Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Katalin Deér „Stein, 2016“ acht Postkarten

Vier Brücken, vier Steine, ein Haus. Dreimal Stein und viermal Stein. Orte, Wege, Werke, Blicke. Ein Findling wie ein Kiesel. Eine Brücke wie ein Tunnel. Eine Tischplatte wie eine Fotografie. Ein Stein des Anstosses. Ein Loch. Eine Hand. Acht Fotografien, acht Postkarten für Stein. Für die Kulturlandsgemeinde bereist Katalin Deér Urbanonyme und findet Brücken, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Die längste gedeckte Holzbrücke Europas verbindet die deutsche Stadt Bad Säckingen mit der Gemeinde Stein im Aargau. Die Rheinbrücke Hemishofen in Stein am Rhein ist Ingenieursbaukunst von nationalem Rang. Die Ganggelibrugg, ebenfalls ein Objekt von nationaler Bedeutung, verbindet St. Gallen mit Stein in Appenzell Ausserrhoden und ist der höchste Fussgängersteg Europas. Brücken führen die Blicke in die Tiefe, führen sie weiter zum Durchbruch in der Natursteinwand, zum Strassendurchbruch im Bergell und von dort zur Leiter auf den Findling, von diesem zum Tisch mit geäderter Platte. Dazwischen ein Schopf im Schnee. Inzwischen ist er abgebrochen. Er war ein Fremdling im Ort, für die einen ein Schandfleck, für die anderen Architektur. Katalin Deér fotografierte ihn 2012. Sie richtet ihren Blick auf den städtischen und ländlichen Raum mit all seinen Zufälligkeiten und Banalitäten, aber auch mit seinen ästhetischen Besonderheiten. Sie richtet ihn auf das homogene Nebeneinander von Natur und Gebäude und auf Bauten, deren Form ganz ihrem Nutzen geschuldet ist. Sie nimmt Details ebenso ernst wie die Atmosphäre der Umgebung. Sie sieht hin ohne zu werten. Unter ihrem aufmerksamen, absichtslosen Blick beginnen die fotografierten Orte, Steine, Brücken zu erzählen. Immer neue Bezüge werden möglich; inhaltlich, ästhetisch, formal. „Stein, 2016“ lebt vom steten Wechsel der Perspektive. Er spiegelt sich auch in der Gestalt der Arbeit: Jede der acht Postkarten lädt dazu ein, sie aus dem ursprünglichen Kontext herauszulösen und zu versenden. So ziehen die Steine in die Welt hinaus und öffnen sich für neue Geschichten.

Text zur Kulturlandsgemeinde 2016 in Stein

Werkstätte für virtuelle Welten

Der Exit-Button ist immer oben rechts. Er erlaubt es Schluss zu machen. Ganz gleich wie weit weg die Realität gerade ist, ob Lichtjahre entfernt in einer anderen Galaxie oder einen Zeitsprung weit in einem anderen Erdzeitalter. Klick und die Menüsteuerung taucht auf. Klick und das Cockpit weicht dem Couchtisch. Nur die besonders Hartgesottenen wagen sich in den 360°-Horror eines Spiels, in dem sie nicht mehr wegschauen können, nicht mehr ausweichen, in dem das Böse auch hinter einem lauert. Für alle anderen ist die Virtual Reality nur einen Wimpernschlag weit entfernt von der Realität.

Es ist fast so einfach wie den Ferienschmöker zuzuklappen und einfacher als Drogendosierungen im Griff zu behalten. Abtauchen. Auftauchen. Vielleicht braucht der Körper ein paar Sekunden, aber die Grenze ist klar gezogen dank der Technik. Sie erlaubt es, der Realität zumindest vorübergehend und gezielt zu entkommen oder sie zu erweitern. Zu erweitern? Erweiterte Realität ist ein grauenhafter Begriff für Sebastian Tobler. Der Mitinhaber der Zürcher Firma Ateo bleibt doch lieber bei dem sperrigen, weil noch ungewohnten Anglizismus Augmented Reality, und nennt statt möglicher Übersetzungen gern ein einfaches Beispiel: Bei Fussballübertragungen werden mitunter weisse Linien eingeblendet, um die Entscheidungen der Linienrichter zu verdeutlichen. Die Realität wird also etwas ergänzt. Oder wie es Sebastian Tobler zusammenfast: „Wir nehmen die Wirklichkeit und verändern sie, fügen etwas hinzu. Gezielt eingreifen zu können, ist der Reiz.“

Dafür ist Technik das Vehikel, sie transportiert aber auch Chancen.  Wenn Sebastian Tobler beispielsweise über das neue Augmented Reality-Projekt für das St.Galler Museum im Lagerhaus spricht, lässt er die Dinge selber zu Wort kommen: „Das Bild sagt uns: Schau, bei mir ist es spannend.“ Ein klarer Gegensatz zum Audioguide, „der sich immer im Erklärmodus befindet. Mit Augmented Reality können wir nicht nur Informationen liefern, sondern für die Sache begeistern. Und wir stossen das Publikum an, sich eigene Gedanken zu machen.“ Das Argument, das Tablet stehe aber immer noch zwischen Betrachtenden und Bild, lässt Sebastian Tobler nicht gelten: „Kinder gehen inzwischen mit den Geräten um, als seien sie ihnen an den Körper gewachsen.“

