Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Nebel und Klang

Peter Zumthor hat das Kunsthaus Bregenz als Leuchtkörper zwischen Berg und See konzipiert. Die Britin Susan Philipsz deutet ihn zusätzlich als Resonanzraum und erweitert die räumliche Verbindung bis jüdischen Friedhof in Hohenems.

„Man braucht ein Volk ohne falsche Töne. Ohne inneren Zwist.“ Ruhig gesprochen, eine einfache Feststellung, ins Deutsche übersetzt von Paul Celan. Seine poetische Sprache begleitet die deutsche Fassung von Alain Resnais´ Film „Nuit et brouillard“ über die Konzentrationslager der Nazis. Wer anders tönte, ob laut, ob leise, ob in Gedanken oder Einstellungen, wurde aussortiert, deportiert, vernichtet. Besondere Töne, individuelle Töne, eigenständige Töne waren unerwünscht.

Susan Philipsz interessieren die einzelnen Töne und ihr Zusammenklang. Die schottische Künstlerin, Preisträgerin des renommierten Turner-Preises, arbeitet seit langem mit Musik und Stimme, oft ihrer eigenen. Sie entwickelt Klangskulpturen, die weit über das tönende Objekt hinausgehen. Die Werke entstehen oft für einen bestimmten Ort, für eine Landschaft, den Stadtraum und Gebäude. Aktuell hat Philipsz das Kunsthaus Bregenz in einen Klangkörper verwandelt. Basis ihres Ausstellungskonzeptes ist Hanns Eislers Komposition für Resnais´ Film. Der österreichische Komponist war im Exil in den Vereinigten Staaten gewesen, wurde 1949 ausgewiesen und kehrte nach Europa zurück. Hier erreichte ihn 1955 Resnais´ Einladung, die Musik zu „Nuit et brouillard“ zu schaffen. Eisler illustrierte oder verdoppelte filmische Inhalte nicht einfach, sondern fügte dem Thema mit der Musik eine neue Ebene hinzu. Philipsz isoliert nicht nur die Musik – der Film wird der Vollständigkeit halber im Erdgeschoss des Kunsthauses gezeigt –, sondern auch die einzelnen Töne. Zwölf Lautsprecher hängen in jedem der vier Stockwerke des Zumthor-Baus, so viele wie eine Tonleiter Töne hat. Aus jedem Lautsprecher erklingt ein separat eingespielter Ton, pro Stockwerk mit einem anderen Instrument. Beim Gang durch das Kunsthaus beginnen die einzeln instrumentierten Töne miteinander zu klingen. Da sind Basslarinetten aus dem Erdgeschoss zu hören, Violinen aus dem obersten Stockwerk, hinzu kommen Hörner und Trompeten aus dem zweiten Obergeschoss, danach Stille und wieder Tonreihen. So entsteht Musik. Im Treppenhaus durchdringt sie das ganze Haus. Hier, an dem Ort, wo für gewöhnlich wenig bis keine Kunst von der Architektur ablenkt, schlägt die Hauptader der Ausstellung. Oder, um einen Vergleich der Künstlerin aufzunehmen: Hier strömt die Atemluft. Der Lufthauch ist in Fotografien festgehalten und bildet zugleich die Brücke zum „Nacht und Nebel“-Titel der Ausstellung. Denn nicht nur Resnais´ Film und Eislers Musik sind zentrale Punkte für Philipsz, sondern auch die transluzente Haut des Kunsthauses. Peter Zumthor liess sich vom Licht des Bodensees inspirieren, von den Dunstschleiern über dem Bodensee und den Reflexen auf der Wasseroberfläche. Philipsz setzt das Atmosphärische des Nebels in Analogie zum Verschwinden, zur Abwesenheit und den Unschärfen der Erinnerung. Die Ausstellung umfasst weitere Werke zu Eislers Leben und Kompositionen sowie Fotografien von im Kriege zerstörten Musikinstrumenten. Während diese Additionen eine weniger schlüssige Ergänzung der Ausstellung bilden, ist die Verbindung zum jüdischen Friedhof Hohenems eine grosse Bereicherung. Hier erklingt, 20 Kilometer entfernt vom Kunsthaus, ein fünftes Segment der zerlegten Eislerschen Komposition. Über zwölf Lautsprecher in den Baumwipfeln beim 400 Jahre alten jüdischen Friedhof werden Flötentöne abgespielt. Isolierte Klänge auch hier, die sie einem grossen Ganzen gehören. Susan Philipsz bringt nicht nur die Töne, sondern auch die Orte zueinander.

Nebel und Klang

St.Gallen und Vaduz: Heimspiel

Es gibt lokale und regionale Jahresausstellungen – und es gibt das Heimspiel. Alle drei Jahre findet es statt und hat mit der aktuellen, zwölften Ausgabe einmal mehr eine neue Form erhalten: Die Zahl der beteiligten Institutionen wurde verdoppelt. Zu Kunstmuseum St.Gallen und Kunst Halle Sankt Gallen, die beide zum fünften Mal Heimspielgastgeber sind, sind neu das Kunstmuseum Liechtenstein und der Kunstraum Engländerbau in Vaduz hinzugekommen. Beibehalten wurde der Auswahlmodus. Bewerben konnten sich Künstlerinnen und Künstler mit Bezug zu den beiden Appenzell, zu den Kantonen St.Gallen und Thurgau, dem Fürstentum Liechtenstein sowie dem Land Vorarlberg. Eine Jury wählte knapp 80 Kunstschaffende aus den über 400 Eingaben aus. Viele davon kommen eigens für die Ausstellung in ihre Heimat zurück. Sie leben inzwischen in Wien, Berlin, Düsseldorf, Leipzig, Basel, Paris oder Zürich und sind meist mangels Ausbildungsmöglichkeiten aus der Ostschweiz weggezogen. Das Heimspiel ist bewusst offen für solche Lebensläufe und pflegt damit die Anbindungsmöglichkeiten an die Herkunftsgegend. Es bietet einen abwechslungsreichen Überblick über das aktuelle regionale Kunstschaffen mit befruchtenden Einsprengseln von anderswo.

