Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Steine – Schnitt – Bild

Katalin Deér

„Stein, Schnitt“, 2016, zwei Fotografien

Ein Stein ist ein Körper im Raum. Eine Fotografie ist ein Schnitt durch die Zeit und durch den Raum. So wird ein fotografierter Stein im Moment der Aufnahme auf zwei Dimensionen reduziert. Tischbeine oder Transportgurt sind der Bruch im Sujet. Sie verweisen auf den Raum ausserhalb des Körpers und sind ebenfalls fotografisch eingeebnet. Auch wenn ein Stein mit der Diamantsäge aufgeschnitten und die plane Oberfläche betrachtet wird, sind nur zwei Dimensionen im Blick. Die Geste des Steinaufschneidens gleicht dem Zuschnappen der Kamerablende; die geschliffene Steinfläche ist ein Bild.

Fotografiert Katalin Deér den aufgeschnittenen Stein, gibt sie ihm seinen Raum zurück. Die Künstlerin löst die Fotografie aus der Fläche mit einem einfachen skulpturalen Akt: Sie faltet das Papier, klappt es auf und fügt die dritte Dimension wieder hinzu. Die beiden papiernen Flächen umschreiben einen Raum, sie sind dessen gestaltete Wände. Der Bildbogen mit den Fotografien geschnittener Steine lässt sich dem Heft entnehmen. In den Raum gehalten beginnt der fotografierte Stein sich mit der neuen Umgebung zu verbinden. Der doppelseitig bedruckte Bogen lässt sich so zusammenfalten, dass die beiden Flächen einander berühren. Das Innere des einen Steines ist dann im Inneren des Bildbogens verborgen. Die Fotografie auf der Aussenseite wird durch die Falzkante unterbrochen. Der Anschnitt verweist auf die Herkunft des Bildes aus einem grösseren Raum.

Kurztext für Obacht Kultur, Sonderausgabe Kulturlandsgemeinde 2016

Alles in Bewegung: Charlotte Moth in Vaduz

Die in Paris lebende Engländerin Charlotte Moth ist derzeit in einer grossen Einzelausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein zu sehen. Sie löst die Grenzen zwischen Materialität und Immaterialität auf. Im Zentrum steht der beständig wachsende Bilderspeicher ihres Travelogues.

Ein Vorhang verbirgt und verheisst. Er lässt sich öffnen oder soll dauerhaft abschirmen – er ist Mittel zum Zweck. Charlotte Moth (*1978) installiert im Kunstmuseum Liechtenstein einen Vorhang, der für sich selbst steht. Er ist die golden schimmernde Willkommensgeste in einer ebenso präzise wie sinnlich angelegten Ausstellung. Der Vorhang lässt sich weder öffnen, noch zuziehen. Er ist dicht gerafft, fällt in wohlabgemessenen Kaskaden auf den Boden und ist benannt nach einem Zitat Alighiero Boettis: «Hinter jeder Oberfläche befindet sich ein Geheimnis: eine Hand, die auftauchen könnte, ein Bild, das angezündet sein könnte, oder eine Struktur, die ihr Bild preisgeben könnte». Charlotte Moths Vorhang birgt selbst ein Geheimnis. Hinter dem goldenen Stoff hängt ein hellblauer Vorhang, weniger stark gerafft und bündig zum Boden. Er bringt Licht und Transzendenz ins Spiel – Motive, die sich durch das gesamte Werk der in Paris lebenden Künstlerin ziehen. Die Dinge verharren nicht in ihrer physisch abgegrenzten Gestalt. Sie nehmen Kontakt miteinander auf, setzen sich in immaterielle Bereiche hinein fort und verführen zu Bewegung oder bewegen sich selbst. Spiegel verbinden Räume und Objekte miteinander. Inszenierte Schatten lassen Bronzegüsse schwerelos werden, sie gleichen eher Filmstills als statischen Objekten. Licht moduliert einen ganzen Raum. Fotografien falten sich in den dreidimensionalen Raum auf und werden so zu Körpern. Nichts hat nur noch eine Seinsform.

Charlotte Moths Referenzsystem ist komplex. Sie bezieht sich auf das Werk des Konzeptkünstlers André Cadere, setzt sich detailliert mit Barbara Hepworths Werk und ihren Präsentationsformen auseinander und nutzt Aby Warburgs assoziative Arbeitsmethoden. Sie folgt den Spuren Raoul Hausmanns ebenso wie den Schriften des Kunstkritikers Adrian Stokes oder den Lictstudien László Moholy-Nagys. Doch all das Hintergrundwissen ist nicht zwingend erforderlich, um sich ihren Arbeiten anzunähern. Farbe, Licht und Bilder entfalten ihre Sogwirkung auch so. Beispielsweise das reiche Reservoir ihres Travelogues: Moth stellt es zu dichten Bildtafeln zusammen oder präsentiert es Modellen gleich auf eigens gefertigten Tischen. So wird es möglich, von einem zum anderen zu schweifen, im Sinne der Künstlerin immer in Bewegung zu bleiben und ständig neue Verbindungen zwischen den gezeigten Orten, Bauten und Textfragmenten zuzulassen.

