Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Faszination Sperrzone

Der Frauenpavillon ist in seine 19. Saison gestartet. Aktuell präsentiert dort Jayn Erdmanski ihre Ausstellung „Re-flooded“. Sie thematisiert die extremen menschlichen Einflüsse auf das Ökosystem und seine Regenerierungskraft.

Die Zone: Ein Ort der Spekulation, ein verlorener Ort und im Falle von Andrej Tarkowkijs Film „Stalker“ ein fiktiver Ort der Wünsche. In der Realität entstand eine solche Zone 17 Jahre später. Die Katastrophe von Tschernobyl ereignete sich im April 1986. Christa Wolf schrieb dazu in ihrem Essay „Störfall“: „Jetzt schüttet der Mensch, zweitausend Kilometer von uns entfernt, mit Beton, Sand und Blei den glühenden Kern unserer verbotenen Wünsche zu.“ Der Traum, genügend Energie für alle und auf ewig bereitstellen zu können, war ausgeträumt, geblieben ist die Zone.

Das Gebiet rund um das Kraftwerk ist bis heute radioaktiv verseucht, die Menschen wurden umgesiedelt, aber viele Tiere und Pflanzen blieben und entwickelten sich. Inzwischen ist die Sperrzone attraktiv für Wissenschaftler, Fotografen und immer mehr auch für Touristen. Sie fasziniert einerseits die Abwesenheit des Menschen, in der die zurückgelassenen Zivilisationsfragmente sich zu einem eigentümlichen Bild fügen, andererseits lockt die überaus vitale Natur, die sich ihr Terrain längst zurückerobert hat und inzwischen auch in die leeren Städte und Dörfer übergreift.

Dieser Ambivalenz des Ortes kann nun im Frauenpavillon im St.Galler Stadtpark nachgespürt werden. Jayn Erdmanski hat hier für ihre Ausstellung eigens eine Installation entwickelt. Die Künstlerin betätigt sich darin wie bereits in früheren Arbeiten als Forscherin. Sie kultiviert Zuchtchampignons in Kartonschachteln, legt moosbewachsene Äste aus, lässt Kresse auf Watte keimen: Was passiert mit der Natur unter diesen besonderen Bedingungen? Wie reagiert sie fern ihres Biokosmos? Die junge St.Gallerin präsentiert die Natur in einer ausfeilten ästhetischen Inszenierung, einschliesslich lebender und weiterwachsender Elemente.

Natur kontrastiert mit extremer Künstlichkeit. So sind drei Couchtische aus geschnittenen Steinen aufgestellt und daneben solche aus Chromstahl und Glas. Eine fragmentierte Kleinplastik der Göttin Diana zu Pferd ist ebenso Teil von „Re-flooded“ wie eine Rettungsfolie vor dem Fenster und Vogelzeichnungen. Zeitungsberichte sind integriert und Charles Darwins Werk über die Entstehung der Arten. Besondere Aufmerksamkeit zieht ein Video auf sich, das Erdmanski im Internet gefunden hat: Der Dokumentarfilm zeigt einige Männer bei ihren Erkundungen in der Sperrzone. Die Aufnahmen haben durchaus einen wissenschaftlichen Anstrich, doch in den Bildern und dem Kommentar schwingt etwas Anderes mit. Hier ist mehr im Spiel als nur das Interesse, Veränderungen des Ökosystems zu ergründen. Es ist die Faszination an diesem blühenden postnuklearen Garten Eden, hinzu kommt die Lust an der Gefahr, am Grauen sogar, das unweigerlich mit dem Reaktorunfall verbunden ist.

Die Sperrzone ist ein mythischer Ort, entstanden durch menschliche Hand, aber nun ganz sich selbst überlassen. Erdmanski untersucht mit ihrer Arbeit die Anziehungskraft dieser Zone, eine kleine Ausstellung, aber eine über ein Thema mit grosser Sogwirkung.

Drei Dächer im Kasten

Roman Signer liess vergangenen Dienstag drei Regenschirme im Schaukasten Herisau aufschnappen. Seine Arbeit ist die letzte Kunstpräsentation an diesem kleinen Ort.