Bis 21.2.

www.heimspiel.tv

Vögele Kultur Zentrum – i.ch – wie online leben uns verändert

Wie stark können Realität und Virtualität verschmelzen? Wann ist Privates noch privat? Können wir die Grenzen jederzeit selber ziehen? Viel wird geschrieben über die Präsenz in digitalen Netzwerken, über Datenschutz und dessen Unterwanderung, über neue Konsumgewohnheiten und verändertes Beziehungsverhalten. Im Vögele Kultur Zentrum in Pfäffikon füllen die jüngsten Zeitungsartikel zu diesen Themen einen dicken Ordner. Sie belegen einerseits die Vielfalt der Sichtweisen, denen das Schwarzweiss des Ausstellungsdesigns nicht entspricht. Andererseits zeigen sie den Anachronismus einer Ausstellung, die der Onlinewelt gewidmet und doch in grossen Teilen offline angelegt ist. Daran ändert auch der mobile «VKZ eGuide» wenig. Vieles bleibt statisch, wirkt belehrend oder lässt wenig eigenen Erfahrungs- und Interpretationsspielraum. Die Videointerviews mit sogenannten Digital Natives, deren Eltern und Lehrern bringen ebenso wenig neue Erkenntnisse wie eine Übersicht von Sprachkürzeln aus Chats oder elektronischen Kurznachrichten. Immerhin verbirgt sich in der Ausstellungsgestaltung eine Schnittstelle zur mobilen Technik: Die CR-Codes liefern nicht nur das schwarzweisse Raster, sondern enthalten weiterführende Informationen zum Thema. Zudem funktioniert das Gästebuch auf der Basis dieses Codes.

Ein Merkmal der Ausstellungen im Vögele Kultur Zentrum ist das Miteinander der Disziplinen. Dokumentarisches, reproduziertes Video-, Text- und Bildmaterial ist angereichert mit Alltagsobjekten und Kunstwerken. Letztere behandeln wichtige thematische Aspekte wie versteckte Datenspeicherung, das Konstruieren neuer Identitäten oder das Verlangen mancher Menschen, ihr Leben so detailliert wie möglich zu dokumentieren. Besonderes Augenmerk verdient die Arbeit «need ideass!?! PLZ!!» von Elisa Giardina Papa. Sie zeigt eine Collage aus YouTube-Videos junger Menschen auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Gemessen wird der Erfolg an der Anzahl Kommentare oder «Follower» für ein Video oder einen Videokanal. Die Jugendlichen bieten an zu tanzen, zu singen, Anleitungen zu geben, alles Erdenkliche zu tun, was dem potentiellen Publikum gefallen könnte, oder einfach zu reden. Bloss worüber? Die Technik ist vorhanden, aber die Inhalte fehlen. Als Teil der digitalen Gemeinschaft wahrgenommen zu werden, klappt eben doch nur, wenn die Verbindung zum realen Leben steht und produktiv genutzt werden kann.

bis 20. März 2016

Andrea Vogel – Behind That Curtain

Die Textilindustrie hatte eine grosse Blüte und eine grosse Krise. Das Bewusstsein darum ist in St.Gallen allgegenwärtig und verdrängt mitunter den Blick für die Gegenwart. Die Stickerei ist nach wie vor und vor allem international ein Wirtschaftsfaktor. Aber auch der Kunst bietet sie ein spannendes Handlungsfeld, für diejenigen, die damit umzugehen wissen. Die Vergangenheit muss dafür nicht ausgeblendet werden, im Gegenteil. Andrea Vogel hat ihre monografische Schau im Kulturraum am Klosterplatz auf der Basis der Recherchen Jolanda Spirigs erarbeitet. Spirig zeichnet in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Sticken und Beten“ die Geschichte der Stickereidynastie Jacob Rohner nach. Sie entwirft das Porträt einer streng katholischen Familie mit besten Beziehungen ins päpstliche Rom, mit arrangierten Ehen, wirtschaftlichem Kalkül und strengem Angestelltenregime. Vogel gelingt es, die gut verwobenen historischen Fäden aufzunehmen und ebenfalls zu einer stimmigen Inszenierung zu verbinden. Das Gerüst dafür ist ein reales: Die Künstlerin (*1974) hat ein Baugerüst über einem klassischen Kirchengrundriss aufgestellt. Auf den Stangen des Gerüstes, in seiner Mitte, auf den Laufbrettern sind die Werke so platziert, dass sie sowohl für sich genommen als auch als grosses Ganzes funktionieren. Mit Gazebahnen ist das chorähnliche Halbrund dreifach verhängt. Die Gaze ist als Stickereigrundstoff und Verbandsmaterial anspielungsreich gewählt. So hatte Jacob Rohner zur Zeit des ersten Weltkrieges das Exportverbot für verarbeitete Baumwolle umgangen, indem er einfache Stickereien auf die Bahnen aufbrachte und infolge dessen seinen Umsatz vervielfacht. Die Gaze ist transparent, doch der Moiré-Effekt der sich überlagernden Raster und die aufgesprayten Farbflächen lenken den Blick ab. Die grossformatige Videoprojektion fängt ihn wieder ein: Vogel verwandelt ihren Atelierflur in einen Laufsteg. Um ihren Leib trägt sie einen alten Stickrahmen, dessen Fuss ihr bei jedem Schritt gegen die Ferse schlägt. Doppelsinn also auch hier ebenso wie bei den Videoprojektionen auf die leeren Seiten eines Fotoalbums oder in einen Transportbehälter hinein. Nach dem Rundgang lohnt sich ein Abstecher ins Textilmuseum St.Gallen. Einerseits werden dort die Blütezeiten der Stickerei dokumentiert, andererseits entsteht an der Handstickmaschine eine Edition der Künstlerin. Zudem sind weitere Kunstschaffende mit eigens entwickelten Einzelwerken präsent.