Lika Nüssli – DRAWINGHELL Position 3

Einführung

Die Tür zum Architekturforum lässt sich öffnen, doch der Zugang bleibt eingeschränkt. Stoffbahnen begrenzen Sicht und Schritte. Licht schimmert durch und fordert auf, neue Wege zu suchen und abgetrennte Areale dennoch zu betreten. Lika Nüssli installiert keine festen Einbauten und verleihen dem Ausstellungssaal des Architekturforums doch eine neue Gliederung. Die Künstlerin arbeitet mit der vorhandenen Architektur und schafft neue, temporäre Räume, indem sie Papier und Stoff wandfüllend und raumgreifend installiert und ihre Bildwelten darauf wachsen lässt. Zusätzlich schafft eine ausgeklügelte Lichtregie eine neue Atmosphäre in dem ehemaligen Lagerraum. Das Material dafür ist denkbar einfach: Baustrahler, Stoffbahnen aus dem Brockenhaus, Holzleisten, Klebeband und Schraubzwingen – eine Installation, die funktioniert, aber nicht den Einspruch auf Ewigkeit erhebt und gerade deshalb aufs Beste mit dem Thema Lika Nüsslis verbunden ist: Seit einiger Zeit setzt sich die Künstlerin mit dem Leben Flüchtender, mit Migration und Fremde auseinander. Die prekäre Situation der Menschen unterwegs, die Unsicherheit und Gefährdung scheinen in skizzenhaften Zeichnungen motivisch auf und sind zugleich eingebettet in starke gestische, gegenstandslose Malerei. Begleitet wird sie von ebenso poetischen wie treffsicheren Sätzen, persönlichen Reflexionen der Künstlerin wie „Meine Haut liegt hier, aber meine Angst haben die Wellen verschluckt.“ Wort und Bild gehen in Lika Nüsslis Werk ineinander über, Zeichnung und Malerei treffen sich und weisse Flächen bieten Freiraum zum Selberweiterdenken. Lika Nüssli arbeitet gattungsübergreifend. Sie zeichnet, malt und illustriert. Darüber hinaus bewegt sie sich seit einigen Jahren mehr und mehr auch im installativen und performativen Bereich. Bereits in ihrer DRAWINGHELL in der Hauptpost, für die sie den Werkbeitrag 2014 erhielt, breitete sich die Installation der Künstlerin über Wände und Boden sowie bis unter die Raumdecke aus. Bereits dort fanden Zeichnungsaktionen statt, bei denen Lika Nüssli ihre Arbeit in einem offenen Prozess entwickelt, vor Publikum weiterverfolgt und immer weiterwachsen lässt. Der Prozesscharakter ihrer Arbeit zeigt sich im Architekturforum in zweierlei Hinsicht. Einerseits gehen Teile der Installation aus Werkbestandteilen aus der Hauptpost hervor. Für die aktuelle Ausstellung sind sie neu zusammengesetzt und weitergeführt. Andererseits zeigt ein Video, dass auch der Aufbau Teil der Installation ist, und weist darauf hin, dass die Arbeit nach der Eröffnung nicht abgeschlossen ist. DRAWINGHELL Position 3 zeigt zu jeder Zeit einen momentanen Zustand und wird von der Künstlerin beständig weiterentwickelt. So geht sie während ihrer Performances auf den Raum ein, lässt ihn wirken und schreibt in einem beständigen Zwiegespräch mit den Gegebenheiten die Erzählung im Raum fort. Somit eignet der Installation nicht nur in materieller Hinsicht etwas provisorisches, sondern auch die traditionelle Auffassung vom Kunstwerk als eines vollendeten, unantastbaren Artefaktes wird hinterfragt. Im Architekturforum berühren diese Fragen unwillkürlich auch den gebauten Raum. Lika Nüssli konfrontiert die bestehende Architektur mit einem fragilen, durchscheinenden Gegenüber. Temporär und labyrinthisch trifft auf geometrisch und armiert – ein Kontrast ganz ähnlich dem der unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Menschen unterwegs.

Städtische Ausstellung im Lagerhaus, Architekturforum Ostschweiz, 28. August bis 20. September 2015

Darf´s noch etwas mehr sein?

Im Appenzellerland eröffnet am Sonntag „à discrétion“ – ein Ausstellungsprojekt, das Kunst in Beizen bringt.

Zum Beispiel der Adler in Herisau: Eine Beiz für Menschen mit grossem Hunger und fest getakteten Arbeitspausen. Die Portionen sind reichlich, die Wartezeiten kurz, die Decken niedrig, die Fenster klein und an den Wänden hängen … Sonnenuntergänge?! Ölgemälde von Sonnenuntergängen sind nicht das, was üblicherweise in eine Beiz im Appenzellerland schmückt, auch nicht den Adler. Gemalt und platziert hat sie Francisco Sierra. Er bricht damit gleich mehrere Tabus: Er verweist Sennenbilder vom Platz, holt artfremden Kitsch in die Gaststube und verleiht dem meisttrivialisierten Landschaftsmotiv künstlerische Ausstrahlung.

