Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Malerei stiftet Raum

„Die Malerei ist die Kunst des Sichtbaren. Vom Standpunkt des Malers aus ist Malerei die Kunst des Sichtbarmachens von etwas, das durch ihn sichtbar wird und vordem nicht vorhanden war, dem Unbekannten angehörte.“ Willi Baumeister[1]

Jedes Bild Arnaldo Ricciardis ist aus dem Inneren heraus erzeugt. Statt über die Bildräume hinaus zu spekulieren, arbeitet der Künstler an der sinnlichen Gegenwart eines jeden Bildes, ohne anekdotisches Beiwerk und Beliebigkeit. Er widmet sich ganz der Kraft von Farbe und Fläche in ihrer ruhigen, konzentrierten Form, ihrer unaufgeregten Präsenz: Der Farbkanon ist zugleich sparsam und spannungsvoll, so wie die Komposition seiner Gemälde. Meist legt er helle, weiss- oder grau getönte Flächen über dunkle. Damit öffnet er seine Werke: Der Raum wölbt sich nach vorn, er leuchtet. Die dahinter liegenden dunkleren Ebenen verankern die helle Fläche im Grund. Sie führen in die Tiefe des Bildraumes zurück. Auch leuchtendes Rot oder Blau finden ihren Platz. Werden diese Farben als letzte Schicht aufgetragen, intensivieren sie den Ausdruck der Bilder. Aber auch kleinere gelbe oder grüne Partien sorgen für eindrucksvolle Kontraste in der ansonsten gemässigten Palette. Wenn sie aus der Tiefe hervor dringen, bringen sie die raumstiftenden Energien der Farbe zur Geltung.

Der Raum selbst entsteht durch die Organisation der Farbe im Format. Ricciardi arbeitet mit Pinsel und Spachtel, er trägt Farbmaterial auf, entfernt es wieder, setzt neue Schichten darüber. Jedoch gerät der Duktus nie zum Selbstzweck, immer fügt sich die Farbe zu einer Form mit belebter Binnenfläche und offenen Konturen. Die Form wiederum korrespondiert mit dem Rechteck der Leinwand als kompositorischer Ausgangslage. Die in ihren Grundzügen daher geometrische Form nähert sich den Bildrändern an, verläuft fast parallel, entfernt sich mal mehr, mal weniger stark.

Ricciardi balanciert seine Gemälde zwischen Ordnung und Spannung aus. Dynamik entsteht, wenn die bewegte Kontur leicht vom rechten Winkel abweicht, die gedachte Vertikale verlassen wird oder die oberste Fläche über eine Seite des Bildrandes hinausreicht. Immer wieder sind Balken, Streifen, freigelegte oder freigelassene Stellen darunter liegender Farbschichten zu sehen. Die Bilder tragen alle Stufen ihres Aufbaus in sich und geben doch nicht jede Stufe preis, denn der Künstler deckt seine Bilder mit jedem Arbeitsschritt weiter zu. Er legt Schicht über Schicht, Fläche über Fläche. Die oberste Farbfläche ist schliesslich die Summe aller darunterliegenden Farbschichten. Jedes Bild ist in hohem Masse verdichtet. Seine Farbmasse bildet in der zentralen Fläche einen blockhaften Körper. Frei von illusionistischen Bildräumen oder narrativen Details wird das Bild als Ganzes zu einem dinglichen Gegenüber, so wie es der belgische Kunsttheoretiker Thierry de Duve benennt: „In der besten abstrakten Malerei steht die Bildfläche mir gegenüber wie ein Gesicht, wie der Andere, der sich an mich wendet: weil sich der Maler zuvor an sein Bild gewendet hat. Genauer, der Maler wendet sich, wenn er malt an die Malerei“[2]. In Ricciardis Gemälden ist der Prozess der Raumklärung ebenso Bildinhalt wie das Verhältnis von Farbmaterie und Farbton, von Kontrast und Harmonie, von grundsätzlichen malerischen Fragen also. Diese werden jedoch nicht didaktisch vorgeführt, sondern künstlerisch erfahren. So reflektieren die Bilder Ricciardis die Malerei und sind zugleich im Malakt gefundene sinnliche Form.

Kristin Schmidt


[1] Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst, 1947, S. 180, zitiert nach: Laszlo Glozer, Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Köln 1981. [2] Ein Jahrhundert Malerei der Gegenwart. Ein Gespräch zwischen Bernhard Mendes Bürgi und Thierry de Duve, S. 21, in: Painting on the Move, Ausst.-Kat., Basel 2002

Katalog Arnaldo Ricciardi, 2014

Schönheit in Gefahr

Manon geht neue Wege. Die letztjährige Preisträgerin des Grossen Kulturpreises St.Gallen zeigt in der Galerie Christian Röllin eine eigens eingerichtete Schau mit dem Charakter einer Retrospektive und dem Blick nach vorn.

Zuerst war da die Nische: ein dreiseitig geschlossener Raumfortsatz, gerade gross genug für eine Person – und für ein Wandtelefon. Nun hängt es da, schwarz auf rot, und verkündet im Minutentakt die Zeit. Eben noch war es zwölf Uhr und zehn Minuten. Kurz darauf hallt die Frauenstimme erneut durch die ganze Galerie. Schon zwölf Uhr elf Minuten. Die Zeit vergeht. Manon hält sie nicht auf. Aber sie bannt das Vergehen in prägnanten Bildern und Installationen. Ihre aktuelle Ausstellung in der Galerie Christian Röllin widmet die Künstlerin ganz der Zeit und der Vergänglichkeit und hat dafür nicht nur die Werke eigens zusammengestellt, sondern einige neu entwickelt. Darunter das alte Wandtelefon mit stetig sich aktualisierender Zeitansage.