Es gibt aber ein anderes Problem. Auf einem Chip lässt sich eine halbe Bibliothek abspeichern, aber mehr Daten sind nicht zwingend relevantere Daten. Erst der kreative Umgang mit der Technologie ermöglicht bleibende Erlebnisse. Für Sebastian Tobler ist dies immer auch eine Gratwanderung: „Was können wir dem Nutzer in puncto Intensität zumuten? Wo wird es lustvoller? Wo ist es zuviel?“ Keine Frage ist diejenige nach der Realität: „Die Menschen können selber gut unterscheiden zwischen der Realität und künstlich Hinzugegebenem.“ Unbehagen setzt erst im Moment des Kontrollverlustes ein: Woher kam das? Wie lange geht das noch? Das war schon bei Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ so und ist mit neuer Technologie nicht anders. Aber Zaubershows funktionieren nur deshalb, weil Menschen selektiv wahrnehmen. Damit spielt auch Ateo: „Wir können unsere Eingriffe verstecken und sie mit der Wirklichkeit verschwimmen lassen.“

Erst in der virtuellen Realität des Spiels ist der Anspruch auf Wirklichkeit vollständig aufgehoben. „Shiny“ besitzt kein Oben und Unten, sondern nur noch eine Time Warps Space- Röhre. Farbige Blöcke fliegen darin weg und müssen per Kopfbewegung erfasst werden. Dazu lässt sich jede beliebige Musik hochladen. Das Spiel funktioniert mit einer Virtual Reality Brille und hat sich bereits den Ruf eines Nackentrainers erworben. Noch existiert nur der Prototyp, der allerdings so beliebt ist, dass im Mai die finale Version folgen soll. Also gerade rechtzeitig für die Kulturlandsgemeinde 2016. Zum diesjährigen Thema passt auch das zweite Ateo-Spiel: Sherlock. Es ist die Adaption eines Hörspiels für Virtual Reality und erlaubt es, gemeinsam mit dem grossen Detektiv zu denken und nicht nur in seine Welt, sondern auch die neue Technologie behutsam einzusteigen.

Im Zeichen der Arbeit

Mähen, holzen, bügeln, nähen – Carl August Liner malte die Arbeit. Das Kunstmuseum Appenzell zeigt einen wichtigen Bereich seines Schaffens, der öfters in den Hintergrund gerät – und nennt die Ausstellung schlicht «Arbeit».

Landleben, Landliebe, Landlust – Hochglanzmagazine verheissen heutzutage die Idylle der ländlichen Existenz. Wer die Idylle früherer Zeiten sucht, wird bei Carl August Liner fündig, in seinen Trachten- und Landschaftsgemälden. Allzu oft wurde der Appenzeller Maler auf diese Sujets reduziert. Höchste Zeit also einen Aspekt in Liners Kunst zu würdigen, der ihm selbst viel wichtiger war und der das Leben auf dem Lande bis heute prägt: die Arbeit.

Das Kunstmuseum Appenzell, auch mit neuem Namen noch das Kompetenzzentrum für Carl August Liner und seinen Sohn Carl Walter Liner, besitzt knapp 600 Werke des Künstlers. Davon sind über die Hälfte Arbeitsdarstellungen. Das besondere an ihnen: Es sind selten Auftragswerke, sondern freie Arbeiten Carl August Liners. Sie zeigen sein besonderes Interesse am handwerklichen und bäuerlichen Tun, aber auch seine eigene Positionierung als künstlerisch Tätiger. Im Kunstmuseum Appenzell wird dies gekonnt inszeniert. Den eigentlichen Auftakt der Schau bildet die lebensgross gezeigte Fotografie Liners im Gespräch mit einem Senn. Auf der für eine Postkarte inszenierten Aufnahme begegnen sich zwei die unschwer als Schaffende zu erkennen sind, selbst, wenn die Arbeit ruht. Genauso auf der daneben hängenden Skizze „Selbstbildnis mit Senn“. Hier geniesst der Senn seine Pause und Liner arbeitet an der Staffelei. Es ist eine Idealsituation, bäuerliche Versatzstücke sind eingestreut, doch der Kern bildet die selbstverständliche Kommunikation der beiden in so unterschiedlichen Gebieten tätigen Männer.

Die Ausstellung ist typologisch gegliedert, verschiedenen Tätigkeiten sind verschiedene Räume gewidmet. Heuernte und Aussaat, Handstickerei und Holzarbeit sind wiederkehrende Themen Liners. Und als er in Ägypten und Italien unterwegs war, sind es die Eselstreiber, Schlangenbeschwörer, Seiler und Steinsäger, die ihn interessieren. In St.Gallen ist es die Küche der italienischen Wanderarbeiter an der Rorschacher Strasse. Bei all dem sind immer wieder spannende Einblicke in Liners Arbeitsweise möglich. So sind etwa die Gemälde mit Handstickerinnen am Fenster zugleich Studien über die Lichtführung im Bild. Ein grosses Werk wie „Der Mäher“ wird mit vielen Skizzen vorbereitet.