Ausstellung im Kulturraum am Klosterplatz und im Textilmuseum St.Gallen, bis 31. Januar 2016

Lesegesellschaften – aktuelle Bedeutung und Aktivitäten

Wann ist eine Lesegesellschaft noch eine Lesegesellschaft? Sind Lesegesellschaften zugleich Quartiervereine? Oder Kulturvereine? Sind sie politisch wirksam oder nur als Lesemappenverteiler aktiv? Haben alle Lesegesellschaften etwas gemeinsam? Der Gemeinsamkeiten sind nicht viele, selbst wenn die unterschiedliche inhaltliche Ausrichtung ausgeblendet wird. So gibt es grosse Vereinigungen mit 200 Mitgliedern und kleine mit knapp 30 Mitgliedern. Viele haben eine lange Geschichte, es gibt jedoch auch jüngere Gründungen oder solche, die ihre Arbeit nach längerer Unterbrechung wieder aufgenommen haben. Manche gewähren ihren Mitgliedern Rabatt auf die Eintrittspreise, bei anderen wiederum wird kein Eintritt erhoben, dort ist die Jahresgebühr der einzige finanzielle Beitrag. Ein recht hoher Altersdurchschnitt wird bei vielen Lesegesellschaften wahrgenommen, bei manchen sind regelmässig auch unter 40jährige im Vorstand.

Wie also lassen sich die Lesegesellschaften fassen? Am besten vielleicht in ihren Ausnahmen. Da wäre zum Beispiel die Lesemappe. Nur ein Einziger hat sie zum Treffen in der «Krone» in Gais mitgebracht: Max Frischknecht, seit 20 Jahren Präsident der Lesegesellschaft Bissau in Heiden. Hier hat die Lesemappe überlebt, vielleicht hat dies ein wenig mit Nostalgie zu tun, viel mehr aber mit aktiver Kontaktpflege in der Nachbarschaft. Und doch ist das Weitergeben des durch die Mitglieder abonnierten Lesestoffes bei weitem nicht die Hauptaktivität der Lesegesellschaft. Wichtiger ist das politische Engagement.

Früher gab es in Heiden vier Lesegesellschaften. Aus der einen ist die SVP hervorgegangen, aus einer anderen die FDP, eine hat sich aufgelöst, nur in der Bissau arbeitet die Lesegesellschaft weiter, nicht parteilos, sondern parteiunabhängig. Man trifft sich jeweils vor kantonalen, Bundes- oder Gemeindeabstimmungen. Ziel ist es, eine Parole zu beschliessen und zu veröffentlichen. In der Lokalpolitik hat die Stimme der Lesegesellschaft Bissau Gewicht, ob es um die Erneuerung der Turnhalle Gerbe geht oder die Umgestaltung des Kurparkes. Auch bei Vakanzen im Gemeinderat engagiert sich die Lesegesellschaft, so Frischknecht: «Wir sind alle froh, wenn wir gute Leute für die Aufgaben im Gemeinderat finden, unabhängig von den Farben. Wir reden offen miteinander, gehen aktiv auf geeignete Personen zu.» Verantwortung übernehmen, einen Beitrag leisten, dass ist die Botschaft der Lesegesellschaft auch an potentielle Mitglieder: «Zu uns kommen die, die sich nicht politisch binden, aber in der Gemeinde politisch betätigen wollen. Aber sie müssen aktiv angeworben werden, niemand ist einfach so gekommen.»

Das passt ins geografische Bild: Die Lesegesellschaften im Vorderland sind stärker politisch engagiert als jene im Mittel- und Hinterland. Aber auch in diesem Punkt gibt es Ausnahmen. Etwa im Saum, Herisau. Wie in der Bissau agiert die Lesegesellschaft kompromisslos politisch, und zehn Tage vor jeder Abstimmung findet eine Versammlung statt. Präsident im Saum ist Ernst Knellwolf. Der Biobauer ist erst seit drei Jahren dabei und seit einem Jahr Präsident, aufgrund einer «Erbkrankheit» so Knellwolf: Auch sein Vater war Präsident. Engagiert hat jener seine Meinung vertreten. Als der Sohn aufgefordert wurde, es dem Vater gleich zu tun, zögerte er nicht lange: «Ich will hier meine Rolle spielen.» In der Lesegesellschaft ist dies möglich, ohne in die Politik zu gehen oder in den Einwohnerrat. Ohnehin hat Knellwolf ein gespaltenes Verhältnis zu Herisau, ist aber stark verbunden mit dem Saum. Im Saum steht der elterliche Hof, Saum ist das Dorf. Und es wächst: «In den letzten Jahren ist eine neue Siedlung entstanden. Das ist eine eigene Welt. Die dort wohnen, wollen wir gern bei uns haben.» Neue Mitglieder gibt es bereits, und dies ist für die Lesegesellschaft wichtig, denn ein Drittel sind Ehrenmitglieder, eine Auszeichnung, die ab 30 Jahren Mitgliedschaft erteilt wird.