Zuvor hat bereits das Motiv der Einladungskarte die gesamte Vanitastradition in der Kunstgeschichte auf den Punkt gebracht: Der Spiegel als klassisches Symbol der Eitelkeit erinnert daran, wie verletzlich der Mensch ist und wie kurz seine Zeit hienieden. Dafür steht auch der Totenschädel. Trägt er obendrein eine lange Nase, ist der Narr nicht weit. Auch dieser stand durch seine Gottesferne und seine Nähe zum Teufel jahrhundertelang für die Vergänglichkeit, also für den Tod. Im Werk Manons jedoch lädt er sich mit zusätzlicher Bedeutung auf. Ist nicht ein Narr, wer dem eigenen Bilde glaubt? Ist nicht ein Narr, wer das eigene Bildnis festzuhalten versucht? In Zeiten omnipräsenter Kameras kann das Werk Manons, ihr auf das Bildnis gerichtete Blick und die wechselnde Inszenierung einer Person, völlig neu interpretiert werden.

Die in St.Gallen aufgewachsene und in Zürich lebende Künstlerin drängt dabei niemandem eine Lesart auf. Es ist eine besondere Qualität ihrer Werke, dass die Figur Manon Inhalte transportieren kann, ohne am Persönlichen kleben zu bleiben. Sie bleibt offen für andere, neue Geschichten. Dies zeigt die Ausstellung eindrucksvoll in der Zusammenschau der Werke und den daraus sich anbahnenden Dialogen: Manon stellt bekannte Werke unbekannten gegenüber, löst Bilder aus Serien und erprobt ungewohnte Anordnungen. So hängen über Kopfhöhe sechs Knieprothesen – Fundstücke der Künstlerin und erstmals in Werkform präsentiert. Diese mechanischen Ersatzstücke, Relikte des menschlichen Mutwillens rücken die Gefahr des Versehrtseins immer wieder in den Fokus, auch in dort, wo sie ursprünglich weniger offenkundig angelegt war. Ein Operationsinstrument in einer Fotografie ist dann eben ein medizinisches Hilfsmittel und nicht so sehr ein erotisch oder anderswie befrachtetes Objekt.

Auch formal geht Manon mit der Ausstellung neue Wege und arbeitet beispielsweise eine Installation um: «Drei Schwestern» war üppiger ausgestattet vor Jahren im Kunstmuseum St.Gallen zu sehen und ist jetzt reduziert auf den dreiteiligen Schminktisch mit Spiegel. Diese geänderte Aufstellung lässt manches in anderem Licht erscheinen, etwa die drei Aufnahmen aus «Hotel Dolores»: Die ursprünglich emotional aufgeladene Serie entstand über drei Jahre hinweg und wirkt im Kontext der Ausstellung weniger gefühlsbetont und dafür formal strenger.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Zirkel, das Werkzeug der Konstruktivisten wie der Konkreten, immer wieder in Manons jüngeren Arbeiten auftaucht. Eine neue Nüchternheit ist im Werk der Künstlerin eingekehrt, die gerade in ihrer Reduktion und Strenge wieder neue gedankliche Räume öffnet. Wer aber dennoch die Opulenz ihrer Arbeiten vermisst, wird sich auf die geplante Publikation zu allen ihren Performances und Installationen seit 1974 freuen. Und den Fotofreundinnen und -freunden sei die Edition anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Galerie Christian Röllin empfohlen.

Der grusige Herbert

2000 sollen es werden. Clarissa Schwarz kreiert Sockenmonster. In der Galerie vor der Klostermauer zeigt die St.Gallerin, dass sie Monsterkunde auch im zweidimensionalen Bereich beherrscht.

Neugierig grüssen sie durchs Fenster auf die Gasse: zwei frech-fröhliche Monster, solche von der harmlosen Sorte. Zum Glück, denn sie haben Hunderte von Geschwistern. Überall wimmeln sie herum in der Galerie vor der Klostermauer. Sie lümmeln sich in Ecken und auf Balken, sie tummeln sich in Bildern und treffen sich auf der Wand oder in einem Mobile. Unter ihnen sind so seltsame Wesen wie das Zwanzig-Herbert-Augenmonster, der hippe Paul und der durchgedrehte Harald. Erfunden hat die ganze Sippe Clarissa Schwarz.

Die Grafikerin und Illustratorin entwirft mit Tusche und Faserstift linear durchgestaltete Parallelwelten, die sich immer wieder auf die reale Welt beziehen. Zunächst erscheint alles abgehoben, verträumt, phantastisch, verspielt, aber dann tauchen im Bild „Planeten“ auch der Friedhof, der einsame Voyeur oder Kanonen auf. Clarissa Schwarz spielt hintersinnig auf das Bedürfnis an, sich möglichst von anderen abzugrenzen: Jedem seinen Planeten, jeder bekommt, was er braucht. Ganz gleich, ob es Glace oder Tankstellen sind, Ferien oder Zigaretten. Und selbstverständlich fehlt im Liebesnest der Darkroom nicht.

Leicht zu entdecken sind diese kleinen Anspielungen in den dicht gezeichneten Blättern freilich nicht. Drum gibt Schwarz eine Hilfestellung: Zur Ausstellung hat sie eigens ein mehrseitiges Heft entworfen. Es funktioniert wie eine Gebrauchsanweisung für ihre Bilder. Sie gibt darin erste Anstösse, bestimmte Details zu suchen. Der besondere Reiz dieser Vorschläge: Ständig kommen andere Einzelheiten in den Blick, das Auge bleibt hängen. Ist dann das gesuchte Wesen oder Ding gefunden, hat schon vieles mehr den Weg gekreuzt und einen das Bild schon völlig in den Bann gezogen.