Carl August Liner war nicht nur künstlerisch aktiv. Er schrieb satirische Texte, gestaltete als Gebrauchsgrafiker Briefmarkenmotive, Postkarten und Plakate, illustrierte Kalender und Bücher, meldete einen transportablen Maltisch und eine Motor-Kleinmähmaschine beim Patentamt an, entwarf einen Kleinbus. Das bemerkenswerteste Zeugnis seines in viele Richtungen offenen Denkens ist der „Entwurf für ein St.Galler Werkblatt“. Es war der Versuch, eine Zeitschrift ins Leben zu rufen. Das „Organ für Arbeit und Kultur“ sollte jeden Samstag in St.Gallen und im Wirtschaftsgebiet Ostschweiz erscheinen. Geplant waren Texte zu wichtigen Bauten und deren Renovationen, Berichte über gute Reklame, und das Neben- und Miteinander von Industrie und Kunst. Damit ist diese Ausstellung am passenden Ort, entlehnte doch das Architektenduo Gigon/Guyer die Gestalt des Kunstmuseum Appenzell einem Fabrikgebäude. Beide bezeichneten ihren Bau mit dem markanten Sheddach auch als eine Ideenfabrik, eine Werkhalle für den Geist. Einen ganzen Sommer entfalten sich hier nun der Intellekt Carl August Liners und seine Wertschätzung der Arbeit.

Das grosse Drunter und Drüber

Manchen Eltern gilt schon ein Sandkasten als Gefahrenzone. Ihnen sei die Ausstellung «Playground Projects» in der Zürcher Kunsthalle empfohlen. Sie zeigt Spielplätze als Erfahrungsräume für Kinder – und für die Stadtplanung. Vorne mit dabei ist Wattwil.

Wippe, Schaukel und Klettergerüst, vielleicht noch eine Rutsche dazu oder ein Sandkasten. So hat die jetzige Elterngeneration vorgefertigte Spielplätze erlebt und so finden sie sich auch jetzt noch zwischen Mehrfamilienhäusern und auf Pausenhöfen. Einzig das Material hat sich gewandelt. Standen früher meist Stahlgestelle im Sand, so bestehen die Geräte und Gerüste mittlerweile aus Holzbalken. Aber es geht auch anders, ganz anders.

Was wollen Kinder tun?

Die Kunsthalle Zürich zeigt, was jenseits des Standards möglich ist. „Playground Project“ heisst die aktuelle Ausstellung und umgeht mit dem englischen Titel die Assoziationen von normierter Langeweile, die das Wort „Spielplatz“ ausstrahlt. Überhaupt, was heisst schon spielen? Als die Landschaftsarchitektin Cornelia Hahn Oberlander für die Expo 67 in Montreal mit einer Spielplatzgestaltung beauftragt wurde, fragte sie sich, was Kinder gerne tun. Spielen gehörte nicht zu den Antworten, sondern bauen, Wasser stauen, klettern, schaukeln, sich verstecken, balancieren, rennen oder Musik machen. Sie entwarf für den kanadischen Pavillon eine Landschaft mit Wasserkanal und Instrumenten, mit Kletternetz, Baumhaus und Tunnel. Dies war weder der erste, noch der einzige Ansatz, neue Bewegung in die kindliche Erfahrungswelt zu bringen.

Die Basler Politologin und Raumplanerin Gabriela Burkhalter blickt für ihr Ausstellungsprojekt auf über 100 Jahre Spielplatzgestaltung zurück. In dieser langen Zeitspanne lassen sich jedoch Schwerpunkte der neuen Gestaltungsbemühungen erkennen. Einer davon liegt –wenig verwunderlich – in den späten 1960er Jahren. Kreativität und Selbstbestimmung sind die Zauberwörter einer neuen Pädagogik, zusätzlich wurde der öffentliche Raum als demokratischer Raum aufgefasst. Inoffizielle Spielplätze bringen Bewegung in die Debatte um kindgerechte Zonen in der Stadt. Wie so oft kommen wichtige Anregungen aus Skandinavien. Der dänische Künstler Palle Nielson, künstlerischer Berater des Stadtplaners von Kopenhagen, erkannte, dass die Intensität von Spiel und Interaktion in begrenzten Räumen zunahm. In einer spontanen Aktion wandelten Nielsen und seine Aktivistengruppe im Frühjahr 1968 den Hinterhof eines Arbeiterblocks in einen Abenteuerspielplatz um. Die Anwohner wurden aufgefordert, nicht die Polizei zu rufen, sondern beim Bau mitzuhelfen. Die Gruppe mischte sich konstruktiv in die Stadtplanung ein ohne politische oder künstlerischen Absichten, sondern mit dem Ziel das Potential ungenutzter Räume zu entdecken. In Stockholm baute eine Gruppe um Nielson einen Spielplatz im Moderna Museet auf. „Modellen – en model för ett kvalitativt samhälle“ erfuhr ein riesiges Publikums- und Medienecho.