Die Schirme waren vor lauter Schirmen kaum zu sehen. 18.28 ging der Platzregen nieder und pünktlich zwei Minuten später schnappten im Schaukasten Herisau drei schwarze Regenschirme auf – ein Ereignis von einer Zehntelsekunde und doch von bleibender Wirkung. Zweieinhalb Monate lang werden sie im Schaukasten an der Hauptpost Herisau zu sehen sein und werden sich nachhaltig im Gedächtnis verankern. Einerseits weil die drei klassischen Regelschirme ein starkes Bild sind: Schwarz und sperrig besetzen sie den Kasten. Sie waren Alltagsobjekt und sind nun in halboffenem Zustand eingefrorene Form. Sie sind Zeugnis eines elektrischen Zündungsprozesses und das Werk eines der ganz Grossen im Kunstbetrieb.

Mit Roman Signers «Versuch, drei Regenschirme im Schaukasten gleichzeitig zu öffnen» endet nun die Ausstellungsreihe im Schaukasten. Und auch deshalb werden die Regenschirme besonders in Erinnerung bleiben: Regelmässig war im Schaukasten in vergangenen acht Jahren gute Kunst zu sehen, angefangen mit HR Fricker, einem der anderen gestandenen Künstler der Region. Aber auch Peter Liechti und Hans Schweizer waren dabei oder die jüngere Generation mit Karin Bühler, Katalin Deér oder Loredana Sperini zum Beispiel. Nun also Roman Signer zum Schluss. Da wurde freilich gewitzelt, ob er nun die ganze Hauptpost in die Luft jage oder wenigstens den Kasten. Aber der Künstler zeigte einmal mehr, dass er vor allen Dingen Bildhauer ist. Seine Skulpturen sind vergänglich, sie sind das Ergebnis energetischer Prozesse, zugleich münden sie oft in ein ästhetisches Erlebnis, eine Form, seine es die Feuerbahnen von Raketen, ein Hemd im Wind, rote Kajaks über einem Kanal oder eben ein Regenschirmtriptychon.

Immer wieder hat Signer in der Vergangenheit mit Schirmen gearbeitet, hat sie fliegen lassen, hat sie befüllt mit Wasser oder Backsteinen, hat sie in die Erde gesteckt oder ausgebreitet wie ein Dach. Genau so wird er ja auch genannt, der Regenschirm in Appenzell, so Signer am Dienstagabend in seiner kurzen Rede. Danach wurde wie gewohnt Risotto und Wein im alten Zeughaus serviert, diesmal eine extra grosse Menge, denn viele waren gekommen zu Roman Signers Versuch und zur letzten Schaukastenausstellung. Der Beifall fürs Schaukastenteam war denn auch kräftig und lang anhaltend, eigentlich hätte er für eine Zugabe gereicht. Aber wer weiss, vielleicht nimmt ein neues Team den Stab an anderer Stelle wieder auf. Wäre schön. Und wer mehr von Roman Signer sehen möchte, hat dazu ganz bald und ganz real Gelegenheit: Kommende Woche eröffnet die grosse Roman Signer-Schau im Kunstmuseum St.Gallen.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/drei-daecher-im-kasten/

Atomenergie und Zungenküsse

Die deutsche Künstlerin Maria Eichhorn hat ihre erste grosse österreichische Ausstellung in Kunsthaus Bregenz. Sie behandelt Fragen zu Energie und Kapital.

„Das Vorstandsmitglied Maria Eichhorn hat Einzelvertretungsbefugnis und ist befugt, Rechtsgeschäfte mit sich als Vertreter Dritter abzuschliessen.“ – Amtssprache wie aus dem Lehrbuch, Absicherung bis ins Detail und für jeden Fall. So wird ein Sachverhalt juristisch aufbereitet, jener nämlich, dass die Künstlerin Maria Eichhorn eine Aktiengesellschaft gründete, und zwar mit ihrem Ausstellungsetat zur Documenta 11 in Kassel. Jetzt sind die Unterlagen zur Amtshandlung im Kunsthaus Bregenz ausgestellt. Eichhorn hat dort ihre erste grosse Einzelausstellung in Österreich und präsentiert auf drei Stockwerken vier grosse Werke oder besser Werkkomplexe, denn Eichhorns Arbeit fusst einerseits auf umfassenden Recherchen, greift geografisch weit aus oder funktioniert über längere Zeiträume hinweg. Zum Beispiel in der St.Galler Mühlenenschlucht: Dort hatte sie anlässlich des Gallus-Jubiläums vor zwei Jahren eine Zeitkapsel versenkt, die in 1400 Jahren wieder zum Vorschein kommen wird, wenn das Wasser den Fels bis auf ihre Höhe abgetragen hat.