Sierra ist einer von 35 Kunstschaffenden, die seit 2002 einen Werkbeitrag der Ausserrhodischen oder der Innerrhoder Kunststiftung erhalten haben; Kunstschaffende, deren Werke in beiden Kantonen selten präsent sind, da Ausstellungsräume fehlen. Schon das Projekt «för hitz ond brand» machte im Jahre 2007 aus dieser Not eine Tugend und nutzte die bestehenden, meist historisch-ethnologisch ausgerichteten Museen für die zeitgenössische Kunst. Die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler reagierten mit spezifischen Werken auf die Sammlungen der jeweiligen Häuser und sorgten für gute Dialoge, nicht nur zwischen den Werken, sondern auch beim Publikum. Nun nimmt „à discrétion“ den Faden wieder auf. Diesmal allerdings nicht in Museen, sondern in Wirtshäusern. Einst zum Nebenerwerb gegründet von Bauern, Bäckern oder Metzgern, dann ausgebaut mit Tanzsälen und Gastzimmern, steht heute manches Gasthaus leer. Andere konnten sich halten, manche sind zum Hotel herangewachsen, wieder andere haben sich ihre Ursprünglichkeit bewahrt.

Beizen sind Orte des Austauschs geblieben. Hier begegnen sich Wirtsleute und Gäste, Ausflügler und Einheimische und nun auch Kunstschaffende und ihre Besucher. Dreissig Künstlerinnen und Künstler sind der Einladung der Kunststiftungen gefolgt und präsentieren eigens entwickelte Arbeiten in selbst gewählten Gasthäusern. Darunter sind sowohl grosse, bekannte Gastronomiebetriebe, aber auch kleine, feine Beizen abseits der Hauptrouten. Ebenso vielfältig wie die Gastgeber sind die künstlerischen Positionen. Es gibt Interventionen, die so wirken, als seien sie immer schon da gewesen, die aber umso wirkungsvoller sind, wenn sie bemerkt werden, wie Christian Hörlers Einbauten in der Bar der Krone in Heiden. Es gibt passgenaue Stücke im Aussenraum etwa von David Berweger, ebenfalls in Heiden, oder von Thomas Stüssi und Nora Rekade, die auf der Ebenalp den Alpstein verdoppeln. Vera Marke hat nach umfangreichen Recherchen den Eingangsbereich der Krone in Hundwil neu ausgemalt und nimmt die Zierelemente der Rokokomarmorierung des Hauses wieder auf. Jeannice Keller und Peter Stoffel haben unabhängig voneinander das Thema der Fahne für sich entdeckt, einmal vor dem Schlössli in Appenzell und einmal auf der Ebenalp und dem Schäfler. Stefan Inauen renoviert das zur Grümpelkammer abgewertete Heim des Schützenvereins im Hof Weissbad und Barbara Brülisauer bringt einen Baum neben dem Stoss zum Sprechen. Fotografie, Plastik, Malerei, Video, Tischgespräch oder die Mental Sculpture wie von Karin K. Bühler – das Spektrum ist so breit wie das einer ausgewogenen Speisekarte. Damit möglichst viel davon genossen werden kann, hat die Projektgruppe hinter „à discrétion“ Tourenvorschläge erarbeitet. Ob mit dem Velo, zu Fuss oder mit Postauto und Bähnli – sie laden ein, sich auf den Weg zu begeben, um Gaumen, Augen und Hirn gleichermassen anzusprechen.

Darf’s noch etwas mehr sein?

Tausendfränkige Kunst

Neun Kunstschaffende bekommen je 1000 Franken – was sie damit kaufen, soll ein Werk geben. «Shopping» heisst die Sommer-Kunstaktion von Arthur junior, am Samstag geht es los im Konsumrausch.

Kunst und Geld gehören zusammen. Künstlerische Arbeit kostet Geld, kuratorische Arbeit ebenso. Material kostet, Räume kosten, Werbung, Versicherung, Aufsichtspersonal, die Liste lässt sich lange fortsetzen. Ausstellungshonorare sind indes noch kaum verbreitet, aber umso vehementer gefordert. Demgegenüber steht die Ware Kunst, das Investment, das Spannungsfeld zwischen privatem Sammelengagement und dem Auftrag der öffentlichen Hand.

Mit all dem beschäftigt sich Arthur Junior in diesem Sommer auf unbefangene, geistreiche und experimentelle Weise und hat dafür neun Kunstschaffende nach Wil eingeladen. Ihnen werden am 9. Juli je 1000 Schweizer Franken übergeben, mit zwei Bedingungen: Der gesamte Betrag muss in den Geschäften an der Oberen Bahnhofstrasse in Wil ausgeben werden, und es muss daraus eine künstlerische Arbeit entstehen. Wie und was sie einkaufen, ist den Kunstschaffenden freigestellt – ob beim Optiker, im Restaurant, beim Coiffeur oder in der Drogerie, im Reformhaus, im Buchladen oder wo auch immer.

Das Projekt wird von privaten Stiftungen, der IG Obere Bahnhofstrasse und der öffentlichen Hand getragen. Die Unabhängigkeit bleibt gewahrt. Wirtschaftliche Interessen sollen das Konzept nicht beeinflussen, im Gegenteil: Es wird kritikfähiger Raum geschaffen, den die jungen Künstlerinnen und Künstler beleben. Diese haben sich im Vorfeld für die Aktion beworben. Mit dabei sind aus Zürich James Stephen Wright, Martina Mächler, Nina Emge und Samuel Koch, aus Berlin Lucy Biloshytskyy und Catherine Xu und aus Düsseldorf Edmée Laurin, Fridolin Schoch und Domingo Chaves. Die zwei letztgenannten haben Ostschweizer Wurzeln. Ihr «Heimspiel»-Auftritt ist noch nicht allzu lange her, und auch da schon zeigten sie, dass ausstellen nicht statisch bleiben muss, weder für die Kunstwerke noch für das Kunstpublikum. Auch in Wil wird es nicht bei einer Frontalpräsentation bleiben.