Je undidaktischer, umso besser

In der Kunsthalle Zürich sind diese und zahlreiche andere Beispiele in Filmen, Zeitungsberichten, Fotografien, Entwurfszeichnungen, Modellen und anderen Originalmaterialien belegt. Sie fügen sich zu einem Gesamtbild, dass weniger Archiv- als vielmehr Laboratmosphäre verströmt. MDF-Platten und Holzleisten liegen wie zum Weiterbauen bereit. Bildschirme sind in modulare Bausätze integriert. Baumhaus und Sandkasten fehlen ebensowenig wie Schaukelseil und Kletternetz. Kleine Details sorgen für Kinderfreude, so die kniehohen Öffnungen von Ausstellungsraum zu Ausstellungsraum. Sie zeigen, wie einfach es ist, die Kinderperspektive beim Ausstellungsmachen mitzudenken. Etwas, dass auch in ehrwürdigen Institutionen funktioniert, wie etwa in der neuen Nordamerikapräsentation des St.Galler Historischen und Völkerkundemuseums.

Ein besonderer Anziehungspunkt der Ausstellung ist der Lozziwurm, 1972 von Yvan Pestalozzi entworfen. Pestalozzi ist nicht der einzige Schweizer Künstler, der für Kinder gearbeitet hat. Bernhard Luginbühl gehört ebenso dazu wie Michael Alois Grossert. Dessen Skulpturenhof für die Primarschule Aumatten ermöglicht den Kindern auf kleinem Raum ein grosses Drüber und Drunter, das gar nicht offiziell als Spielplatz deklariert werden muss. Damit gleicht es Max Oertlis Brunnenskulptur am Neumarkt in St.Gallen. Sie ist ebenfalls nicht als Spielobjekt konzipiert, reizt die Kinder jedoch durch Form und Farbe zur Bewegung.

Kinderbaustelle Wattwil ist Spitze

Auch der immer wieder gescholtene Rote Platz entfaltet solche Qualitäten, indem er keine festen Nutzungen vorgibt, sondern offen lässt, wo gesessen, balanciert, gerannt oder geruht werden kann. Während es diese beiden St.Galler Beispiele nicht in die Ausstellung geschafft haben, ist aber auf der grossen Weltkarte der gegenwärtig besten Playground Projects unter den nur drei Beispielen aus Europa auch die Ostschweiz dabei mit der Kinderbaustelle Wattwil.

Im selben Raum lohnt es sich ausserdem auf die Zeichnungen und den Film der Group Ludic ein besonderes Augenmerk zu richten. Die Pläne auf Transparentpapier muten an wie Wimmelbilder oder Schatzkarten, in denen die Augen trefflich spazieren gehen können. Im 2013 gedrehten Film wird unter anderem über das Thema Sicherheitsnormen gesprochen. Damals, in den 1960ern und 1970ern herrschte diesbezüglich totale Freiheit, dennoch war die Sicherheit nicht nebensächlich, aber ebenso wichtig war das Vertrauen in die Kinder: „Ein Kind kann ein Risiko selbst bewältigen, wenn es dieses selbst gewählt hat“.

In der Ausstellung lassen sich gut zwei Stunden verbringen, mindestens. Wer aber mehr wissen will, dem sei die Website http://www.architekturfuerkinder.ch/ empfohlen. Hier stellt Gabriela Burkhalter das Archivmaterial zu ihrem Forschungsprojekt zur Verfügung. Noch eine Ebene drauf setzt der Katalog zur Ausstellung. Inhaltlich dicht, gut gestaltet, mit aussagekräftigem Bildmaterial und sorgfältig gedruckt hat er das Zeug zum Standardwerk.

Kunsthalle Zürich, bis 15.5.

Das grosse Drüber und Drunter

Kreativzelle auf dem Land

Das Zeughaus Teufen zeigt die produktive Atmosphäre im Teufen der 1960er Jahre und beschwört Parallelen zu Andy Warhols Factory.

Co-Creation, Co-working spaces und Communities sind heutzutage in aller Munde. Gemeinsam denken, erfinden und entwickeln bringt alle Beteiligten weiter. Neu sind aber nur die Anglizismen. Kreative haben das Potential enger Zusammenarbeit schon früher erkannt und genutzt. Andy Warhol beispielsweise wäre ohne seine Gefolgschaft wohl nie zum Weltstar der Pop Art aufgestiegen.

Über fünfzig Jahre ist es her, dass Warhol die Factory gründete und dort kreative Köpfe versammelte. Und mit ihnen einen Abstecher nach Teufen unternahm? Am Goldibach eine Dependance gründete? „Factory Teufen“ nennt Museumsdirektor und Kurator Ueli Vogt seine aktuelle Ausstellung im Zeughaus Teufen und verweist damit auf die Gleichzeitigkeit guter Ideen. Denn die Teufener hatten Nachhilfe aus New York gar nicht nötig. Sie kamen von selbst darauf sich zusammenzutun, um Grosses zu verwirklichen.

Grafiker Kurt Büchel und seine Frau Ada hatten 1963 die ehemalige Textilfärberei am Goldibach bezogen. Ein Jahr später gewann Büchel gemeinsam mit Remi Nüesch einen Gestaltungswettbewerb für die EXPO 1964. So wurde die Textilfärberei erneut zur Produktionsstätte und zog Grafiker, Fotografen und Kunstschaffende aufs Land. Hier waren sie in der Lage konzentriert und am richtigen Ort zu arbeiten: Sie gestalteten die Abteilung „Gesteigerte Produktivität“ im Sektor „Feld und Wald“. Hans Schweizer wirkte mit, Jost Blöchlinger, Amelia Magro, Jules Kaeser und andere.