Die Aktiengesellschaft gibt es erst seit 14 Jahren. In dieser Zeit ist bereits einiges an Schriftverkehr angefallen. Zudem findet jedes Jahr eine Hauptversammlung statt, die gleichzeitig eine Vollversammlung ist. Welche Möglichkeiten dies zur Beschlussfassung lässt, aber auch, welche Einschränkungen sich die AG auferlegt, zeigt Eichhorns neue Installation der Arbeit. Vor allem aber bietet sie Anlass darüber nachzudenken, wie Kunst und Kapital verknüpft sind.

Und wie verhält es sich mit Kunst und Kernenergie? Auf den ersten Blick hat das wenig miteinander zutun, wenn aber im Werk «Vorhang (Denim)» Fragen zur Atomkraft gestellt werden und es beispielsweise um die Einsparmöglichkeiten bei Klimaanlagen geht, geraten unweigerlich auch die Ausstellungshäuser in den Fokus. Maria Eichhorn stösst solche Denkprozesse an, ohne die Richtung vorzugeben. Ihre Stärke liegt darin, nicht zu kommentieren, sondern zu informieren und zu reflektieren. Sie wählt die Themen aus, präsentiert sie in präzisen, durchgestalteten Anordnungen und richtet die Aufmerksamkeit auf Grundsatzfragen.

Allerdings können sich in der Auswahl der Themen durchaus Irritationen ergeben. Wenn in Bregenz etwa nur Atomkraftgegner zu Wort kommen und im Stockwerk darüber der Vorarlberger Rutengänger Michael Berbig seinen grossen Auftritt erhält, so ist das eine zweideutige Nachbarschaft. Berbig ist darauf spezialisiert, Wasseradern und Quellen aufzuspüren, Erdstrahlungen und kosmische Strahlungen aufzuzeigen. Es gelingt Eichhorn, die Tätigkeit des „Quellemichl“ in einer offen, klaren Form zu visualisieren, die obendrein einlädt, selbst eine sogenannte Zeigerute auszuprobieren.

Wie nicht anders zu erwarten, kommt auch Maria Eichhorns „Filmlexikon sexueller Praktiken“ ausgesprochen sachlich daher. Zwar wird mit den 16-mm-Filmen ein technischer  Anachronismus inszeniert, aber gerade dadurch reagiert auch diese Arbeit perfekt auf die klare Architektur Zumthors.

Mit Schirm, Charme, ohne Melone

Das Ende naht. Kommenden Dienstag eröffnet die letzte Ausstellung im Schaukasten Herisau, gestaltet wird sie von Roman Signer.

Der Versuch ist mit dem Wunsch verwandt und mit dem Experiment. Mit letzterem teilt er sich die Praxis, die präparierte Ausgangssituation und die Durchführung unter Beobachtung. Zugleich geht jeder Versuch mit dem Wunsch einher, dass er gelingen möge. Gewissheit gibt es freilich vor Ablauf der ausgelösten Prozesse nicht. Versuche können schief gehen, oder es gibt keine verwertbaren Ergebnisse. Umso wichtiger ist es, nicht nur auf das Ergebnis zu schauen oder wie es Roman Signer formuliert: «Es ist wichtig, dass du nicht nur stur aufs Resultat schaust. Ein Wissenschaftler macht resultatbezogene Experimente. Ein Künstler muss auch das Umfeld und Nebensächliches anschauen. Dann kommt er auf weitergehende Ideen».

Vielleicht war es so, als Roman Signer vor drei Jahren im Urnäscher Tobel mit Regenschirmen arbeitete. Er liess sie an einem Metallseil hinabgleiten, mal mit Backsteinen gefüllt, mal mit Wasser. Einer wurde zusammengeklappt in den Waldboden gesteckt, ein anderer breitet sich über das Laub. Dokumentiert sind die Versuche in Roman Signers jüngstem Buch, den «Reden und Gesprächen». Dort erscheint der Regenschirm als Ding, das seine Funktion und Form verändern kann – beschirmend, schwebend oder als Behältnis, mal schmal und langgestreckt, mal breit gespannt.