Darüber hinaus findet Shopping, wie es der Name verheisst, schon während des Konsumierens statt. Damit ist das grosse Einkaufen mehr als eine Ausstellung, es ist Aktion, Interaktion, Reflexion, behandelt Fragen des Marktes, des Alltags und der Kunst. Aufeinander treffen diese Fragen auf einer öffentlich zugänglichen und vielgenutzten Plattform, der Ladenstrasse – also im analogen Herz der ganzen Angelegenheit. Mit Shopping, seinem sechsten Projekt, ist Arthur Junior bei einem der grossen zeitgenössischen Themen angekommen.

Ein perfekter (Garten-)Tag

Die Idylle trügt, auch im Weiertal. Zwei Weiher, ein Bachlauf in der Wiese, kleine Brücken darüber. In den Rosenbüschen summt und flirrt es. Die Obstbäume, selbstverständlich alles Hochstämmer, tragen reichlich Früchte. Im gemähten Gras dürfen die Gänseblümcheninseln weiter wachsen. Leiser Wind säuselt durch die Blätter. Alles so schön, rumorten da nicht unheimliche Wesen. Sind es tierische Laute? Menschliche? Ausserirdische? Sie ertönen aus einem Stahltank auf der Wiese. Zu klein für ein Silo, zu gross, um übersehen zu werden. Ein Fremdkörper im Grün, einer von vielen. Wieder einmal ist im Kulturort Weiertal die Kunst gelandet. 40 Künstlerinnen und Künstler der IG Archiv Ostschweizer Kunstschaffen präsentierten ihre Arbeiten zwischen Baum, Bach und Gartenhaus und im umgebauten Pferdestall. Sie reagieren auf die üppige und doch gestaltete Natur mit grellbunten Objekten. Sie setzten Interventionen und provozieren Irritationen.

Hat da tatsächlich jemand einen zusammengeknoteten Plastiksack vergessen? Schmelzen dort fremdartige Hutpilze in der mitteleuropäischen Sommerhitze dahin? Wer hat die Frucht vom Baum der Erkenntnis verloren? Hineinzubeissen empfiehlt sich nicht, der riesige Apfel ist aus Stein, aber zartes Streicheln offenbart seine Qualitäten als Handschmeichler. Anfassen erlaubt. Die Hemmschwellen sind gering in diesem wunderbaren Garten. Die Kunst ist nahe, präsentiert sich auf Augenhöhe im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Die Zehenspitzen sind nur nötig für manche der kleinen Holzboxen, die nistkastengleich an den Stämmen hängen. Es sind kleine Bühnen für die grossen Namen, für da Vinci, Vallotton, Breughel oder Botticelli. Bloss keinen übersehen. Der Rundgang gerät zur Entdeckungsreise. Manches ist gut versteckt, die kleinen Metallplaketten an den Stämmen etwa. Für einmal enthalten sie nicht die botanisch korrekten Bezeichnungen der Bäume, sondern laden zum Seitensprung oder auch nur zur grossen Liebe.

Über allem baumelt das Motto der Ausstellung „Just a perfect day“ im Wind und erinnert an Lou Reeds melancholisches Lied. So ist der Garten nicht nur Paradies, er ist auch Ort des Sündenfalles. Der Stacheldraht ist bis in die Wipfel gelangt und am Eingang zum Garten erinnert ein Miniaturgebirge aus Gletscherabdeckvlies an die Gefährdung der Natur. Der Schwan auf dem Weiher wird plötzlich verrückt und speit Wasser. Nur die Ameisen bauen unbeirrt an ihrem Nest bis sie sich im weissen Rauschen auflösen. Nur der Hügel bleibt und der Garten wartet.

Chance of Serendipity

Simon Starling arbeitet nach dem Serendipitätsprinzip. Er ist offen für Anregungen von aussen, verwendet vorgefundene Artefakte, bezieht sich auf natürliche oder kulturelle Gegebenheiten und überführt selbst das Reisen in seine Arbeit. Sein Referenzsystem ist dicht, aber nie erdrückend. Auf spielerische Weise setzt er neue Bezugspunkte, beispielsweise für das neue Naturmuseum St.Gallen: In seinem Kunst am Bau-Projekt bringt Starling Originalfiguren des Broderbrunnens, dem ersten und wichtigsten Monumentalwerk des Bildhauers August Bösch auf den Weg zum Bodensee. In der Lokremise St.Gallen werden die Wurzeln des Projektes im Denken und Arbeiten Starlings gezeigt.

Hoch aufgerichtet mit graziler Gestik steht die Nymphe auf dem Sockel und verabschiedet sich von ihren beiden, noch fischgeschwänzten Schwestern: „das filtrirte, gereinigte Wasser sagt den Fluthen des Sees und seinen Bewohnern Valet und stellt sich in den Dienst des menschlichen Fortschritts, einer höheren Kultur.“ So deutete J.B. Grütter den neu errichteten St.Galler Broderbrunnen im Appenzeller Kalender des Jahres 1898. Weiter heisst es, der von August Bösch Brunnen gestaltete Brunnen „versinnbildlicht das segenspendende Erlösungswerk der Wasserversorgung. Ihre Anlage selbst ruht, den Blicken verborgen, in der Erde Schooß; Aufgabe des Künstlers war es, die gewaltige That in figürlicher Weise zur Anschauung zu bringen.“ Ein sichtbares künstlerisches Zeichen also für das unsichtbare Ingenieurswerk und damit auch für die Versorgung der wachsenden Stadt mit Wasser. Für den Brunnen jedoch wurde ausgerechnet das Wasser zum Problem. Regen liess die Galvanobronze der Brunnenfiguren so stark erodieren, dass sie Ende der 1990er-Jahre durch Neugüsse aus der Kunstgiesserei St.Gallen ersetzt wurden. Die Originale wurden eingelagert im Historischen Museum und von Simon Starling wiederentdeckt – über Umwege.