Aber wodurch ist eine Lesegesellschaft für neue Mitglieder attraktiv? Eine Motivation ist die Verbundenheit im Quartier, eine andere der Austausch und gemeinsame Umgang von Menschen mit verschiedenen politischen Meinungen. Auch im Saum ist die Lesegesellschaft auf Augenhöhe mit den Parteien. Und in Rehetobel hat sie sogar stärkeres Gewicht als jene, so der Historiker Michael Kunz: «Die drei Parteien im Dorf fühlen sich weniger für das dörfliche Gemeinschaftswesen verantwortlich als die Lesegesellschaften. Fast der gesamte Gemeinderat von Rehetobel ist in der Lesegesellschaft.» Zurück also ins Vorderland, wo die Lesegesellschaften dafür bekannt sind, die sachpolitische Diskussion zu fördern und ein unabhängiges Forum für politische Meinungsbildung zu sein. Die Lesegesellschaft Dorf – eine von vier in Rehetobel – steht auf drei Pfeilern, die im Logo durch drei Punkte symbolisiert sind: Kontakte pflegen, Meinung bilden und Kultur geniessen. Die Besonderheit dabei: Jedes Jahr steht unter einem Motto. 2013 hiess es «Heimat», 2014 «Dialog» und 2015 «sagenhaft». Die Unterhaltung kommt dabei nicht zu kurz. In der Lesegesellschaft Lachen-Walzenhausen ist sie kein Vereinsziel und doch wird im Wechsel zu politischen und kulturellen Anlässen eingeladen, wie Präsident Hans-Ulrich Sturzenegger betont: «Wir sind politisch und kulturell aktiv, aber statt den früheren Appenzeller Abenden veranstalten wir Lesungen oder historische Vorträge beispielsweise zu Flurnamen».

Sturzenegger ist erst seit anderthalb Jahren im Amt und bedurfte als Nichtortsansässiger einer Sondergenehmigung: «Ich wohne seit fast 40 Jahren in Herisau, und die Statuten sahen vor, nur wer in Lachen wohnt, darf Mitglied der Lesegesellschaft werden. Es sei denn, der Vorstand stimme zu; so ist es bei auswärtigen Präsidenten immer noch.» Früher hätte man Mitglied werden müssen, um überhaupt mitdiskutieren zu dürfen. Jetzt kommen 40 bis 50 Personen an die Versammlungen und die Hälfte davon sind Gäste. Das grosse Interesse liegt am politischen Engagement und der offenen Informationskultur der Lesegesellschaft: «Wir geben keine Parolen heraus, stehen aber bei Gemeinderatswahlen in Kontakt mit den Parteien. Bei der letzten Kantonsratswahl haben wir ein Podium organisiert, da Walzenhausen für zwei Sitze drei Kandidaten stellte.» Die Lesegesellschaft behandelt zudem lokale, sachpolitische Themen: «Die Gemeinde informiert selber und dies sehr gut, wenn aber etwas zu wenig diskutiert werden konnte, springt die Lesegesellschaft ein.» Lachen-Walzenhausen ist eine der wenigen Lesegesellschaften mit guter Altersdurchmischung. Bereits im vorherigen Vorstand waren zwei Mitglieder zwischen 30 und 40, das ist jetzt wieder so.

Was in Lachenhausen-Walzenhausen mit Politik funktioniert, erreicht die Kulturbühne Gais mit Kultur und mit ihrem Namen. Nachdem es sie ein knappes halbes Jahrhundert nicht mehr gegeben hatte, wurde sie als Neue Lesegesellschaft Gais wiedergegründet. Bald zeigte sich, dass Neuzugezogene mit dem Namen wenig anfangen konnten. Daher wurde an der Mitgliederversammlung vor zwei Jahren eine Projektgruppe mit der Namenssuche betraut. «Kultur» und «Bühne» bewähren sich: Zu den 150 Mitgliedern sind nach der Umbenennung 50 Neue hinzugekommen, darunter auch jüngere Jahrgänge. Ulrich Scherrmann ist seit 4 Jahren dabei und amtet als Aktuar und Presseverantwortlicher: «Unser Programm soll abwechslungsreich und attraktiv für Familien sein. An die Neuzugezogenen richtete sich besonders die geführte, vierteilige Wanderung rund um Gais.» Stimmungsvolle Anlässe runden das Programm ab: Im kommenden Jahr sind beispielsweise ein Nachtwächterrundgang und ein Vollmondkonzert am Gäbrisseeli geplant. Die Ideen stammen aus dem eigenen Erfahrungsschatz der Vorstandsmitglieder. Der zweite Filter sind die Abklärungen mit den Kulturschaffenden: Wie hoch ist die Gage? Welche Anforderungen an die Technik und das Licht werden gestellt?