So viel ist zu entdecken. Wer gern in den Wimmelbüchern der Kinder unterwegs ist, wird an den Bildern von Clarissa Schwarz das grösste Vergnügen finden. Sie sind jedoch nur ein Aspekt ihrer Arbeit. Eigentlich begann alles mit Socken. Die gebürtige Toggenburgerin verwandelt sie in geringelte, knopfäugige Sockstar-Monster. Sie präsentiert sie auf Kreativ- und Weihnachtsmärkten oder auch im Flon. Aber nicht nur das, sie gibt jedem der Gefährten eine Geschichte mit und einen Charakter. Folgerichtig ist jeder Kauf eine Adoption, selbstverständlich mit einer von Schwarz aufwändig gestalteten Adoptionsurkunde. Die Grafikerin überlässt nichts dem Zufall, alles ist mit ihrer zeichnerischen und ihrer typografischen Handschrift durchgestaltet und damit in den Schwarzschen Kosmos eingebunden.

So steht auch die Schlüsselinstallation im Obergeschoss der Galerie nicht einfach für sich. Zu jedem der 149 weiss angemalten Schlüsselchen gibt es ein kleines Zertifikat. Es bezeichnet den dazugehörigen Ort, so gibt es den Schlüssel zum Glück oder jenem zum Herzen. So einfach ist das. Hier oben wogen Wolken des Wohlgefühls. Aber im Erdgeschoss bebt es manchmal auch, da blitzt es von Nord nach Süd, Flämmchen züngeln und Dornenranken breiten sich aus.

Clarissa Schwarz durchsetzt ihre heiteren Welten mit kleinen Stacheln und gibt ihnen damit die Würze.

Ein Wochenhotel in Ebnat-Kappel

Die Kunsthalle(n) Toggenburg werden für eine Woche Hotelunternehmer. Das Hotel Arthur ist das neunte Ausstellung des Vereins.

Warum steht der Wohnwagen auf dem Dach? Weil ein Wirtshausschild auch nicht auf dem Boden platziert wird. So einfach ist das.

Der kleine Caravan oben auf dem Anbau des letzten Hotels in Ebnat Kappel heisst Arthur. Er ist seit Jahren das Kennzeichen der Kunsthalle(n) Toggenburg und ebenso mobil wie diese. Mit ihm wird das ehemalige Hotel Post nun für eine Woche zum Hotel Arthur mit allem, was zu einem gut geführten Übernachtungsbetrieb dazu gehört: Küche, Abendprogramm und natürlich individuell eingerichtete Zimmer. Selbst die eigens gestalteten Postkarten fehlen nicht. Sie sind der Beitrag von Karin Karinna Bühler zur Ausstellung. Sie hat Personen aus der Vergangenheit des Hotels interviewt und daraus eine farbige Schnittmenge entworfen – Grau kann so bunt sein.

Bühler ist eine der 13 Künstlerinnen und Künstler, die sich auseinandersetzen mit der Vergangenheit des Hauses und dem Tourismus überhaupt und speziell im Toggenburg. Einmal mehr erweist sich ein Hotel als perfekte Ausgangslage für die Kunst, ist es doch voller Geschichten. Selbst, wenn die Zimmer nach jedem Besuch geputzt werden, schreibt sich die Anwesenheit der Gäste ein, unsichtbar und für immer. Schliesslich haben sie einen kleinen Teil ihres Lebens hier verbracht, haben geträumt, geredet, gelebt. Jetzt sind sie zurückgekommen. Lika Nüssli lässt sie in expressiven Zeichnungen von den Zimmerwänden herabschauen. Bei Katja Grässli tanzen ihre Silhouetten auf der Wand bis der blutrote Teppich aus dem Zimmer fliesst. Joëlle Allet lässt Gregor Samsa nach seiner Verwandlung einziehen. Subtil porträtieren die Künstlerinnen den Geist früherer Zimmermieter. Nicht weniger spannend ist die Aussensicht: Karin Bucher aus Trogen inszeniert voyeuristische Blicke in das ehemalige Fremdenzimmer Nr. 4. Und Silvio Faieta vereint die zwei künstlerischen Strategien: Die Flimmerkiste läuft weiter, so dass der bläuliche Schein bis auf die Strasse zu sehen ist. Die Welt der Gäste überschreitet die Grenze von drinnen und draussen.

Zudem hat Faieta das Mobiliar ersetzt durch Fototapete von neuen Möbeln und nimmt so Bezug auf das Alter des Hauses, in dem seit Jahrzehnten nichts mehr verändert wurde. Auch dies ist ein lohnenswerter künstlerischer Ansatzpunkt. Peter Dew beispielsweise lässt die alten Kabel aus den Leitungen herauswachsen und sich verselbständigen. Stefan Roher und Mirjam Kradolfer schicken die Gäste durch einen Schlafsacktunnel in eine Welt, in der jedes Ding mehr als einen Zweck erfüllen muss. Silvia Gysi versetzt ihr Sonnenzimmer in die Zeit als man noch in die Sommerfrische fuhr. So präsentiert sie den Tourismus heiter bis wolkig. Auch er ein wichtiges Thema der Arbeiten, sind doch die veränderten Reisegewohnheiten der Grund, warum es das Hotel Arthur jetzt gibt und danach gar keines mehr in Ebnat-Kappel.

In Silvia Gysis Sonnenzimmer ist zu lesen: «Dass wir in Venedig waren, Manhattan, Rom, Paris ist selbstverständlich. Ob das in unserem Hirn eine Spur hinterlässt, bleibt eine offene Frage.» Das Hotel Arthur in Ebnat-Kappel hat grosses Potential für eine bleibende Spur.