Der britische Künstler war 2013 für den Kunst-am-Bau-Wettbewerb für das neue Naturmuseum eingeladen worden und begab sich wie so oft in seiner Arbeit auf die Spur spezifischer lokaler und ökologischer Gegebenheiten: „Als ich begann, über das Projekt nachzudenken, begegneten mir die Bilder des Broderbrunnens auf der Website der Kunstgiesserei – ein glücklicher Zufall, denn mich interessiert die Wendung: Die Bösch-Skulpturen sind ein Symbol für die erfolgreiche Nutzung des Wassers. Ironischerweise hat das Wasser sie zerstört. Sie sind durch den sauren Regen angegriffen worden.“

Für Zufälle und Wendungen wie diese ist Starling sehr offen. Er erlaubt seiner Kunst sich ihre eigenen Wege zu suchen, schätzt es, über Anregungen von Aussen zu stolpern und wieder weiter zu gehen: „Die Dinge finden dich. Methodisches Vorgehen ist viel weniger wichtig, als die Dinge passieren zu lassen – auf ganz verschiedene Weise: Projekte führen mich zu neuen Entdeckungen, und ich trage stets einen Rucksack halbausgearbeiteter Ideen mit mir.“ Ideen, die Starling aus bestehenden Systemen heraus entwickelt oder in der Auseinandersetzung mit der künstlerische Arbeit Anderer findet: So liess er eine Replik von Henry Moores „Krieger mit Schild“ für sechs Monate im Lake Ontario versenken. Verbreitet durch den weltweiten Schiffsverkehrs haben sich dort Wandermuscheln neue Reviere erobert und ebenso die Plastik besetzt. Die invasiven Muscheln, das britische kulturelle Erbe in den Kolonien, die Bootsreise von Moore und Muscheln, die Schalentiere auf Krieger und Schild – Starling schleust die Replik in ein lebendiges Ökosystem ein und legt damit mehrere neue Bedeutungsschichten um Moores Werk.

Starlings Kunst bildet einen Lebensraum für die Natur. Der Künstler hat beispielsweise ein Floss gebaut für eine Kolonie unerwünschter Rhododendren am Loch Lomond, Schottland, und ein Kakteenhaus mit der Abwärme eines Verbrennungsmotors beheizt. Die Symbiose von Kunst und Natur wirkt in beide Richtungen lebensunterstützend. Mit der Arbeit von August Bösch ist es nicht anders. Die drei Brunnenfiguren aus der Sockelzone der Nymphengruppe werden von Starling neu platziert und damit eingepasst in bestehende und neue Interpretationsebenen. Die durch das Wasser angegriffenen Originale werden in Vitrinen gesetzt und ihnen gegenüber wird jeweils spiegelbildlich ein Zwilling den Wasserhaushalt unter der Glashaube regulieren: „Die Figuren kehren zurück in den öffentlichen Raum in Begleitung von neu angefertigten Body Doubles. Diese zeitgenössischen Repliken werden aus drei verschiedenen hygroskopischen Materialien gefertigt. So absorbieren und speichern sie das Wasser aus der Umgebung und bewahren die Originale vor weiterem Zerfall.“ Die neuen und die originalen Plastiken sehen einander an. Und beinahe nebenbei transportieren sie sinnbildhaft die Inhalte des Naturmuseums, ist dieses doch eine „abstrakte Angelegenheit“ so Simon Starling. Es zeigt die transformierte Natur in artifizieller Umgebung. Auch der anmutige Schwanenreiter und die Wasserkinder auf Schildkröte und Fabelfisch repräsentieren Natur. Mit der neuen Aufstellung der drei Figuren erhält das Museum ein Pendant im Aussenraum – ein Museum der doppelten Originale, derjenigen von Bösch und von Starling, ein Museum mit Vitrine zwar, aber ohne Schwelle und mit einer Spur zum Wasser: „Mit den drei Elementen der Arbeit zeige ich die Achse vom Broderbrunnen über das Kunstmuseum (in dem sich derzeit noch das Naturmuseum befindet), das neue Naturmuseum in der Rorschacher Strasse bis hin zum Bodensee, der Quelle für den Broderbrunnen und die städtische Wasserversorgung.“

In der Kunstgiesserei St.Gallen wird derzeit an den hygroskopischen Zwillingen gearbeitet. Das Double des Kindes mit Fisch wird aus Holzkohle gefertigt – eine besondere Herausforderung, da ein Holzblock in Gestalt der Figuren verköhlert wird und dabei ein Drittel seines ursprünglichen Volumens verschwindet, seine finale Grösse aber derjenigen der Originalfigur entsprechen soll. Die Schwanenfigur wird in einem eigens entwickelten Gipskonglomerat verdoppelt, dafür werden Rohblöcke gegossen, getrocknet und in Form gefräst. Die Schildkröte mit ihren seltsam dreifach geknickten Beinen wird aus Silica-Kügelchen und gebundenem Kunststoffpulver im 3D-Drucker aufgebaut. Ihr Inneres wird mit Silica-Kügelchen gefüllt. Im Herbst werden sie dann mit ihren originalen Zwillingen die Doppelvitrinen beziehen.