„Factory Teufen“ vermittelt anschaulich die kreative Atmosphäre und die damalige Art zu arbeiten, da sich die Ausstellung als Labor präsentiert. Originalfotografien hängen nicht an der Wand sondern werden in der Horizontale gezeigt, nur durch Glasplatten geschützt. Publikationen dürfen in die Hand genommen und studiert werden, sogar das originale „Werk“-Heft aus dem Jahre 1964. Stempel liegen bereit und Papier. Ausgestellte Grundrisse sind ebenso aufschlussreich wie die unkonventionelle Korrespondenz vom Chefarchitekt der Expo an die Teufener.

Über all dem klopft und klingt es. Die Arbeit von damals scheint ins Heute herüber zu tönen. Die Klänge begleiten Filmsequenzen. Sie entstammen einer dreiviertelstündigen Dokumentation aus den Sechzigern. Die Künstlerin Katrin Keller hat aus diesem Film jene Sekunden extrahiert, in denen die Akteure bei der Arbeit zu sehen sind, und interpretiert deren Tun mit elektronischer Musik. Ausserdem hat sie Tätigkeiten in Monotypien übertragen. Reihen, spachteln, stochern, hämmern, stempeln, rollen oder wischen zeichnen sich schwarz auf weissem Papier ab.

Zeitgenössische künstlerische Beiträge verschränken die Ausstellungen im Zeughaus Teufen immer wieder aufs Neue mit der Gegenwart. Aktuell gelingt dies neben der Arbeit von Katrin Keller auch mit Werken von Hans Schweizer. Seine grossformatigen Zeichnungen aus der jüngsten Zeit hängen auf grossen MDF-Wänden. Gegenüber auf einem warmen Ockerton sind Grubenmann-Veduten aus den Jahren 1961 und ´62 zu sehen – ebenfalls von Hans Schweizer. Und sogar Werke aus früheren Ausstellungen fügen sich nahtlos ein: So findet das auf den Schwarzweissaufnahmen abgebildete, grosse Expo-Relief seinen Wiederhall in Felix Stickels Karte des Appenzeller Landes. Er zeichnete sie 2013 für die zweite grosse Wechselausstellung im Zeughaus Teufen an die Wand. Mit jeder Schau wird die Geschichte aktiv weitergeschrieben – das Zeughaus Teufen ist längst selbst eine Factory.

Die Kunst guckt in die Röhre

Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt eine Ausstellung zum Fernsehen in der Kunst. Das Medium reizt zum Widerstand und birgt einiges an Unterwanderungspotential.

Vergraben, verstecken, vernageln oder mit Stacheldraht umwickeln – kaum hatte sich das Fernsehen zum Massenmedium entwickelt, attackierten Künstler das Gerät. Damit demonstrierten sie eindrücklich ihr Ohnmachtsgefühl gegenüber der neuen Allgegenwart bewegter Bilder oder vielmehr den präsentierten Inhalten.

Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt in der aktuellen Ausstellung „TeleGen. Kunst und Fernsehen“ im ersten Raum eine Rückschau mit Werken aus den späten fünfziger und in den sechziger Jahren. Altbacken wirken diese Arbeiten bis heute nicht, vor allem jene, die das Medium eben gerade nicht offensiv attackierten, sondern sich bereits damals die Strategien des Fernsehens zunutze machten und sie weiterentwickelten. So beginnt Bruce Conner unmittelbar nach dem Attentat auf John F. Kennedy die ausgestrahlten Filmaufnahmen des Anschlages zu bearbeiten. Sequenzen werden stakkatohaft wiederholt, ältere Aufnahmen und Werbung werden zwischengeblendet, während das Attentat nie zu sehen ist. Spannung entsteht dennoch oder gerade deshalb. Auch John Cage arbeitete mit den Möglichkeiten des Fernsehens. Er verwandelte seine „Water Music“ für eine Fernsehsendung in einen „Water Walk“. Der Klang war damit nicht nur zu hören, sondern die Klangerzeugung war zu sehen. Cage setzte Dampfkochtopf und Mixer in Gang, betätigte Siphon und Piano, plätscherte in der Badewanne und warf Radios vom Tisch. Cage plauderte zunächst locker mit dem Moderator und brachte dann seine unkonventionelle Musik zu Gehör. Das Publikum der Unterhaltungssendung reagierte mit unsicherem Gelächter, Cage liess sich nicht aus der Ruhe bringen und verhalf seiner Arbeit mit grossem künstlerischen Ernst zu einiger Popularität.

Geht es um die frühe Auseinandersetzung mit dem Medium Fernsehen, darf Nam June Paik nicht fehlen. Als erster Künstler veränderte er die Bildausstrahlung mit mechanischen Eingriffen, schloss externe Geräte an, deren Schwingungen auf die Monitore einwirkten oder verzerrte Bilder mit Magneten. Im Kunstmuseum Liechtenstein sind vier seiner transformierten Geräte aus dem Jahr 1963 zu sehen.