Passt nun so ein Ding in den Schaukasten Herisau? Eines? Drei! Aufgespannt? Vielleicht. Roman Signer probiert es am kommenden Dienstag. Dann bespielt der Künstler den Glaskasten an der Hauptpost in Herisau. Angekündigt ist «Ein Versuch drei Regenschirme im Schaukasten gleichzeitig zu öffnen». Drei unscheinbare klassische Schirme, schwarz mit gekrümmtem Griff; alltägliche Objekte, wie so oft bei Roman Signer. Einerseits ist es die einfache Technik, die den Künstler interessiert, andererseits sind es Dinge, die selbst wenig Aufmerksamkeit auf sich lenken, die jedem bekannt sind. Daher fallen sie im Kunstzusammenhang wohl auch besonders auf, wird hier doch zumeist das Ungewohnte, das Nicht-Alltägliche erwartet. Bei Roman Signer folgt das Aussergewöhnliche in seinen Ereignissen, den Versuchen. So wie im Schaukasten.

Ein elektrisch ausgelöster Mechanismus wird die Regenschirme zur Entfaltung bringen. Oder auch nicht. So oder so wird es denkwürdiger Anlass werden. Denn es wird die letzte Kunstschau im kleinen Kasten sein, die 32. Und mit ihr schliesst sich eine besondere Klammer, denn die erste Ausstellung im August 2006 gestaltete H.R. Fricker: Wie Roman Signer ein gestandener Künstler nicht nur in der hiesigen Szene, sondern weit darüber hinaus. Dazwischen folgten viele andere, meist jüngere Künstlerinnen und Künstler. Die Auswahl zeigt eindrücklich, dass es weit mehr ist als ein Schaukasten, wo jetzt die letzte Vernissage gefeiert werden wird, es ist die Kunsthalle Appenzell Ausserrhodens.

Bilderfülle in der Kunstmetzgerei

Unter dem Titel „One nice shot only“ zeigt Francesco Bonanno eine Gruppenausstellung mit Fotografien. Sie soll ab jetzt jährlich wiederholt werden.

Fotografieren kann jeder. Gute Aufnahmen hingegen sind schwieriger zu bekommen. Das ist bei der analogen nicht anders als bei der digitalen Fotografie. Bei letzterer macht es auch die ungleich grössere Menge der schnell gespeicherten und verfügbaren Bilder nicht besser. Im Gegenteil, denn noch gezielter muss ausgewählt, noch mehr in den symbolischen Papierkorb verschoben werden.

Francesco Bonanno hat 39 Fotografinnen und Fotografen um eine Auswahl gebeten, genauer: um ein gutes Bild. Dazu musste zuallererst der Galerist selbst auswählen. Dass dies nicht ganz einfach war, zeigen Einladungskarte, Buch und Werkliste zur Ausstellung. War in der ersten noch von 35 Künstlerinnen und Künstlern die Rede, sind im postkartengrossen Buch schon 37 genannt und in der Liste schliesslich 39 verzeichnet. Platz haben sie alle im dicht besetzten Ausstellungsraum und keines kommt dem anderen in die Quere, denn Fülle ist bei Bonanno seit jeher Programm. Zudem sind die Fotografien in Motiv, Technik, Trägermaterial, Rahmen so verschieden, dass jede für sich steht. Die Grössen variieren vom Handtellerformat bis zum quadratmetergrossen Bild. Eines ist ganz unprätentiös direkt auf die Wand gepinnt, andere kommen in Passepartout und Edelrahmen daher oder im Sperrholzkasten mit integrierter Lichtquelle. Dass Fotografie längst nicht mehr nur statisch und zweidimensional sind, zeigen Ted Davis´ Plattenspielerobjekt und Stefan Rohners Minibildschirme mit einer animierten Fotoserie. Die Themen reichen von Architektur, über Mensch, Natur, Strassenszene bis hin zu Museum und Brauchtum.

