Chatten bis der Tod kommt?
by Kristin Schmidt
Enda Walsh Stück „Chatroom“ thematisiert die Gefahren des Internets. Unter der Regie von Matthias Flückiger wird es jetzt von Schülerinnen und Schülern der Kantonsschule am Burggraben aufgeführt.
Anfang des Jahres kreiste ein Youtubevideo durch die sozialen Netzwerke. Es war bereits ein halbes Jahr alt und zeigt die Psychologiestudentin Julia Engelmann beim Poetry-Slam in Bielefeld im Sommer 2013. Der pathetische Refrain ihres Stückes lautet: «Eines Tages, Baby, werden wir alt sein und all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.» Die sechseinhalb Millionen Klicks für ihr Video suggerieren, dass es vielen so geht: Engelmann ist gefangen zwischen fehlendem Mut, der Angst, etwas zu verpassen und der eigenen Lethargie. Dabei ist sie erst Anfang 20. Die Protagonisten in Enda Walshs Stück «Chatroom» sind 15 Jahre alt. Auch sie haben es satt, zu warten, dass etwas passiert. Erst diskutieren sie nur, aber sie sind auf der Lauer. Sie treffen sich in der virtuellen Welt. Sie nehmen andere Namen an. Sie wissen nichts voneinander, ausser, dass sie gleich alt sind, in derselben Stadt wohnen und der Mittelschicht angehören. Geldsorgen haben William, Eva, Jack und Emily also nicht, sondern vor allen Dingen Langeweile.
Sie sind allein mit sich und ihren Weltsichten. Die leere Bühne in der Kantonsschule am Burggraben bietet ihnen keinen Schutz. Die Jugendlichen oder vielmehr ihr virtuelles Ich ist exponiert. Einziges Requisit ist ein Cafeteria-Stuhl für jeden. Das verlangt den Schauspielerinnen und Schauspielern einiges ab, aber sie meistern den Abend mit Bravour. Die Choreografie der Figuren und Stühle gibt der Inszenierung von Matthias Flückiger das Gerüst. Das Betreten und Verlassen der Chaträume, auch das Schweigen der Beteiligten wird durch die Positionswechsel und eine ausgeklügelte Lichtregie visualisiert. Nur einer kommt von draussen: Jim (Lukas Spitzenberg) betritt die Szene als Aussenseiter, er ist der verzweifelte Sinnsucher, der sich von den Schatten seiner Kindheit nicht zu lösen vermag. Er hat bereits Hilfe bei Laura (Antonia Freiwald) gesucht. Doch diese erteilt im Raum für Selbstmordgefährdete grundsätzlich keine Ratschläge.
Die anderen hingegen haben sich soeben zu den «verdammten Besserwissern» formiert. Hier werden Ratschläge gern gegeben, und vor allem schnelle Urteile gefällt. Rachephantasien bis hin zum Mord können folgenlos durchgespielt werden. Solange dies virtuell passiert, ist das kein Problem, aber unbefriedigend für die Vier. Als Jim in den Chatroom kommt, ändert sich das. William (Eric Szabo-Félix), ein zynischer Überflieger, und die abgeklärte, scharfsinnige Eva (Lea Greiner) erkennen sofort ihr potentielles Opfer. Da können auch Jack (Jonas Senn) und Emily (Chiara Wagner) mit ihrer wachsenden Empathie nichts ausrichten. Oder doch?
«Chatroom» ist ein Lehrstück über Cybermobbing, das nicht als solches daherkommt, weil es auf Augenhöhe mit den Angesprochenen bleibt. Es zeigt, wie viel im rein schriftlichen, satzweisen Austausch zwischen den Zeilen gelesen werden müsste, um ein einigermassen vollständiges Bild der Personen und Anliegen zu erhalten, denn «im Chatroom sind Worte Macht»…
Gesprochen werden ausschliesslich Chatkonversationen, doch die sechs Kantonsschülerinnen und -schüler zeigen so viel mehr von ihren Figuren. Sie haben sich intensiv in die Charaktere hineingearbeitet und bringen deren Identität überzeugend auf die Bühne. Auch die feinen Verdrahtungen zwischen den Figuren, die im virtuellen Raum Halt geben könnten, aber nur allzu leicht fehlgedeutet oder übergangen werden, zeigen sich eindrücklich im Spiel der Sechs. Es ist mitunter nur ein kurzer Blickkontakt, der alles sagt und der unersetzlich ist. Da reicht eben keine Kombination aus Doppelpunkt, Bindestrich und schliessender Klammer.