Die weiteren sechs Räume der umfangreichen Ausstellung sind der zeitgenössischen Kunst gewidmet. Mischa Kuball ist der Einzige, der mit einer Arbeit vertreten ist, die sich noch physisch gegen das Fernsehbild richtet, er deckt die Mattscheibe mit schwarzer Folie ab, in der das CNN-Logo ausgespart ist. Hörbar überlagern sich mehrere Podcasts mit Live-Berichterstattung aus dem ersten Golfkrieg – eine Arbeit mit eindeutig kritischem Anspruch. Viel spannender sind aber jene Werke, die das Medium mit seinen eigenen Mitteln unterwandern und dessen Unzulänglichkeiten offen legen. Christian Jankowski etwa hatte bereits sogenannte Teleshopping-Kanäle in ein Kunstmarkt-TV-Format übersetzt, liess einen texanischen TV-Prediger seine Kunst heiligsprechen oder befragte im Vorfeld der Biennale Venedig TV-Wahrsager zu seiner künstlerischen Arbeit. Er vertauscht soziale Kontexte und Rollen und spielt mit dem inszenierten Fernsehspektakel. In der Ausstellung ist sein Werk „Discourse News“ zu sehen, bei dem er eine professionelle Nachrichtensprecherin ein Kunstwerk erläutern lässt, dessen Teil sie selber ist. Jankowski setzt die brandaktuellen News und den Kunstdiskurs gleich und entlarvt damit einmal mehr nicht nur das Fernsehen, sondern auch den Warencharakter der Kunst.

In der Ausstellung dominieren wenig verwunderlich die filmischen und die Videoarbeiten. Aber Künstlerinnen und Künstler setzen sich auch in Malerei, Fotografie, Zeichnung und Installation mit dem Fernsehen auseinander. So sind etwa Caroline Hakes Fotografien leerer Fernsehstudios aufschlussreiche Kommentare zur televisuellen Bedeutungsproduktion. Und Julian Rosefeldt extrahiert die Gesten aus TV-Soaps und gliedert sie in Kategorien. Schon bei Kindergartenkindern ist zu beobachten, wie diese stereotypen Verhaltensweisen die Ausdrucksformen beeinflussen. Viele der aktuelleren Werke greifen Details rund um die Fernsehkultur heraus, die Werkauswahl wäre denn auch anders möglich gewesen. Christoph Schlingensief ist jedoch eine der wichtigsten Positionen in diesem Zusammenhang. Mit seinem Talk 2000, ausgestrahlt im Privatfernsehen und im ORF, trieb der damals junge Künstler die ohnehin schon absurd anmutenden Talkrunden auf die Spitze. Die Gäste wurden ebenso blossgestellt wie der Moderator selbst. Inhalte wurden keine vermittelt, es ging um Effekte und Emotionen. Wie echt letztere waren, bleibt dahingestellt. Inzwischen sind alle Folgen dieser Show im Internet verfügbar – in einem Medium, dessen Auswirkungen aufs Fernsehen beträchtlich sind und das längst auch für die Kunst relevant ist. Aber dies ist ein anderes Ausstellungsthema.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/die-kunst-guckt-in-die-roehre/

München: Rodney Graham

Rodney Grahams Bezugssystem ist formal und inhaltlich weit verzweigt. Wer sucht, wird in jedem Falle fündig. Spezielle Kenntnisse in Musik- und Kunstgeschichte, in Philosophie und Literatur sind von Vorteil. Doch auch wer sich ergötzen will an attraktiven Bildern freut sich auf ein Wiedersehen mit den konzeptuellen Werken des Kanadiers. Selbst jene, die es vorziehen sich zu amüsieren, werden nicht enttäuscht. Gags gibt es ebenso wie Tiefgang, Poesie ebenso wie Leichtigkeit. Und dies in einer grossen medialen Bandbreite: Die retrospektive Einzelausstellung in der Sammlung Goetz umfasst Musik, Installationen, Fotografien, Skulpturen, Leuchtkästen und Filme. Graham agiert immer wieder selbst als Musiker und Schauspieler. In seinen Kurzfilmen gerät er in missliche Lagen. Die gestellten Situationen sind absurd, sind weit weg vom alltäglichen Erleben. So funktionieren sie in Endlosschlaufe als Sinnbilder für das verzwickte menschliche Miteinander und die ständige Wiederkehr des Unzulänglichen – der Künstler klammert sich nicht aus dabei.

Grahams Interesse an der Welt schliesst auch die Natur ein, umso mehr als sich mit ihr wieder die Brücke in die Geisteswelt schlagen lässt. Schickt er beispielsweise einen Hubschrauber mit Suchscheinwerfern über einen nächtlichen Wald, so sind auch literarische Topoi allgegenwärtig – künstlerische Schönheit und Inhalt sind einmal mehr vereint.

http://www.sammlung-goetz.de/

Bregenz: Das Kunsthaus als Klangraum

Die Turner-Preisträgerin Susan Philipsz arbeitet mit Musik als Speicher der Erinnerung. Für ihre Toninstallationen zerlegt sie Musik in einzelne Töne und fügt sie über separate Räume hinweg wieder zusammen. In ihrer aktuellen Ausstellung verwandelt sie das Kunsthaus Bregenz in einen Resonanzkörper.