Begleitprogramm: http://www.kunsthallen-toggenburg.ch/images/14/a2.pdf

Beteiligt Kunstschaffende: Karin Bucher, Joëlle Allet, Silvia Gysi, Oliver Zenklusen, Martin Walch, Werner Casty, Silvio Faieta, Lika Nüssli, Karin Karinna Bühler, Katja Grässli, Lois Hechenblaikner, Peter Dew, Mirjam Kradolfer & Stefan Rohner

Ostschweiz am Sonntag

Schluss mit der Bilderflut. Her mit den Bildern.

Knapp zweieinhalb Kilogramm Buch: In der Kunst Halle Sankt Gallen stellte Edition Patrick Frey Beni Bischofs «Psychobuch» vor. In diesem Band findet die tägliche mediale Bilderflut ihren Meister.

Es macht sich gut im Gestell. Passt gerade in die Lücke des nicht mehr benötigten Telefonbuches. Ein Ziegel sozusagen. Und dann diese Aufschrift auf dem Buchrücken: «Psychobuch», in schwarzen, fetten Lettern. Nicht zu übersehen. Wer so etwas im Büchergestell hat, outet sich. Allerdings nicht als Konsumentin oder Konsument von Ratgeberliteratur, sondern als süchtig, süchtig nach Beni Bischofs Bilderwucht.

Geschriebenes gibt’s nur wenig in dem Wälzer, aber dennoch Hilfe in allen Stimmungslagen, von «Laut» bis «Ernst» von «Lustig» bis «Ruhig» und für alles was dazwischen liegt. «Ruhig Lustig», «Laut Ernst», «Laut Lustig» und «Ruhig Ernst» also. Acht Kategorien für die ganze Welt aus Wurstnasen, Muskelprotzen, Fratzen und Katzen, Knete und Kitsch. All das also, was jeden Tag millionenfach durchs Netz strömt und auf Druckmaschinen landet. Was aufs Hirn schlägt und manchmal sogar aufs Gemüt. Der ganze Bilderstrom gebändigt zwischen den beiden Hälften einer Bratwurst, die überdimensional auf den Umschlaginnenseiten prangt. Gebändigt von Beni Bischof, der statt zurückzuschrecken, auf die Bilderflut losgeht und sie sich aneignet, mit den Fingern, mit Stiften, Würstchen und schliesslich diesem Buch. 640 Seiten sind es geworden. Es hätten vermutlich doppelt so viele sein können. Aber genau das ist die Stärke des Buches: Es ist dick und es ist schwer, aber es ist die Summe von Entscheidungen. Die Bilder fliessen nicht einfach immer weiter, sondern sie sind von Beni Bischof ausgewählt, es sind die richtigen.

Wem das nicht reicht, der hat noch die Wortsammlungen am Anfang eines jeden Kapitels. Hier stehen Titelideen und Satzfragmente aus des Künstlers Notizen. Sie sind alphabetisch geordnet, so dass Halluzinationen auf den Hammer treffen und der Mond auf das Museum für miese Kunst. Der Gescheite Hund spielt dummer Hund neben dem Gospel und dem Grossen Sumpf. Und St.Gallen?: „In St.Gallen geht die Post ab“ im (Kapitel) Ernst.

Mehr Infos unter http://www.psychobuch.ch/

Saienblog

Sehen und Glauben

In der aktuellen Ausstellung im Nextex fügen David Berweger, Felix Stickel und Miriam Sturzenegger ihre Werke zu einem stimmigen Freiklang. Sie widmen ihn einem Zweifler.

Thomas ist der Ungläubige unter den zwölf Aposteln. Er zweifelt. Er will Beweise, statt nur zu hören oder sehen, will mit seiner Hand die Wundmale Jesu berühren. Die Szene wurde in der Malerei oft dargestellt. Ausgerechnet. Denn wie glaubwürdig wäre dem Apostel dieses Medium wohl vorgekommen? Gemalte Motive spiegeln Realität vor. Aber was, wenn die Malerei gar nicht vorgibt, etwas abzubilden? Ist sie dann, was sie ist? Würde Thomas ihr glauben?

David Berweger, Felix Stickel und Miriam Sturzenegger haben Thomas mit dem Beinamen Blumenberg bedacht und senden ihn durchs Nextex. Sie machen es ihm nicht leicht. Zum Beispiel Berweger. Der Basler Künstler spielt mit dem realen und dem illusionistischen Raum. Er faltet Papier, bemalt es, so dass es wie ein Bilderrahmen wirkt oder wie das Bild darinnen, denn mal ignoriert er den selbst vorgegebenen Rahmen, mal bezieht er sich genau darauf, dann wieder evoziert die Malerei selbst Plastizität – das alles in ein und demselben Werk.

Berweger zeigt, was die Vorstellungskraft vermag und was der Künstler dazu beiträgt. Mühelos übersetzt er die illusionistischen Techniken der Renaissance ins Heute. Statt sich aber an gegenständlichen Sujets abzuarbeiten, genügen ihm Material und Medium, um die Behauptungen der Malerei herauszuarbeiten. Und es geht noch minimalistischer: die vier Meter lange Arbeit «Inkommensurabel» entdeckt nur, wer genau hinsieht. Sie reflektiert nicht nur den Illusionismus in der Kunst, sondern gleich noch den Charakter des Raumes: Das Nextex ist Ende 2010 in einen Rohbau gezogen. Manche der Wandpfeiler zwischen den Fenstern sind noch unverputzt, aber auch die neu eingezogenen Wände und die Platten der Decke. Nur die Stösse zwischen den Platten sind ausgespachtelt. Zum Glück, denn so hat Felix Stickel den perfekten unperfekten Untergrund für sein Deckengemälde gefunden. Es überspannt den gesamten Raum und erinnert ebenfalls an die Renaissance. Zwar ist es unmöglich, es als Ganzes zu betrachten, denn der Raum des Bürogebäudes ist viel zu niedrig, aber so zeigt das Streiflicht all die Unebenheiten besser. Details kommen in den Blick: die gesprayte Farbe, deren Hindernisse und die dynamischen, breiten Pinselschwünge, der Kontrast zwischen dem Hochweiss der Spachtelmasse, dem gebrochenen Weiss der Decke und der Palette Stickels. Endlich hat es einer gewagt, sich der Raumdecke anzunehmen und gewinnt.