Derzeit sind Böschs Originale in der vom Kunstmuseum St.Gallen bespielten Lokremise zu sehen. „Zum Brunnen“ nennt Starling die Ausstellung und kennzeichnet sie mit der Präposition im Titel als Station hin zum Werk im öffentlichen Raum. Während künftig den drei Bösch-Plastiken die hygroskopischen Zwillinge gegenüberstehen, sind ihnen in der Lokremise drei eigene Werke zugeordnet. Starling spielt hier mit den Elementen Erde, Wasser und Luft. Das Schildkrötenkind korrespondiert mit „Carbon ( Hiroshima )“, jenem Karbonvelo mit Nutzholz auf dem Gepäckträger und einer Kettenmotorsäge als Zusatzantrieb sowie zur Holzernte. Das klassische Baumaterial trifft auf einen modernen Werkstoff und ist gemeinsam für den multifunktionalen Einsatz bereit. Böschs Fischreiter ist neben „Project for a Floating Garden (After Little Sparta)“ platziert. Das Objekt aus schwarzen Röhren, bekrönt von einer dichten Bepflanzung, schwebt an vier Stahlseilen über dem Boden, einem hängenden Garten gleich. Es balanciert zwischen ökologischen und politischen Themen, antiker Kulturgeschichte und – in seinem Verweis auf Ian Hamilton Finlays Gartenlanlage – der neueren Kunst. Der Verweis auf das Fliegen eint Böschs Schwanenkind und Starlings Modellflugzeug in „Le Jardin Suspendu“. Auch die letztgenannte Arbeit birgt ein dichtes Gefüge von gesellschaftlichen Anspielungen und kulturhistorischen Versatzstücken. Wie so oft verwebt Starling Geschichten ineinander: „Zu jeder Arbeit gibt es verschiedene Geschichten, die einander überlagern. Auch in jeder Ausstellung, die ich mache, legen sich viele Schichten übereinander.“ Immer bewahrt sich der Künstler dabei eine spielerische Leichtigkeit. Dies zeigt sich auch in der Materialität der Werke: „Ich gehe pragmatisch vor. Die beste Arbeit ist jene, die ihre Ästhetik selbst generiert.“ Oft verwendet Starling vorgefundene Elemente, materiell ebenso wie inhaltlich. Er verflicht die Dinge, Orte, Umstände und ihre kulturellen Transformationen zu neuen Erzählungen.

Lokremise St.Gallen, bis 14. August 2016

www.kunstmuseumsg.ch

Dringlichkeit der Farbe

Farbe als Farbton, Farbe als plastische Materie – Arnaldo Ricciardi arbeitet mit der Farbe in beiderlei Hinsicht. Er verwendet sie in ihrer pastosen Qualität, streicht sie mit dem Spachtel auf und wieder ab. Der physisch intensive Arbeitsprozess visualisiert sich in einer lebendigen Bildoberfläche. Ebene Partien grenzen an raue, Stellen mit dichtem Farbvolumen treffen auf solche mit durchscheinendem Farbauftrag. Mal liegt Farbe wie ein lichter Schleier über darunter befindlichen Ebenen, dann wieder verdeckt sie alle tieferen Schichten wie ein undurchdringlicher, schwerer Vorhang. Wie zum Leben auch Reibung und Hindernis, ja sogar Wunden gehören, ist auch die lebendige Oberfläche der Gemälde mit Verletzungen durchsetzt. Die Schmalseite des Spachtels hat Furchen gerissen und Grate aufgeschichtet, hat eine schorfige Kruste hinterlassen. Die Drastik dieser Gesten ist noch gesteigert, indem sie mit glatt gespachtelten Flächen kontrastieren. Mal zeichnet sich das verwendete Werkzeug in breiten Bahnen ab, mal ist es in der bewegten Haut des Bildes kaum auszumachen.

Die Bilder Arnaldo Ricciardis sind Materialereignisse, sind energetisch aufgeladene Kraftfelder. Auch mit den Farbtönen verhandelt der Künstler Kräfteverhältnisse. Grossflächig setzt er in neroterra, dialogo oder passaggio warmes, loderndes Rot ein. In anderen Gemälden ist Blau der farbliche Hauptakteur. In unterschiedlichen Helligkeitswerten, jedoch immer als reiner Ton öffnet es in punto di vista ein Fenster in den Bildraum hinein. In bluenote ist es von einem kräftigen Braun durchsetzt und an zwei Seiten eingefasst, während an der unteren Bildkante Schwarzbraun Halt verleiht, und links das Weiss einen weiten Raum eröffnet. Braun und Blau befinden sich hier in einem permanenten Wechselspiel von Anziehung und Fortstreben. In tazza grande ist helles Blau ganz an den rechten Bildrand gedrängt und entfaltet von dort seine Strahlkraft. Gelb als die dritte Primärfarbe spielt hingegen eine kleinere Rolle in der Arbeit Arnaldo Ricciardis. Es hat an Bildrändern regelmässig pointierte Auftritte, aber für grössere Flächen nutzt der Künstler einen stärkeren Kontraste zu den prägnant verwendeten Rot-, Blau- oder Schwarztönen: Intensiv, gleissend strahlt Weiss an Bildrändern auf oder dominiert das kompositorische Zentrum. Verwendet Arnaldo Ricciardi gebrochene Weisstöne so wie in grigiobianco 4 und grigiobianco 5, bringt er sie mit Grau- und Schwarzkontrasten zum Leuchten. Die oft verwendeten dunklen Töne geben Halt, rahmen hellere Flächen und verleihen den Bildern eine undurchdringliche Tiefe. Eine Besonderheit einiger der jüngsten Gemälde ist Ricciardis weitgehender Verzicht auf geschlossene Farbflächen. Exemplarisch hierfür ist raccolta. Der Duktus entfacht einen Sturm der Farben. Auch in ihm lassen sich Energiefelder feststellen, wenngleich sie eher Strömen als Flächen gleichen. Ricciardi folgt wie stets den kompositorischen Regeln in der Gewichtung des Bildganzen und seiner Teile. Jedes Bild des Künstlers verweist vollständig auf das ausgewählte und gezielt platzierte Material in eben dieser Anordnung und jedes seiner Bilder ist Ausdruck einer hohen künstlerischen Dringlichkeit.