Klare Töne aus unbestimmter Richtung – Klarinette zuerst, abgelöst durch weiter entfernt klingende Violinen, dann Bassklarinetten ganz aus der Nähe, danach Stille und wieder Tonreihen. Susan Philipsz bespielt das Kunsthaus Bregenz in musikalisch wörtlichem Sinn. Zwölf Lautsprecher hängen in jedem der vier Stockwerke des Zumthor-Baus, soviele wie eine Tonleiter Töne hat. Aus jedem Lautsprecher erklingt ein separat eingespielter Ton, pro Stockwerk mit einem anderen Instrument. Beim Gang durch die Ausstellung und besonders durchs Treppenhaus lässt sich das Entstehen von Musik erleben. Hier klingen die einzeln instrumentierten Töne miteinander. Hier durchdringt die Musik das ganze Haus. Hier, an dem Ort, wo für gewöhnlich wenig bis keine Kunst von der Architektur ablenkt, ist die Hauptschlagader der Ausstellung. Susan Philipsz verwandelt das Bauvolumen in akustisches Volumen. Als Ausgangspunkt diente ihr Hanns Eislers Musik zu Alain Resnais´ Film «Nuit et brouillard» aus dem Jahre 1955. Warum Hanns Eisler? Warum diese innerhalb einer Woche entstandene Komposition? Philipsz arbeitet seit vielen Jahren mit Musik als Raum der Erinnerung, der politischen und kollektiven Geschichte. Bei ihren Recherchen entdeckte sie Resnais´ Dokumentarfilm und die damals revolutionäre Methode Eislers, filmische Inhalte nicht musikalisch zu illustrieren oder zu verdoppeln, sondern die Musik zu eigenständigen Aussagen zu befähigen. Die britische Künstlerin eignet sich die Komposition an, seziert sie und reduziert sie auf Violinen und Blasinstrumente. Die ursprünglich enthaltenen Stimmen anderer Instrumente haben Lücken hinterlassen. Dies alles taugt als Metapher, sowohl auf die während der sogenannten Nacht-und-Nebel-Aktionen der Nazis verschleppten Widerstandskämpfer und alle in den Konzentrationslagern getöteten Menschen als auch auf die Zensur von «Nuit et brouillard». Der Film allerdings ist in Bregenz nur im Untergeschoss zu sehen, während in den oberen Geschossen der hochästhetische Eindruck der Ausstellung gewahrt bleibt. Auch auf die sparsam verteilten ergänzenden Arbeiten hätte sich gut verzichten lassen. Sie befassen sich mal mit Eisler mal mit im Kriege zerstörten Blechblasinstrumenten, führen aber eher vom Kern der Ausstellung weg. Eine schlüssige Brücke hingegen schlägt Philipsz nach Hohenems. 20 Kilometer entfernt vom Kunsthaus erklingt hier ein fünftes Segment der Komposition – auf dem 400 Jahre alten jüdischen Friedhof am bewaldeten Abhang des Schwefelberges.

bis 3. April 2016

www.kunsthaus-bregenz.at

Inhalt im Zwischenraum

Ein Arbeitstitel ist ein Provisorium. Er umschreibt eine Idee, ohne bereits auf sie festgelegt zu sein, aber mit dem Potential, sich als gültig zu erweisen. Annaïk Lou Pitteloud nennt ihre Ausstellung in St.Gallen „Working Title“ und findet damit den präzisen Ausdruck für ihre Arbeit über künstlerische und kunsttheoretische Praxis.

( ) – der kursiv gesetzte Ausstellungsauftakt ist minimalistisch und universell. Zwei Klammerzeichen auf einer weissen Wand, dazwischen nichts und alles. Das Leerzeichen ist Abstand, Freiraum, Zwischenraum. Es ist das perfekte Zeichen für die gesamte Ausstellung. Annaïk Lou Pitteloud gibt den Dingen Raum, indem sie sie reduziert. Seit einigen Jahren deklariert die mit zwei Swiss Art Awards ausgezeichnete Künstlerin auch die Werklisten der Ausstellungen als Werk. Die Informationsblätter sind nummeriert und signiert, sind eine Edition. Das ist einerseits plausibel, sind auf diesen einfachen A4-Zetteln doch sämtliche Ausstellungsinhalte zu übersichtlicher Form kondensiert. Hier sind nicht nur die üblichen Angaben zu Werktitel und Entstehungsjahr zu finden, sondern auch der Situationsplan: Linien, Punkte und Striche visualisieren Inhalt und Choreographie der Ausstellung. Aber wäre es andererseits nicht konsequent, das Saalblatt als Konzept zu verstehen und auf die Präsentation der Werke ganz zu verzichten? An diesem Punkt beginnt Annaïk Lou Pittelouds lustvolles Spiel mit Kategorien und Deutungshoheiten. Die Welschschweizerin lässt sich nicht festlegen. Leichtfüssig unterwandert sie Erwartungshaltungen. Was vordergründig nach Minimalismus aussieht, ist aus tiefgehenden Überlegungen zu Produktion, Rezeption und Wahrnehmung heraus entstanden. So werden zu einigen Werken Datensammlungen angelegt, die mit jeder Ausstellung oder einem eventuellen Ankauf um weitere Levels ergänzt werden. Damit reagiert die Künstlerin auch auf die mitunter ins Absurde abdriftenden Fragen zu Autor- und Urheberschaft.