Ein Wagnis sind auch Miriam Sturzeneggers eigens konstruierte Raumkörper. Ihre Dimensionen sind nicht zuordenbar und doch auf das menschliche Mass bezogen. Sie umfassen grosse Volumen und sind doch filigran. Fast erinnern die gelochten Eckprofile an Spitzenborte. Auf diesen metallenen Verstrebungen liegen gegossene Gipsplatten. Sie scheinen zu schweben, und ihre Oberfläche löst sich in den Spiegelungen von Innen- und Aussenraum auf. So funktionieren sie als Gegenstück zur Decke und zum papiernen, illusionistischen Diptychon. Sind damit Thomas´ Zweifel besiegt? Vielleicht braucht er aber auch eine extra Audienz bei seinem Namensvetter Blumenberg im Nextex.

Stadt, Land, Fluss

59 Orte, 59 Sound-Bohrungen – Sven Bösiger ist mit dem Mikrofon durch die Schweiz gereist und hat seine Aufnahmen anschliessend verdichtet. Ergänzt um Wort, Bild und Landkarte werden sie nun in der Kunsthalle Arbon präsentiert.

Flussläufe, Strassen, Weiler, Fünftausender oder Hügel – auf einer Landkarte hat alles Platz. Sämtliche geografischen und topografischen Gegebenheiten lassen sich darstellen, kodieren und dekodieren und zusammenfalten. Eine gefaltete Landkarte ist auf kleinstem Raum konzentrierte Information. Was ursprünglich flächig ausgebreitet war, liegt nun in vielen Schichten übereinander. So etwas funktioniert nur mit Papier – und mit Klängen.

Sven Bösiger verdichtet den Klang von Natur, Stadt, See. Der Künstler hat an 59 Stellen der Schweiz gebohrt, das heisst, er hat dort anderthalb- bis vierstündige Tonaufnahmen gemacht, sie pro Ort in zwanzigminütige Abschnitte unterteilt und diese anschliessend übereinandergelegt. Jede Audiosequenz besteht nun also aus mehreren Tonschichten derselben geografischen Quelle. Das klingt zunächst einmal nach Klangbrei, nach undefinierbarem Rauschen. Wer sich jedoch in der Kunsthalle Arbon in Sven Bösigers Installation die Kopfhörer aufsetzte, merkt schnell: Die Überlagerung steigert das Hörerlebnis. Säuseln, rascheln, rauschen, brummen und die vielen Tierlaute von zwitschern bis blöken führen aus der Kunsthalle heraus und hinein in den Gedankenfilm.

Bösiger hat die Aufnahmeorte nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und sie ebenso auch platziert. Jede Soundbohrung korrespondiert dabei mit dem dazugehörigen Kartenausschnitt. Verwendet hat der Künstler die 1:25000er Karten des Bundesamtes für Landestopografie, laut Swisstopo «die genauste und informativste topographische Karte der Schweiz für Wanderer, Alpinisten, Planer, Individualisten und Entdecker». Zu entdecken gibt es entsprechend viel, nicht nur, weil die Karten nochmals vergrössert sind, sondern, weil sie auf Schwarzweisstöne reduziert sind. Dadurch entstehen ganz neue Zusammenhänge. Thun etwa wächst beinahe nahtlos mit Zürich zusammen. Die Merlahütten erwartet die Städter von Martigny. Strassen verwandeln sich in Flüsse und Höhenlinien steigen plötzlich, statt zu fallen. Wer noch ein etwas mehr zu den rot gekennzeichneten Positionen der jeweiligen Aufnahmen erfahren will, sollte unbedingt Bösigers Notizen dazu lesen. Sie liegen in der Ausstellung aus und können in ihrer verdichteten, präzisen Sprache mühelos für sich stehen. So wie die Fotografien an der Wand – in Schwarzweiss und ebenfalls eigenständig. Sie sind kein konkretes Porträt eines Ortes, sondern Landschaften aus Körnung, Licht und Kontrasten und reiches Material für Kopfreisen.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/stadt-land-fluss/

St.Galerie war einmal

Braucht St.Gallen mehr Galerien? Weniger? Wieviele sind das Optimum? Wer braucht die Galerien? Der Markt? Die Kunstschaffenden? Das Publikum? Welche Räume sind attraktiv für die beiden letztgenannten? Was ist überhaupt eine Galerie? Geht es um die Kunst oder um den Kommerz? Lässt sich das trennen? Die Szene in St.Gallen ist in Bewegung, doch die Richtung des Weges ist ungewiss.

Vor wenigen Jahren wurde in St.Gallen das grosse Galeriensterben diagnostiziert. Susanna Kulli war 2004 nach Zürich gegangen, Wilma Lock hatte ihre Galerie 2009 geschlossen, die Galerie Friebe gab es nur drei Jahre lang, diejenige von Martin Jedlitschka gar nur zwei, zumindest am St.Galler Standort, und vor einem Jahr schloss nach 14 Jahren Tätigkeit die Galerie WerkART an der Teufener Strasse. Das Programm der Galeristinnen und Galeristen war sehr verschieden, ebenso wie die Gründe, aufzuhören. Oder gibt es ein grundsätzliches Problem für Ausstellungsräume dieser Art in St.Gallen? Wenn das so wäre, dann gäbe es die Galerie vor der Klostermauer nicht. Der kleine Kunstort in der Zeughausgasse besteht nun an immer demselben Platz seit 45 Jahren. Vor zwei Jahren war auch dort das Weiterbestehen ungewiss, das Konzept wurde hinterfragt, der Vorstand suchte Nachfolger. Aber der Übergang erfolgte nahtlos: Ein junges Team konzipiert weiterhin Ausstellungen regionaler Künstlerinnen und Künstler. Es wird viel ehrenamtliche Arbeit geleistet. Anteile an den Kunstverkäufen tragen nur zu einem kleinen Teil zum Gesamtbudget bei. Wichtiger sind da die Mitgliedsbeiträge.