In der Regel wird an den Veranstaltungen eine Kollekte gesammelt. Nur bei hohen Gagen wird ein Eintritt erhoben. Mitglieder erhalten Rabatt, Ausweise benötigen sie dafür nicht; auch in grossen Lesegesellschaften kennt man einander. Die gute Nachbarschaft funktioniert sogar über die Gemeindegrenzen hinweg. Die Lesegesellschaften Gais und Bühler haben bereits zu gemeinsamen Veranstaltungen eingeladen. Damit sind sie eine Ausnahme unter den Lesegesellschaften.

In Bühler sind die Mitglieder hauptsächlich über 60 Jahre alt und viele mehr als 20 Jahre dabei. Präsidentin Simone Tischhauser kam 1972 nach Bühler und ist damals bereits in die Lesegesellschaft eingetreten: «Ich kam frisch verheiratet aus Amerika und wollte mich im Dorfleben integrieren.» Heute sind vor allem die älteren Menschen dankbar für den «Dienst am Dorf». Sie sind das Hauptpublikum der sechs kulturellen Anlässe pro Jahr und in der gut geführten Bibliothek in der Zivilschutzanlage im Gemeindekindergarten. Über eine Namensänderung wurde in Bühler nachgedacht, aber man blieb beim Bewährten, auch wenn es sich nicht allen selbst erklärt. Letzteres ist bei der Casinogesellschaft Herisau ähnlich. Hier wird nicht dem Glücksspiel gefrönt, sondern dem Kulturgenuss und dies auf hohem Niveau. Die Kammerkonzerte haben sich in regional etabliert. Dies liegt einerseits an der musikalischen Qualität der europaweit tätigen Ensembles, andererseits an der adäquaten Atmosphäre im kleinen Saal des Casinos: «Hier lässt sich die Essenz eines Chopin-Klavierwerkes in stärkerer Intensität erleben als in einem grossen Konzertsaal.» so Präsidentin Suzanne Buchmann.

Die Ensembles kommen gern nach Herisau, denn sie werden herzlich empfangen und individuell betreut, genauso wie die Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters St.Gallen, wenn sie in Herisau Lesungen bestreiten. Das Programm gestaltet die Literaturgruppe nach persönlichen Vorlieben. Das grosse Engagement des Vereins führt zwar nicht zu Neuanmeldungen, aber viele Gäste kommen regelmässig. Nur bei den Ausflügen der Gruppe KulturElle bleiben die Mitglieder meist unter sich, hier wirken die soziale Komponente und der unmittelbare Kontakt zu den Pensionierten. Für sie bieten die Lesegesellschaften mit ihrem Angebot vor Ort ein entscheidendes Plus, das stellt auch Peter Abegglen, Präsident der Sonnengesellschaft Speicher, fest: «Die Hemmschwelle, an Veranstaltungen im Dorf zu gehen, ist niedriger. Die Leute kommen eher zu Laura Vogt in Speicher statt zu Pedro Lenz in der Stadt.» In Speicher zeigt sich die philanthropische Haltung der Lesegesellschaft auch im Unterstützungsfond beispielsweise für Ausbildung. Abegglen ist als ehemaliger Lehrer sehr interessiert daran, Wissen und Kultur unter die Leute zu bringen. Stolz klingt mit, wenn er von WikiSpeicher, der Online-Wissensplattform berichtet. Sie wurde initiiert von der Sonnengesellschaft und überführt das kulturelle Gedächtnis ins Heute: «Digitale Wirklichkeit und das reale Leben laufen zusammen.» WikiSpeicher verlangt Partizipation und ist ein Wissensspeicher – sozusagen die Lesemappe der Gegenwart mit Zusatzfunktion. So lässt sich Geschichte weiterschreiben.

Obacht No. 23 | 2015/3

Bibliothek Hauptpost – mehr als bibliothekarische Grundversorgung

Woran ist eine Bibliothek zu erkennen? In ihrem Inneren sind die aufgereihten Bücher das charakteristischste Merkmal. Aber von aussen? Die einhundertjährige Hauptpost St.Gallen, früher genutzt als Telegrafen-, Telefon- und Briefsortierzentrale, ist neu Standort der Bibliothek Hauptpost. Im wuchtigen Bau, umhüllt von einem historisierenden Gewand aus flach bossierten Sandsteinquadern, wurden von Stadt und Kanton St.Gallen über 1´800 Quadratmeter in ein Provisorium für Bücher, Lesende, Forschende, Bibliothekarinnen und Bibliothekare umgebaut. Angelegt ist es auf zehn Jahre, dann soll die gemeinsame Publikumsbibliothek entstehen.

Hoch oben über den Köpfen der Passantinnen und Passanten schweben fünf goldene Bücher. Aufgehängt an ausgedienten Fahrleitungen in der Gutenbergstrasse sind sie das erste Zeichen für die Bibliothek. Das zweite befindet sich auf Augenhöhe seitlich des östlichen Gebäudeeingangs. Weiss auf dunkler Bronze locken hier kurze literarische Sequenzen, gastronomische oder programmatische Hinweise, denn die Bibliothek bietet auch Raum für Lesungen oder Ausstellungen, Raum zum Verweilen, für Begegnungen und Gespräche. Als ein Knotenpunkt der Gesellschaft ist die neue Publikumsbibliothek in der Hauptpost mitten in der Stadt am richtigen Platz. Der städtebaulich-architektonisch wohlproportionierte Bau wurde von 1911 bis 1914 für die Schweizerische Post errichtet und ist im Inventar der schützenswerten Bauten aufgeführt. Dies war der eine Grund dafür, die baulichen Massnahmen gering zu halten. Der andere: Der Kanton als Eigentümer wird das Gebäude in zehn Jahren grundlegend sanieren. Deshalb werden bestehende Strukturen und Installationen vorerst weitergenutzt – einen eigenen Charakter entfaltet das Provisorium trotzdem.

