Von Schönengrund zum Mittelpunkt der Erde – FMSW
by Kristin Schmidt
Ein Kunstbeitrag zur Kulturlandsgemeinde Mitten am Rand, 2014 in Schönengrund
Die geografische Mitte der Schweiz liegt in der Gemeinde Sachseln – oder bei Thun. Je nachdem, welche Berechnungsmethode zur Ermittlung des Landesmittelpunktes angewandt wird. Eine der möglichen Methoden sucht beispielsweise den Schwerpunkt eines zweidimensionalen Landkarten-Modells, gerade so als werde eine zweidimensionale Karte ausbalanciert. In der Schweiz ist dieser Punkt auf der Älggi-Alp im südlichen Gebiet der Gemeinde Sachseln. Ein zweiter Mittelpunkt der Schweiz liegt am weitesten von den Landesgrenzen entfernt: in Uetendorf bei Thun.
Die geografische Mitte ist ein Konstrukt. Genauso wie der geografische Nullpunkt der Welt: Rund 600 Kilometer südlich der Küste Ghanas kreuzt der Nullmeridian den Äquator. Bestimmt wurde er anlässlich der Internationalen Meridiankonferenz 1884. Seither liegt er in der Londoner Sternwarte Greenwich und fixiert das Gradnetz der Erde. Als gedachtes Koordinatensystem zur geografischen Ortsbestimmung ist es in Zeiten der weit verbreiteten GPS-Navigationgeräte zum vielgenutzten Referenzsystem geworden. Aber kaum jemand interessiert sich für jenen Punkt auf Position N 0°00‘000‘‘‘ E 0°00‘000‘‘‘ respektive S 0°00‘000‘‘‘ W 0°00‘000‘‘‘ im Atlantischen Ozean – ausser das Künstlerkollektiv FallerMiethSüssiWeck.
Die vier haben immer wieder die eigene Position untersucht, sie waren mit GPS unterwegs, fuhren mit einem Schiff Figuren in die Ostsee und versenkten schliesslich im Rahmen einer eigens durchgeführten Expedition eine Edelstahlkugel im Golf von Guinea, als sichtbares, unsichtbares Zeichen am Nullpunkt der Welt. Oder ist die Null nicht vielmehr der Erdmittelpunkt? Demnach läge Schönengrund nicht nur 844 Meter über dem Meer, sondern 6371,844 Kilometer entfernt vom Nullpunkt der Erde – ungefähr, denn die Erde gleicht eher einer Kartoffel als einem Ball. Deshalb sind auch dreidimensional gesehen mehrere theoretische Mittelpunkte vorhanden. Davon lassen sich FallerMiethSüssiWeck aber kaum beeindrucken, denn etwas berechnen ist das eine, aber selber forschen, selber graben, selber erfahren ist das andere.
Die vier Absolventen der Kunsthochschule Berlin-Weissensee haben die Schaufeln in die Hand genommen, um selbst den Erdmittelpunkt zu suchen. Dass Schönengrund dafür nicht die idealen Voraussetzungen bietet, ist ihnen bewusst. Schliesslich gibt es viele Orte auf der Welt, die deutlich tiefer liegen. Aber bei einem geplanten Bohrloch von über Sechstausend Kilometern kommt es auf ein paar Hundert Meter mehr nicht an. Zumal der Schönengrunder Tiefbauer und Gemeinderat Hans Brunner und seine Kollegen Profi-Werkzeuge und Schalungsbretter zur Verfügung stellen. Hindernisse kommen jedoch von anderer Seite, oder wie Brunner es formuliert: «Schönengrund ist nur schön, wenn man nicht im Grund gräbt“. So machen Wassereinbrüche und Sandsteinbrocken die Grabungen nicht einfacher. Wer weiss, vielleicht kommen auch noch jene Riesenpilze dazwischen, die Jule Vernes Romanhelden auf ihrer Reise zum Mittelpunkt der Erde entdeckten? Aber die Vorstellung, dass Schönengrund den direkten Kontakt zur Mitte bekommt, spornt Lina Faller, Marcel Mieth, Thomas Stüssi und Susanne Weck an. Ausserdem zählt die Geste des Versuches. Dabei sind die vier in bester Gesellschaft. Geologen bohren immer wieder in die Erde, zum Beispiel auf der russischen Halbinsel Kola. Mit einer Tiefe von 12.262 Metern ist die dortige Bohrung seit 1979 die tiefste der Welt. Höchste Zeit also für einen neuen Rekord.
Obacht Kultur, Nr. 19, Heft 2/2014