Dass so ein Festbetrag von Vorteil sein kann, hat auch Francesco Bonanno erkannt. Seine Macelleria d´Arte betreibt er nun schon seit 25 Jahren in St.Gallen. Vor einigen Jahren hat er die Amici d´Arte gegründet, einen Freundeskreis, der seine Arbeit unterstützt. Nicht mit grossen Beträgen, sondern eher mit Kontinuität und einem verlässlichen Netzwerk. Davon abgesehen ist das Galeriegeschäft keines, das auf der Ertragsseite mit grossen Summen lockt. Zumindest nicht in St.Gallen, auch oder gerade dann nicht, wenn mit einem internationalen Programm gearbeitet wird. So, wie bei Paul Hafner. Er ist seit 20 Jahren in St.Gallen mit seiner Galerie. Ende letzten Jahres präsentierte er seine vielbeachtete Jubiläumsausstellung. Grosse Aufmerksamkeit fand sie allerdings nicht deswegen, weil die Kunst so schön, so hochkarätig oder so anspruchsvoll war, sondern weil sie überhaupt nicht zu sehen war. Paul Hafner zeigte die Werke verpackt. Was verkauft wurde, waren also die Namen, lokale aber auch internationale, bekannte eben. Der Galerist hielt den Konsumenten gewissermassen den Spiegel vor. Das Experiment sprach sich bis Zürich herum, funktioniert aber weder auf Dauer noch bei Einzelausstellungen. Was es allerdings beweist: Kontinuität ist auch hier wichtig, um ein gewisses Publikum anzusprechen. Zudem können, wenn das Programm stimmt, wenn bekannte Namen dabei sind, junge Unbekannte davon profitieren und sich wiederum zu festen Grössen entwickeln.

Dann aber gibt es jene Künstlerinnen und Künstler, die immer konsequenter, immer radikaler werden, damit werden aber auch die Verkäufe immer schwieriger. Ein sich entwickelndes Werk zu verfolgen, ist also finanziell nicht unbedingt lohnenswert, aber spannend. Auch Christian Röllin schätzt die langfristige Zusammenarbeit mit seinen Künstlerinnen und Künstlern. Zudem hat sie etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun, sowohl für das potentielle Publikum, als auch für die Kunstschaffenden. So hatte er bei seiner ersten Ausstellung mit Jos van Merendonk keine Arbeit verkauft und die Bilder des Holländers dennoch immer wieder in St.Gallen gezeigt, im Vertrauen auf Qualität.

Kontinuität ist ein Wort, das alle Galeristen und die Galeristinnen immer wieder verwenden, selbst jene, die gerade angefangen haben, so wie Sonja Bänziger. Ihre Galerie gibt es erst seit einem dreiviertel Jahr und ihr ist klar, dass sie einen langen Atem brauchen wird. Und viel Eigeninitiative – damit ist nicht das Ausstellen eigener Werke gemeint – immer eine Gratwanderung für Galeristen, die eigentlich oder zugleich Künstler sind, so wie auch Francesco Bonanno. Den Vorteil dieser Doppelfunktion sieht er darin, die Probleme beider Seiten zu kennen. Dabei geht es einerseits ums Finanzielle, und andererseits darum, die Kunst überhaupt zu verbreiten, zu vermitteln. Bänziger versucht es, indem sie Lehrpersonal der Gewerbeschule direkt einlädt, mit ihren Schulklassen zu kommen, zudem will sie Kunst ausstellen, die sich verkaufen lässt. Ein Kompromiss also? Bänziger probt den Spagat: Im Erdgeschoss Kunst fürs Wohnzimmer oder die Terrasse und im Kellergeschoss dereinst die jungen Wilden. Nur scheinen jene gerade mit dieser Nachbarschaft Berührungsängste zu haben. Bänziger hatte den Kunstnachwuchs beispielsweise im Unraum direkt angesprochen, bisher jedoch keine Reaktion erhalten.

Ein schlechtes Zeichen ist es nicht unbedingt, wenn jene jungen Künstlerinnen und Künstler autonom bleiben, sich vom herkömmlichen Betrieb nicht vereinnahmen lassen wollen. Schon zweimal, im Januar 2013 und im Februar 2014, haben sie unter dem Motto «Unraum» jeweils ein leerstehendes Haus in der Stadt bespielt, haben es für nicht einmal zwei Wochen völlig umgestaltet, besetzt und danach wieder verlassen. Einfach so, ohne ein festes Kollektiv zu gründen, ohne ein nächstes Mal anzukündigen, geschweige denn einen nächsten Ort. Sich im voraus , wäre ohnehin schwierig, denn zum einen sind die Jungen am Anfang ihrer Kunstlaufbahn und verstreuen sich spätestens fürs Studium, begeben sich aus der Stadt, an einen Kunsthochschulplatz. Zum anderen sind geeignete Räume in St.Gallen nicht einfach zu finden. Kathrin Dörig und Nadia Veronese versuchen es trotzdem immer wieder. Auch wenn sich so manche fragen, ob es die Guerilla Galerie überhaupt noch gibt, denn nach den ersten drei Jahren hat sich die Ausstellungsfrequenz deutlich reduziert.