Das Atelier Barão-Hutter arbeitet mit der starken Atmosphäre des Gebäudes. Es führt den vorhandenen Kontrast zwischen hochwertig gestalteten und sachlich nüchternen Elementen weiter. So wurden die Linien aus goldfarbenen Mosaiksteinchen im Tympanon des Portals spielerisch ergänzt durch eine Kordel. Sie verbindet die schwebenden Bücher, führt unter dem Bogenfeld hinein ins Treppenhaus Gutenbergstrasse und bis in den ersten Stock. Nach zahlreichen Schlaufen verschwindet sie in einer Eichenholzbuchse auf dunkelblauer Wand. Diese Farbe verleiht dem Eingangsbereich Tiefe und sorgt für ein erstes Innehalten. Der Blick öffnet sich für weitere präzise entworfene Details. So taucht das Eichenholz im gedrechselten Türstopper wieder auf und es rahmt die kreisrunden Fenster in den blau gestrichenen Türen. Die Form der Türfenster ist ebenfalls dem Bestand entlehnt: Barão-Hutter zitieren die Bullaugenfenster der historischen Aufzugstüren und sorgen damit für Transparenz – auch bei den Büroräumen. Sie befinden sich im Westen wie auch der Schulungsraum. Im Norden gibt es zwei Gruppenarbeitsräume. Im Süden ist die Kantonale Denkmalpflege angesiedelt. Im öffentlich zugänglichen Bereich im Osten finden nun 100‘000 Medien Platz, darunter 30‘000 sogenannte Nonbooks: DVDs, CDs, Hörbücher, Mikrofilme, Karten. Damit bietet die Kantonsbibliothek Vadiana endlich eine Freihandaufstellung der jüngeren Medien, und die Stadtbibliothek versammelt hier ihre Medien für Erwachsene. An den alten Standorten verbleiben die städtische Kinder- und Jugendbibliothek und die nicht für Freihandaufstellung geeigneten Bestände der Vadiana.

Beim Bibliotheksrundgang fallen weitere eigens entworfene Elemente auf: die Zeitungshalter aus einfachen Stahlprofilen, die Theken, Bücherwagen, Lüster oder der Lesetisch im Turmzimmer. Letzteres ist das Studierzimmer der Bibliothek mit der Sammlung der Sangallensia. Hier dämpft ein roter Teppich die Schrittgeräusche. Leselampen und ein Vorhang ermöglichen konzentriertes Lernen und Arbeiten.

Diagonal gegenüber, am weitesten entfernt vom stillen Turmzimmer befindet sich das Café. Auch dieses entfaltet eine besonders einladende Atmosphäre. Ein Teil davon geht auf die ursprüngliche Funktion und Gestaltung zurück: Hier, im einzigen Raum mit Stuck über dem Betongerippe, befand sich das Direktorenzimmer. Die neuen Akustikplatten lassen dem üppigen Deckenschmuck seinen Auftritt und die textile Stellwand führt ihn fort. Sie hat ebenfalls eine akustische Funktion und bildet zugleich die Kulisse für Lesungen und Literaturgespräche. In ihrer von Jakob Schläpfer und Barão-Hutter entworfenen Landschaft erzählen exotische, vegetabile, historische und zeitgenössische Motive von St.Gallen als Buchstadt und Äthiopien als der Heimat des Kaffees. Gegenüber laden rostrote Sitzmöbel zum Verweilen ein. Hier besteht weder Konsum- noch Lesezwang, doch der Appetit auf beides ist längst geweckt.

Ein Regal mit einhundert Zeitschriftentiteln scheidet Café und Bibliothek voneinander, dennoch herrscht Offenheit zwischen den einzelnen Bereichen. Auch der Boden vermittelt einen einheitlichen Raumeindruck. Abgesehen vom Entrée war die gesamte Geschossfläche für eine Briefsortieranlage aus statischen Gründen verstärkt worden. Dieser Betonboden wurde abgeschliffen, instandgesetzt und versiegelt. Das helle Grau wirkt nüchtern und erhaben zugleich. Es bildet die ideale Bühne für die Bücher und das Lesen.

Kantons- und Stadtbibliothek St.Gallen, Planung und Realisierung, Baudokumentation Hochbauamt, 2015 | N° 186

Unterwegs in den Osten: Taiyo Onorato und Nico Krebs im Fotomuseum Winterthur

Der Spiegel zeigt die Welt seitenverkehrt, in einem anderen Licht und ausschnitthaft. Er vermag also ebenso wenig ein objektives Abbild der Wirklichkeit zu liefern wie die Fotografie und ist darum ein schlüssiges Element in der Arbeit von Taiyo Onorato und Nico Krebs.

Ein goldglänzend verspiegeltes Oktogon besetzt den Eingang zu «Eurasia» – verstellt ihn und öffnet ihn zugleich. In den polierten Flächen spiegeln sich der Raum, die Fotoarbeiten, die Menschen. Alles wird im «Golden Tower» reflektiert, wird vervielfältigt und transformiert, aber auch fragmentiert. Mit dem Achteck gelingt Taiyo Onorato und Nico Krebs der perfekte Einstieg in ihre Ausstellung, die deutlich mehr ist als eine Fotoschau.

