die Künstlerin selbst auf. Es geht ihr jedoch weniger um eine Selbstinszenierung oder um das vordergründige Spiel mit Weiblichkeit, sondern darum, Erwartungen, Klischees und gesellschaftlichen Normen auszuloten. Das gilt auch für den 2013 eingeweihten Trinkbrunnen Andrea Vogels. Stellvertretend für ihre Person steht ein Bronzeabbild der Künstlerin im St.Galler Quartier Rotmonten. Durch den Mund der Plastik ergiesst sich in Richtung der Passantin oder des Passanten ein gezielter Wasserstrahl. Die Künstler speit das Wasser nicht, sie spendet es ganz in der Tradition der jahrhundertelang so wichtigen öffentlichen Brunnen. Da der Strom per Bewegungssensor aktiviert wird, verwandelt sich der Trinkwasserspender ins Lebendige.
Diesen Ansatz nimmt Andrea Vogel in ihrer jüngsten Performance „Sculpture Massage“ wieder auf: Sie massiert eine weibliche Bronzefigur im öffentlichen Raum und nimmt damit das Körperliche der Plastik wörtlich, lenkt die Aufmerksamkeit auf deren Nacktheit und hinterfragt die Rolle der zeitgenössischen Kunstschaffenden im Umgang mit der Präsenz der Werke früherer Künstlergenerationen. Einmal mehr erweist sich Andrea Vogels Arbeit als spielerisch, mehrdeutig und hintersinnig.

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