Ja, es gibt sie noch, und sie sind nach wie vor auf der Suche nach Räumen, denn an Ideen für künftige Präsentationen mangelt es ihnen nicht. Eher an Zeit, denn die beiden Frauen sind hauptberuflich an anderen Stellen des Kulturbetriebes aktiv. Ihre Galerie ist denn auch eigentlich keine Galerie im eigentlichen Sinne, die Künstlerinnen und Künstler sind allesamt anderswo unter Vertag und geben ein einmaliges Gastspiel. Eines, dass jedes Mal auch Leute anlockt, die sonst nicht selbständig Kunst anschauen gehen. Liegt es an den Orten? So ist zum Beispiel in die Ausstellung von Markus Kummer in der ehemaligen Käsehalle die gesamte Familie des Käsers gekommen – und war begeistert angesichts der Interventionen des Zürcher Künstlers.

Selbst wenn die Hemmschwelle an kunstfernen Orten niedriger sein sollte, gibt es auch andere Gründe für die grosse Resonanz auf die Ausstellungen der Guerilla Galerie. Das Netzwerk der beiden Galeristinnen ist gross und die Ereignisse sind zeitlich eng begrenzt. Drei Tage dauert jeweils eine Ausstellung. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass wirklich etwas verpasst, wer sie nicht gesehen hat. Ein wichtiger Punkt im St.Galler Kulturleben, in dem ja trotz aller Unkenrufe doch so einiges läuft. Das wird spätestens dann bewusst, wenn wieder einmal zwei oder sogar mehr Ereignisse am gleichen Abend stattfinden und die Frage im Raum steht, wer von den Veranstaltenden mit wem seine Agenda besser hätte abgleichen müssen.

Wie erreicht man die Zielgruppen sonst noch, wenn man sie nicht, wie in der überaus dichten Zürcher Galerienszene üblich, mit Brunch und Cüpli ködert? Christian Röllin geht mit den Freunden der Galerie regelmässig auf Kunstreise, macht Atelier- und Museumsbesuche mit ihnen. Paul Hafner versendet für die nächste Ausstellung mit Adalbert Fässler und Thomas Muff erstmals wieder gedruckte Einladungskarten. Lange Zeit gab es die Ankündigungen nur noch per Email. Schliesslich bedeuten Einladungskarten einen grossen Aufwand, angefangen von der Gestaltung über Druck, Eintüten bis Porto. Aber vielleicht klemmen sie doch eher an der Kühlschranktür, als im virtuellen Papierkorb zu landen.

Früher hatte Hafner seine Vernissagen jeweils mit den anderen Kunstorten im Haus abgestimmt. Früher, da waren seine Ausstellungsräume auf dem gleichen Gang zwischen der Galerie Susanna Kulli auf der einen und der Kunsthalle auf der anderen Seite. Die Gäste spazierten von einem Ort zum anderen. Seit die Kunsthalle im Erdgeschoss ist, funktioniert das nicht mehr. Da hilft es auch nicht, dass im Architekturforum, ein Stockwerk über Hafners Galerie, inzwischen die städtischen Kunstausstellungen stattfinden, das Publikum verteilt sich. Dennoch sind sich die Galeristinnen und Galeristen einig, zwei bis drei Galerien mehr täten der Stadt gut. Es gibt noch Potential. Es gibt Nachwuchs. Wäre schön, wenn es gelingt, ihn nachhaltig in der Stadt zu verankern, so dass St.Gallen auch für die Zeit nach dem anderswo absolvierten Kunststudium eine lohnende Option für gute Künstlerinnen und Künstler bleibt – eine bessere als damals, um 1980, als Josef Felix Müller seine St.Galerie in einem Schaufenster an der Langgasse betrieb, weil es an allen Ecken und Enden an Ausstellungsräumen mangelte.

Alchemie im St. Galler Sittertal

Feuer & Flamme, Dokumentarfilm von Iwan Schumacher, 2014, 84 min.

Bronze giessen sie auch. Aber die Kunstgiesserei St.Gallen kann mehr, viel mehr: Dokumentarfilmer Iwan Schumacher zeigt in «Feuer und Flamme», dass in Felix Lehners Grosswerkstatt vor allem eines gilt: Visionen ernst zu nehmen und mit höchster Präzision umzusetzen. Oder wie es Mitarbeiter Samuel Bischof formuliert: Es ist das «heilige Glühen in den Augen der Künstlerinnen und Künstler», von dem er und seine Arbeitskolleginnen und -kollegen angetrieben sind, und das dazu führt, dass neue Prozesse und Techniken entwickelt werden, oder Altes wiederbelebt: Mariana Castillio Deball kommt bei der Arbeit an Stuckmarmor die Alchemie in den Sinn. Daran erinnern auch flüssige Metalle oder farbiges Wachs, aber dann wieder sind Fräse und Hochleistungsscanner im Einsatz.

Schumachers Film war von Anfang an als Langzeitprojekt angelegt. Er begleitete über Jahre hinweg die Zusammenarbeit mit Hans Josephson, Paul McCarthy oder Urs Fischer. Dessen gigantische Grossprojekte waren entscheidend für die Expansion der Giesserei nach China. Diese wurde innerhalb der Giesserei durchaus kontrovers diskutiert. Schumacher klammert das nicht aus und arbeitet zugleich das grosse Potential dieses Schrittes heraus. Sein Gegengewicht findet er unter anderem in Felix Lehners Engagement mit Kunstbibliothek und Kesselhaus Josephson.