Statt minimalistischer Hängung in perfektem White Cube ergibt sich ein vielseitiges Miteinander der Bilder. Ganz gleich, in welche Richtung der Blick schweift, es gibt etwas zu entdecken. Zum Beispiel Manuel Giróns Architekturfotografie aus Rom: Sie verbindet Innen- und Aussenraum durch die aufmerksam beobachteten Durchblicke und Spiegelungen. Auch Marcel Winter zeigt mit einer Prager Metrostation spannungsvoll in Szene gesetzte Architektur. Stefan A. Schwald hingegen interpretiert die Ein-Bild-Regel etwas freier und zeigt eine mehrteilige Arbeit mit einer Strassenszene in Asien. Die schwarzweissen, auf Leinwand gedruckten Aufnahmen fügen sich zu einer filmähnlichen Sequenz, die vorwärts und rückwärts gelesen werden kann. Einen besonderen Hingucker liefert auch Gunar Meyers vielsagendes Stillleben mit Queenporträt und Putzmittel.

Bonanno hat Fotografinnen und Fotografen aus der ganzen Welt für diese Ausstellung angefragt. Er hat sowohl auf sein dicht geknüpftes Netzwerk zurückgegriffen, als auch ganz neue Namen nach St.Gallen geholt. So sind einerseits Bekannte wiederzusehen, wie etwa Irene Naef, die vor einem Jahr eine Ausstellung in der Macelleria d´Arte hatte und auch diesmal mit ihrem Leuchtkasten eine sehenswerte Arbeit präsentiert, andererseits wird sicherlich der eine oder die andere von den neu Hinzugekommenen wieder einmal in der Galerie zu sehen sein – frisches Blut also für die Kunstmetzgerei.

Bögen auf dem Weg

In der aktuellen Ausstellung in der Galerie Sonja Bänziger präsentiert die Galeristin das Werk eines Künstlers aus Franken: Variationen über das Thema Bogen.

Der Rundbogen ist eine markante architektonische Form. Seine Scheitelhöhe beträgt immer genau die halbe Spannweite. Er wirkt harmonisch, ruhig und archaisch. Er wurde schon in römischer Zeit perfektioniert und trägt wesentlich zum klaren Raumeindruck romanischer Kirchen bei. Es ist also wenig verwunderlich, dass Rundbögen bis heute nicht nur als architektonisches Trägersystem, sondern auch als ästhetisches Element zum Einsatz kommen.

Bei der ehemaligen Brauerei im fränkischen Untermerzbach sind die Fenster nicht mit Rund-, sondern mit Segmentbögen überspannt. Dennoch gibt deren bauliche Gestalt wesentliche Impulse für die Arbeit von Gerd Kanz. Der 1966 in Erlangen geborene Künstler hat in der Brauerei sein Atelier und verwendet Rund- und Segmentbögen als Grundform seiner Werke. Die mit Segmentbögen überwölbten Fenster des Bauwerkes liefern ihm das Format für seine Reliefziegel aus Holz und anderen Materialien. Sie sind in der aktuellen Ausstellung der Galerie Sonja Bänziger auf beiden Stockwerken zu sehen und stellen Variationen zu den Themen Farbe, Oberflächenstruktur und Linie dar. Sie erinnern in Materialität und Kompositionsprinzipien stark an die Formensprache des Informel.

Den Kontrast zu den Reliefs stellen Kanz‘ dreidimensionale Bogenstrukturen dar. Der Künstler präsentiert sie an der Wand hängend und klassifiziert sie dadurch zwar einerseits bewusst als Bild oder Relief, andererseits aber ist kein Hintergrund oder Bildträger vorhanden. Stattdessen sind Rundbögen auf hohen, schmalen Pfeilern in bis zu sechs Schichten offen hintereinander angeordnet und wie beim Brauereigebäude in Untermerzbach auf drei Geschossen. Die Pfeiler sind nicht parallel und ihr Abstand variiert mit der Spannweite der Bögen. Auch die Geschosshöhe ist nicht einheitlich, Kanz weist den Bögen unterschiedlich grossen Raum zu. Da er eine nahezu monochrome, allerdings mit manieriert wirkenden Alterungsspuren durchsetzte Farbigkeit wählt, gewisse formale Grundkonstanten und eine Rahmenkonstruktion beibehält, fügt sich alles zu einem dynamischen Raster. So als stehe Paul Klees berühmte „Revolution des Viaduktes“ kurz bevor, als würden sich die Brückenbögen im nächsten Moment aus ihrem baulichen Korsett lösen und einzeln auf den Weg begeben.