Das Schweizer Künstlerduo ist dem Verhältnis zwischen fotografischem Bild und Wirklichkeit ebenso auf der Spur wie den Bildern in den Köpfen und den Leerstellen im globalen Fotoalbum. Gibt es letztere überhaupt noch? Wie sieht die Welt jenseits der reproduzierten Bilder aus? Und lässt sie sich dann doch fotografisch festhalten? Für die Suche nach Antworten und getrieben von der Neugier auf visuelle Erlebnisse haben Onorato und Krebs den Weg in Richtung Osten genommen und bewusst die Oberflächenhaftung behalten. Mit dem Auto sind sie durch Länder wie Georgien, Turkmenistan, Kirgistan und Aserbaidschan gereist, haben fotografiert und gefilmt. So wie sie aber nicht einfach ihre Reise dokumentieren, sondern Blicken folgen, Bilder inszenieren und narrative Anstösse geben, so frei verwenden sie auch die Gattungen. Paarweise gehängte Fotografien lassen sich innerhalb grösserer Gruppen als Verlaufsform lesen. Ausschnitte forcieren den Sprung zum nächsten Bild. Reihungen gleichen filmischen Sequenzen. Demgegenüber liefern die in einem abgedunkelten Raum gezeigten 16mm-Filme mindestens ebenso prägnante Bilder wie sie Handlungen festhalten. Daneben expandiert die künstlerische Arbeit ein weiteres Mal in den dreidimensionalen Raum: Eine Betonskulptur mit goldfarbenen, aber zweckfreien Hochglanzmuttern spielt mit nationalen architektonischen Pathosformeln ebenso wie sie auf die allgegenwärtige Kultur der Improvisation und Wiederverwertung verweist. Das zweite Leben der Gegenstände in all seinen verschiedenen Ausprägungen interessiert Onorato und Krebs besonders. Das mag daran liegen, dass sie sich auf ihrer Reise abseits gewohnter Infrastruktur bewegten und selbst immer wieder gezwungen waren zu improvisieren. Erwünschter Nebeneffekt dabei: die Interaktion mit den Menschen. Sie sind ein grosses Thema für die beiden Künstler geworden. Ihre Präsenz, ob in persona oder in der gestalteten Welt, ist das Fundament dieser grossen Reiseerzählung.

Bis 14. Februar 2016

www.fotomuseum.ch

Florian Graf – Die Welt als Raum und Vorstellung

Architektur gestaltet den Raum. Sie folgt gesellschaftlichen Bedürfnissen und lenkt sie zugleich. Architektur kann manipulieren, sie erlaubt bestimmte Bewegungen im Raum, andere behindert sie. Sie wirkt, so Guy Debord «direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums ein». Lettristen und Situationisten ließen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Strömungen und Strudeln des urbanen Raumes treiben und erkundeten so die psychogeografischen Zusammenhänge der Stadt.

Florian Graf wählt den aktiven Zugang. Er arbeitet mit dem Raum, er fügt Elemente hinzu, verändert sie, setzt sie in neue Zusammenhänge oder sogar in Bewegung. So wie mit seinem «Ghost Light Light House», das 2012 auf dem Bodensee trieb und das Prinzip des Leuchtturms in sein Gegenteil verkehrte. Statt fest verankert und damit lokal verlässlich seine Lichtsignale auszusenden, wurde er orientierungslos und ephemer. Auch in den Kunstbetrieb überführte er die Idee des flexiblen Raumes: Die drei «Waltzing Walls» verließen an der Art Chicago 2010 den Stand mit Florian Grafs Werken, sie bewegten sich frei durch die ganze Kunstmesse und unterbrachen die gewohnte Routine des Messebetriebs.

Graf bespielt Innen- wie Außenräume gleichermaßen souverän. Er geht für seine Arbeit von Architektur- und Stadtplanungstheorien sowie von eigenen Beobachtungen und Studien aus. Zugute kommt dem Künstler dabei sein grundsätzliches Interesse an Architektur, dass sich in seiner Ausbildung manifestierte: Florian Graf studierte Architektur an der ETH Zürich (1999-2005) und schloss dort als bester Absolvent ab. Zunächst arbeitete er als Architekt weiter und gewann mit zwei Berufskollegen den Wettbewerb zum 150-jährigen Bestehen der ETH Zürich und initiierte statt des vorgesehenen temporären Projektes in Zürich den Aufbau eines universitären Instituts im afghanischen Bamiyan: Das ETH House of Science besteht bis heute. Florian Graf wandte sich anschließend der bildenden Kunst zu, studierte unter anderem an der Royal Drawing School, London, an der School of the Art Institute, Chicago und als Fellow des Istituto Svizzero in Rom. Inzwischen lebt Graf in Basel und ist doch weltweit unterwegs. Seine Installationen und Interventionen erarbeitet er ortsspezifisch. Im schottischen Cumbernauld richtete er in einem Einkaufszentrum eine fiktive Immobilienagentur ein und thematisierte die modernistischen Intentionen der Architektur. Seine Skulpturen für das Edinburgh Art Festival 2008 und im Krasnojarsk Museum Center 2014 wurden für Performances genutzt. Sein «Tugendtempel» während der experimenta 13, Natur, Stadt, Kunst in Basel wurde als Aufforderung genutzt, sich mit den im modernen Sprachgebrauch fast vollständig verschwundenen Tugenden auseinanderzusetzen. In seiner Einzelausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen richtete sich Graf per Brief direkt an die Besucherinnen und Besucher. Künstlerisch und interaktiv spürt er der Wirkung der gebauten Welt nach. Architektur und Kunst durchdringen sich, gewohnte Maßstäbe sind verändert und bekannte Funktionen ad absurdum geführt. Das erhöht die Aufmerksamkeit für den Raum. In den jüngsten Arbeiten stehen der dreidimensionale und der Bildraum im Dialog – räumliche Erlebnisse finden auch in der Imagination statt. Florian Graf macht sie möglich.