Katalog Arnaldo Ricciardi, 2016

Mittags in einer Quartierbeiz

Dienstag, im Februar 2016: „Walter setze ich auf Drei, damit ich weiss, wo die Stammgäste sitzen.“ Es ist 11:45 Uhr. Noch ist es ruhig im „Adler“ in Herisau. In der Gaststube sitzen erst drei Gäste, einzeln an drei Tischen. Die junge Bedienung nutzt die Zeit, ihre weniger erfahrene Kollegin einzuweisen, worauf es ankommt: die Plätze der Stammgäste zu kennen, ein gutes Lokalisierungssystem für die Bestellungen im Kopf zu haben und Geschick bei der Platzierung der Mittagsgäste. „Wenn dort schon drei sitzen, dann nimm ihn aufs Zwei, also bei Tisch Acht, dann 81 oder 82.“ Technolekt der Gastrobranche, nützliche Merkhilfe, wenn es hektischer wird. Es ist 11:55 Uhr. Stammgast Walter trifft ein, gesellt sich zu einem der einzeln Sitzenden, man begrüsst einander mit dem Vornamen. Walter hängt die SOB-Jacke über die Stuhllehne. Bruno kommt herein und fragt, ob er mit der Postcard zahlen darf: „Nein Bruno, da musst Du abwaschen.“ Persönlich geht es zu und unkompliziert, deutlich und herzlich. Im Hintergrund singen die Pet Shop Boys einen alten Hit. Die Musik liegt wohl in der Mitte zwischen dem, was die jungen Servicefachkräfte für gewöhnlich hören, und dem Musikgeschmack der älteren Gäste. Dann um 12:00 Uhr sinkt der Altersdurchschnitt rapide. Vier Zimmermannsleute treten ein. Danach drei Elektrotechniker. Manch einer hat den Doppelmeter im Hosensack, alle tragen das Firmenlogo auf den Jacken. Die Holzbauer, die Informatiker, die Haustechniker. Letztere betreten die Gaststube 12:10 Uhr, fünf Minuten später kommt die Mannschaft der Kanalreinigungs-AG in Warnwesten. Die Zweier-, Dreier- und Vierergruppen suchen sich einen Platz, sie bleiben unter sich.

Die Gaststube ist gut gefüllt, und noch immer ist der Service gleich schnell wie beim ersten Gast: Kaum sitzt einer, hat er bestellt und im nächsten Augenblick steht das Schälchen Blattsalat auf dem Tisch. Bestellen, trinken, essen, zahlen – zwanzig Minuten, mehr braucht es dafür nicht im Adler. Ein paar Worte unter Bekannten passen auch noch dazwischen, manchmal über die Tische hinweg. Der erste Gast geht, es ist Walter. Um 12:25 Uhr werden die unbenutzten Gedecke abgetragen. Hier gehen die Uhren rascher als anderswo, ausser für den Pensionär. Er sass als erster in der Gaststube und lässt sich nun sein übriggebliebenes Rindsvoressen in eine Styrofoambox einpacken.

Das ist noch kein Zeichen des Aufbruchs. Stattdessen inspiziert der Alte den geflochtenen Tischkorb mit den süssen Sachen und die Bedienung weiss, was jetzt passiert: „Typisch Stammgast, alle Snacks anlangen.“ Macht nichts, sie sind ja einzeln verpackt, aber „wer sein Zmittag nicht fertig isst, bekommt kein Dessert.“ Bekommt er doch, denn der scherzhaft drohende Ton ist Zeichen des Vertrautseins. Man kennt einander, und sicherlich schätzt der Pensionär bei seinem mittäglichen Gasthausbesuch gerade auch diese persönlichen Worte.

Viele der Gäste kommen wöchentlich in den Adler, andere täglich. Manch einer nutzt die kurze Mittagspause sogar noch für eine Zeitungsschau. Der“ Tagesanzeiger“ liegt aus, die „Appenzeller Zeitung“, der „Blick“. Im Hintergrund trällert Kylie Minogue. „Isch‘s guet gsi?“, erkundigt sich die junge Schwarzhaarige und erhält Zustimmung. Der Fackelspiess, das Rindsvoressen, beides sehr fein. Montags bis freitags hat der Adler geöffnet und jeden Mittag gibt es drei Menüs. Zwei mit Fleisch, eines ohne. Das Vegimenü wird heute von niemandem geordert. Dabei klingt Gemüselasagne durchaus verheissungsvoll.