Viele der Arbeiten sind technisch perfekt ausgeführt. Ihre Reduktion steht nicht im Widerspruch zum klassizistischen Bau des Kunstmuseums St.Gallen, sondern betonen ihn auf frappante Art und Weise. Die hohen, wohlproportionierten Räume, der Stuck, die schlanken Säulen, ja selbst die graue Wandfarbe sind nicht mehr nur Hintergrund, sondern in ihrem eigenen Gestaltungswert unterstützt. Im letzten Raum dann die Überraschung: Mit roter und blauer Wachskreide, unten und oben an einem raumhohen Stab befestigt, markierte Pitteloud Decke und Boden des Raumes mit kreisenden Linien. Ein wenig krakelig, dafür raumgreifend, zeichenhaft und selbstbewusst – bei Pitteloud schliessen sich nicht einmal konzeptuelle Arbeit und ausdrückliche persönliche Handschrift aus.

Bis 20. März 2016

www.kunstmuseumsg.ch

Es brodelt in der Farbenküche

Der Wiler Künstler Renato Müller stellt in der Kunsthalle Wil aus. Unter dem Titel „Lavadance“ verquirlt er die dingliche Welt zu einemForm- und Farbstrudel.

Ein Gesicht taucht auf und verschwimmt im selben Moment unter einer Blase. Eine zweite schiebt sich dagegen. Dann löst sich alles auf und eine zähe Flüssigkeit bedeckt das Bild. Aber was flüssig zu sein schien, ist eigentlich ein Ärmel. Oder ein Rock? Ein Hut? In den aktuellen Arbeiten von Renato Müller ist nichts, was es zu sein scheint. Schemenhaft tauchen Körperfragmente auf und verschwinden wieder. Das Wenigste lässt sich entziffern. Es kommt auch gar nicht darauf an, zu wissen, was genau zu sehen ist. Vielmehr lebt die Videoinstallation des Wiler Künstlers vom hierarchielosen Zusammenspiel aller Elemente. Sie wogen und wabern über die Wände in beiden Stockwerken der Kunsthalle Wil. Im Erdgeschoss setzt sich das Quirlen und Strudeln bis auf den Boden des Ausstellungsraumes fort und spiegelt sich in den abgedunkelten Fensterscheiben. Ein Raum aus Farbe, Licht und Bewegung, in dem auch Dimensionen verschoben sind. Kleines erscheint gross, Grosses klein. Partikel fliegen umher wie Planeten. Da wird eine Zelle zur Galaxie und ein kosmisches Flugobjekt zur Amöbe – und sind doch eigentlich das Gleiche: Renato Müller filmt die Blasen einer Lavalampe. Am Computer werden sie vergrössert, mit anderen Farben angereichert und ins Transparente übersetzt.

Realität und Transformationen sind die zwei Bausteine von Renato Müllers aktuellen Arbeiten. Hatte er in einer früheren Ausstellung in der Kunsthalle Wil noch mit vollständig computergenerierten Sujets gearbeitet, so basiert nun alles auf selbst gefilmten Aufnahmen. Ob Wasseroberfläche oder Tanzende, ob Lavalampenblasen oder Textilfalten – alles entstammt der real erfahrbaren Welt und wird Morphosen unterzogen. Die Bilder überlagern und verflüssigen sich, treiben langsam aneinander vorbei. Statisches gerät in Bewegung; oben und unten sind längst keine gültigen Kategorien mehr. Damit träumt Müller einen alten Traum weiter: Wie wäre es schwerelos zu sein, kein oben und unten mehr zu kennen, einfach dahinzutreiben im Raum? Wie fühlte es sich an, wenn alle physikalischen und rationalen Grenzen aufgebhoben wären?

Vollständiges Loslassen – es gibt Momente, in denen die Ausstellung eine Ahnung davon vermittelt. Obwohl die Loops nur wenige Minuten lang sind, gelingt es immer wieder, sich in den Bildern zu verlieren, die Zeit und den Raum zu vergessen. Allerdings nur, wenn ein geeigneter Standort gefunden ist, sonst gerät der eigene Körper zwischen Beamer und projiziertes Bild und die Illusion ist dahin. Dies stört vor allem im Obergeschoss. Der Raum ist dort beengter und es lässt sich schlecht dem eigenen Schattenwurf ausweichen, es sei denn auf dem Boden liegend den Blick ins Gebälk gerichtet, das wie der Dachspitz ebenfalls von Bildern überflossen wird. Diese unübliche Weise der Ausstellungsbetrachtung lässt sich bei der auf einem Monitor gezeigten Arbeit umgehen. Statt von Bildern umflossen zu sein, ist hier zwar nur die herkömmliche Frontalbetrachtung möglich, dafür aber ohne sich selbst im Blick zu stehen. Hier auf dem Bildschirm verdichtet sich Renato Müllers gesamte Arbeit. In allen Regenbogenfarben wogt und blubbert es. Gegenständliche Versatzstücke sind nicht mehr zu sehen. Die Dinge köcheln noch oder wieder in der Ursuppe. Alles fliesst aufs Zentrum hin und brodelt wieder vom Mittelpunkt weg. Ohne Ende, ohne Anfang, alles bleibt in der Schwebe. Dieses Gericht ist nie fertig.