www.artline.org, Printausgabe, Dezember 2015

Fotomuseum Winterthur: «Enigma – Jede Fotografie hat ein Geheimnis»

Jede Fotografie hat ein Geheimnis – so die These der Ausstellung «Enigma» im Fotomuseum Winterthur, unter anderem gemeinsam erarbeitet mit dem Maison Européene de la Photographie, Paris. Dieses Geheimnis ist umso grösser, desto ferner, fremder die Sujets der Fotos sind und desto weniger über die Aufnehmenden bekannt ist. Den Beginn der Schau markiert daher nicht zufällig eine anonyme Amateurfotografie aus dem Jahre 1890: Ein Schatten fällt auf eine Wiese, der Vogel dort war wohl als Motiv gemeint. Aber der Anlass für die Aufnahme, der Ort und andere Begleitumstände sind nicht überliefert. Das und dass sie dennoch überdauert hat, macht ihren Reiz aus. Indem die Ausstellung jedoch versucht, die Faszination am Unbekannten in zehn Kapitel aufzuschlüsseln und somit die Rätselhaftigkeit zu schubladisieren, verhindert sie den unbefangenen, offenen Blick. Ohnehin überschneiden sich diese Kategorien in vielerlei Hinsicht, ob nun die «Aussergewöhnlichen Konfigurationen» oder «Die ästhetische Entscheidung» gemeint sind, «Gegen die Regeln der figurativen Darstellung» fotografiert wird oder die Bilder heutigen Sehgewohnheiten nicht mehr entsprechen – die Auswahl reicht bis 1970. Aber letztlich birgt auch die aktuelle Fotografie Irritationspotential, der Einbezug zeitgenössischer Arbeiten hätte die Präsentation um einige Geheimnisse bereichert.

Bis 14. Februar

www.fotomuseum.ch

Winterthur: El Frauenfelder – usser mir

El Frauenfelder malt nicht einfach Häuser, sondern gibt dem Bauen selbst eine bildnerische Form, eine sehr offene und kraftvolle. Die Zürcher Künstlerin (*1979) ist die diesjährige Trägerin des Manor Kunstpreises des Kantons Zürich.

Malen als Bauen – El Frauenfelder konstruiert ihre Bilder nicht, sie baut sie. Mit grossem physischen Impetus setzt sie breite Spachtelhiebe nebeneinander, trägt Farbe auf, streicht sie ab und fügt neue hinzu. Aus den spachtelbreiten Flächen entwickelt die Künstlerin ihre Bildmotive: archetypische Bauten, Häuser mit Spitzdach und klassischen Proportionen, seltener Innenräume oder gestaltete Gegenstände.

Das Gegenständliche ist Motiv, aber nicht Motivation der Künstlerin. Sie interessiert das Verhältnis von Objekt und seiner Umgebung: das Haus als ein klar definierter Körper innerhalb eines mehr oder weniger gestalteten Raumes. So ist eine Hecke vor einem Haus eine klare Zäsur und zugleich eine eigenständige Form. Doch meist ist es komplizierter: Wo hört etwas auf? Wo fängt etwas anderes an? Wo endet der Fokus? Gebautes trifft auf Zonen des Übergangs, dort sind Kompartimente schwer zu fassen. Dies gilt nicht nur für die Motive Frauenfelders, sondern auch für die Malerei selbst und für die Leinwand als Malgrund. Die Farbflächen fransen aus, Farbe und Weiss treffen aufeinander und durchdringen sich, Töne lösen sich auf in Helligkeit. Die Malerei öffnet sich auf den unregelmässig beschnittenen Leinwänden, ohne Keil- und Bilderrahmen zur Wandfläche hin.

Die Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur umfasst Werke aus fünf Jahren. Auf zwei Geschossen zeichnet sie nach, wie die Künstlerin mehr und mehr zur grossen Form gelangt. Details wie Hausnummern oder Spielplatzgeräte gibt es in den jüngeren Werken nicht mehr. Die rostigen, verblassten Farben dominieren noch immer, weichen aber mitunter einem leuchtenden Gelb oder Blau. Erneut wichtig ist strahlende Helligkeit: Schon 2012 löst sich im Bild «Haus mit Leiter und Gartenhäuschen» eine Hauswand im Sonnenlicht auf, dieses Thema verfolgt Frauenfelder jetzt intensiv weiter. Zugleich versucht sie sich im Atmosphärischen; der Einsatz von Sprühfarbe bei manchen Arbeiten führt allerdings dazu, dass der Farbauftrag, statt wie beim Spachteln kraftvoll gestaltet zu sein, wolkig im Ungefähren verschwimmt. Neu sind auch die Collageelemente: Frauenfelder klebt Fragmente älterer bemalter Leinwände ins Bild oder heftet letzteres mit braunem Paketklebeband auf die Wand. Mit dem Zerschneiden und Überkleben dekonstruiert El Frauenfelder ihre Gemälde und baut sie mit anderen Mitteln und in schlüssiger Entsprechung zu ihrer Malerei weiter.

Bis 13. Dezember 2015

www.kmw.ch