Kinopremiere am 12. Juni

Sven Bösigers Soundbohrungen: «Wo»

«Etwas passiert immer» John Cage

Landkarten sind Landschaften. Unwillkürlich fordern sie auf, mit den Augen spazieren zu gehen, mit dem Finger den Linien zu folgen, die Höhenlinien zu überwinden, in grün gekennzeichneten, zusammenhängenden Waldflächen gedanklich zu flanieren. Auch in Zeiten von Navigationsgeräten und GPS ist die Faszination der Landkarten ungebrochen. Eine Karte zu öffnen, ist bereits ein besonderer Akt. Aus dem klein zusammengelegten Blatt Papier entfaltet sich Stück für Stück eine ganze Gegend.

Das Zusammenfalten freilich ist oft weniger einfach. Ist es schliesslich gelungen, liegen viele Ebenen Papier übereinander: Die ursprünglich horizontal aus- gebreiteten Informationen sind übereinandergeschichtet, sie sind verdichtete Landschaft – so wie die Soundbohrungen Sven Bösigers.

Sven Bösiger verdichtet den Klang der Landschaft und der Städte. Der Künstler hat an 59 Stellen der Schweiz gebohrt, das heisst, er hat dort anderthalb- bis vierstündige Tonaufnahmen gemacht. Diese unterteilte der Künstler in zwanzigminütige Abschnitte und legte sie anschliessend übereinander. Jede Audiosequenz besteht nun also aus mehreren Tonschichten derselben geografischen Quelle. Sie sind verdichtetes, konzentriertes Tonerlebnis. Der Charakter der ursprünglichen Klänge, Töne, all dessen, was zu hören ist, bleibt nicht nur erhalten, er wird sogar verstärkt.

Wasser rauscht, die Tram rattert, Störche klappern, in Birsfelden sind die tiefen Frequenzen eines vorbeifahrenden Schleppers zu hören, durchs Avers ziehen tausend Schafe, manch eines blökt. Mal ist es laut, mal ist es leise – die Ge- räusche sind urban oder fern der Menschen aufgezeichnet.

Gemeinsam ist allen Orten, dass es Stellen des Überganges sind. Sven Bösiger arbeitet mit dem Fokus auf Passagen: «Übergänge als Warteräume in erweitertem Sinne, Atmosphärenkreuzungen, Landenge, Pässe, Furten, Zwischenstationen». Es sind reale Grenzorte darunter, aber auch solche zwischen Wasser und Land. Oder die Vogelnetze am Col de Bretolet: eine Zwischenstation für Vögel, die dort beringt werden. Auf der Karte sind diese konkreten Gegebenheiten jedoch nicht zu sehen. Obgleich sie die Welt in grossem Massstab darstellen. Sven Bösiger hat zu allen Orten die 1:25000er Karten des Bundesamtes für Landestopografie verwendet, laut Swisstopo «die genauste und informativste topographische Karte der Schweiz für Wanderer, Alpinisten, Planer, Individualisten und Entdecker». Der Künstler hat sie sogar noch einmal deutlich vergrössert. Allerdings verwendet er Ausschnitte. Auf den quadratischen Feldern markiert er jene Punkte, an denen er seine Soundbohrungen vorgenommen hat. Und er kombiniert die Karten per Zufallsprinzip. Da er sie zugleich auf Schwarzweiss- und Grautöne reduziert, können zwar wichtige Informationen nicht mehr oder nur bei aufmerksamerer Betrachtung erschlossen werden, aber es zeigen sich ganz neue Zusammenhänge. Die Linie einer Strasse folgt derjenigen eines Flusses. Ein geschlossenes Waldgebiet geht über in einen See. Auch Grenzlinien ziehen sich über Kartenausschnitte und somit über nicht zueinander gehörige Gebiete.

Die Soundbohrungen und die frei kombinierten Kartenausschnitte setzen Kopfreisen in Gang. Aber die Arbeit Sven Bösigers hat noch eine dritte Komponente, die es ebenfalls vermag, vielfältige Assoziationen auszulösen. Der Künstler hat zu jedem Tonkonzentrat einige Sätze notiert. Diese kurzen Texte sind viel mehr als blosse Beschreibungen dessen, was zu hören oder zu sehen war. Die erlebte Szenerie wird sprachlich verdichtet und eröffnet weite atmosphärische Räume. Mit gut gesetzten knappen Hinweisen fasst der Künstler sein individuelles Erlebnis, seine Beobachtungen und Empfindungen präzise und stimmungsvoll zusammen und lässt sie uns nacherleben.

Die vierte Ebene der Arbeit «Wo» sind Schwarzweissaufnahmen, die nicht wie die Aufnahmen und die dazugehörigen Kartenstücke nach dem Zufallsprinzip zueinander gefügt sind, sondern zu ästhetisch motivierten Kombinationen geordnet sind. Die Fotografien entstanden jeweils vor Ort zeitgleich zu den Aufnahmen. Sie illustrieren das Geschehen nicht, sondern funktionieren als eigenständige Bilder. Wie in den Aufnahmen laut und leise, kontrastieren hier Fülle und Leere miteinander. Horizontale Strukturen wie Brücken, Geländer oder ein Haag führen über Motive hinweg zu einer übergeordneten waagerechten Bildausrichtung, oder die Strukturen von Erde und Schnee korrespondieren miteinander wie anderswo die Dichte städtischer Infrastruktur mit derjenigen von Natur.

Sven Bösiger hat die Fotografien am Rechner bearbeitet und ihr Wesen herausgeschält. Entstanden sind Landschaften aus Körnung, Licht und Kon- trasten. Fast wie jene, die der Boden der Kunsthalle Arbon bildet: Landschaften aus Kratern, Kanten und den Spuren der Zeit. Im Kontext der Arbeit Sven Bösigers lassen sie sich mit einem Male lesen. Jede und Jeder wird sie aufgrund des eigenen, individuell verschiedenen Erfahrungshorizontes anders lesen, denn die sind reich an Material für viele weitergehende Gedankenreisen.

Einführungstext, Ausstellung Kunsthalle Arbon