Eine Frau betritt die Gaststube, der erste weibliche Gast? Wie selbstverständlich begibt sie sich hinter den Tresen – die Bedienung erhält Verstärkung. Und es werden doch noch einmal neue Gedecke benötigt. 12:45 Uhr kommen drei Männer in Tarnkleidung aus der nahen Kaserne in den niedrigen Schankraum. Einen freien Tisch gibt es nicht mehr und noch nicht, sie setzen sich anderswo dazu. Es dauert nicht mehr lange, dann leert sich das Lokal, 12:55 Uhr begeben sich alle Handwerker wieder an die Arbeit. Der Pensionär hat seinen Kaffee erhalten, so langsam wird es ruhiger.

Obacht No. 24 | 2016/1

Miriam Sturzenegger „Woran sich halten?“, 2016 Künstlerbuch

Schwarz auf weiss – was geschrieben ist, gilt. Besonders, wenn es gedruckt ist und gebunden. Buchdeckel bieten den Worten Halt, Bücher den Lesenden. Bücher versprechen Verlässlichkeit, Echtheit, Beständigkeit, ganz gleich ob es sich um Fiktion oder einen Forschungsbericht handelt. Ein Buch ist immer real. Miriam Sturzenegger spürt der Ambivalenz des Buches nach, seinen Verheissungen ebenso wie den Irrtümern, seiner Präsenz als Objekt ebenso wie seinem geistigen Raum. Die Künstlerin denkt über das Medium Buch nach, indem sie eines publiziert. „Woran sich halten?“ nennt Miriam das Künstlerbuch und siedelt es damit in dem grossen Dazwischen an: dort, wo das Pendel zwischen wahr und falsch hin und her schlägt, wo fragen gleich hinterfragen ist. Ist Wahrheit überhaupt möglich? Wie zu ihr gelangen? Der Zweifel macht die Wahrheit interessant und birgt das Potential der Behauptung. Gibt es den einen richtigen Weg? Die eine richtige Antwort?

„Woran sich halten?“ lässt sich pragmatisch auf konkrete Situationen oder Fragen beziehen und strahlt von dort auf das ganze Leben aus. So hat Miriam Sturzenegger beispielsweise Gabriel Walsers Alpsteinbeschreibung aus der „Neuen Appenzeller Chronick“, herausgegeben 1740, für das Buch transkribiert. Walser versucht, den Alpstein so genau wie möglich zu beschreiben. Er versucht ihn zu fassen, seine Eigenheiten, seine Wiesen, Seen, Höhlen und Löcher. Er eignet sich die Landschaft sprachlich an, um seine eigene Begeisterung für sie auf andere zu übertragen. Die Landschaft ist ihm Identifikationsort und ist doch nur durch die Sprache zu vermitteln. Im Wunsch, wahr zu sein, alles zu erfassen, verstrickt sich Walser in Wiederholungen, das Typische wird austauschbar. Doch der Wunsch nach Halt besteht weiter. Lassen sich aus dem Vergangenen Regeln für die Gegenwart oder gar die Zukunft ableiten? Wie lässt sich die Welt verstehen? Miriam Sturzenegger zeigt auf subtile Weise, wie sich nicht nur die Bewertung einer Landschaft, sondern auch der Weltereignisse verändert. Sie hat in ihrem Buch die Chronik des Appenzeller Kalenders aus dem Jahr 1836 aufgelistet. Dort ist angegeben, wie viele Jahre seit dem jeweiligen Ereignis bis zum Herausgabejahr des Kalenders vergangen sind. Die Liste beginnt mit dem Jahr der Erschaffung der Welt, gefolgt von jenem der Sintflut. Die Künstlerin hat sämtliche Angaben für das aktuelle Jahr umgerechnet und um Ereignisse nach dem Jahr 1836 ergänzt. Damit stellt sie die historische Übersicht nicht bloss, sondern richtet mit ihrer subjektiven Auswahl die Aufmerksamkeit auf den Wunsch der Menschen, die Welt zu erkennen und zu deuten. Einen anderen Weg, die Weltgeschichte zu fassen, wählte der Urururgrossvater der Künstlerin. In seinem Heimatort Trogen setzte er drei Riesenmammutbäume: den ersten nach der Schlacht von Königgrätz 1866, den zweiten nach der Schlacht von Sedan und den dritten nach dem Friedensschluss von Versailles 1871. Die Bäume stehen in einem besonderen Verhältnis zur Zeit, da sie einerseits Ausdruck einer vergangenen Gartenkultur sind und andererseits lebende Zeugen historischer Ereignisse: Trotz des Anlasses ihrer Pflanzung und ihres Alters sind sie immer auch Teil der Gegenwart. Miriam Sturzenegger verwendet in ihrem Künstlerbuch eine Fotografie der Bäume, zeigt aber immer nur Fragmente. So gleicht der Blick einem Suchen. Die Ausschnitte repräsentieren Ausblicke, doch nie auf das Ganze. Damit gleichen sie allen Versuchen, die Geschichte oder Gestalt der Welt zu fassen: Sie bergen Raum für die Zweifelnden.

Text für die Kulturlandsgemeinde 2016 in Stein