Kanz hat in den hochbeinigen Bögen seinen Weg gefunden und variiert sie nun immer wieder aufs Neue in Grösse, Farbe und Gestalt.

Spanien einmal anders

Isaac Garzón hat in Spanien fotografiert. Ihn interessieren weder touristische Klischees, noch reisserische Sozialporträts, seine Bilder sind einfach, klar und deutlich.

Übriges, Weggeworfenes und Zurückgelassenes ist aussagekräftiges Material – für diejenigen, die verstehen, es zu lesen und Schlüsse zu ziehen. So wie Isaac Garzón. In seiner Ausstellung in der Galerie vor der Klostermauer zeigt er Fotografien aus Spanien. Hier wurde er 1978 geboren, hier verbrachte er nach einem langen Intermezzo von Kindheit, Jugend und ersten Berufsjahren in St.Gallen die vergangenen acht Lebensjahre.

Garzón richtet seinen Blick auf Details, auf die Gräten am Strand, den leblosen Tintenfisch auf dem Kies, den verwesten Fischlaib ohne Kopf, die von Käfern zerfressene Eidechse: Bilder des Verfalls im Kleinen, die jedoch als Verweis auf allgemeine gesellschaftliche Zustände gelten dürfen. Der Fotograf selbst – engagiert in der Protestbewegung «Movimiento 15-M» – porträtiert Spanien aus ungewohnter Perspektive, damit zeigt er das Land und seine Schwierigkeiten dadurch nur umso deutlicher.

Oft stellt Garzón die Aufnahmen zu Serien zusammen, jedoch nicht, um eine Erzählung zu konstruieren, sondern um die Aussagen nochmals pointierter zu formulieren. Zum Beispiel im Triptychon mit Interieurs aus dem Hause seiner Grossmutter. Die stillen, klar komponierten Fotografien lenken den Blick auf die Brüche: auf eine zersprungene Treppenstufe und das sorgsam drapierte Spitzendeckchen daneben, auf den neutralen, ja kargen Schlafraum mit dem Andachtsbild überm Zwischenraum der zwei Betten. Die Frömmigkeit ist allgegenwärtig. Auch im Aussenraum hinterlässt sie Zeichen wie etwa jenes «Ave Maria» auf einer blauen Keramik an der Hauswand. Die Wand wurde oft geweisselt, der Schriftzug aber jedes Mal ausgespart. Er scheint aus einer früheren Zeit herüber und wird doch am Leben gehalten. Mit solchen Bildern erweist sich Isaac Garzón als aufmerksamer Chronist eines Widerspruches, der in alle gesellschaftlichen Bereiche ausstrahlt.

In seinen sachlichen Aufnahmen und ihrer Gruppierung liegt Garzóns Stärke. Dagegen überzeugt die Installation dreier freigestellter Makrelenbilder ohne Kopf weniger. Das liegt nicht an den Fotografien selbst, sondern vielmehr an den darunter aufgestellten Glasbehältern mit roter Flüssigkeit. Hier kippt es ins Illustrative. Auch der Gekreuzigte mit Smartphone in der einen und Fernbedienung in der anderen Hand ist zu explizit, um zum Weiterdenken anzuregen. Allerdings ist er so platziert, dass er nicht ohne weiteres zu entdecken ist. Die Fotoausstellung in den dreidimensionalen Raum zu erweitern, ist ein guter Ansatz, kann aber noch weiterentwickelt werden.

Monika Sennhauser: NOWS Städtische Ausstellung im Architekturforum Ostschweiz

Eine Einführung

Am 5. September 2012 erhielten Freundinnen und Freunde, Bekannte und Künstlerkolleginnen und -kollegen eine Email von Monika Sennhauser mit folgender Einladung:

’Eine Kamerafahrt von deinen Fussspitzen bis zum Fokus der Sonne’

Viele Personen werden von verschiedenen Orten rund um den Erdball, am Tag der Tagundnachtgleiche vom Samstag, 22. September 2012, zur gleichen Zeit von ihrem Standpunkt aus –– eine einminütige Videoaufnahme mit ihrem Smartphone machen und danach das Video direkt per Mail an mich senden…

Wer eine positive Rückmeldung an Monika Sennhauser gesandt hatte, erhielt kurz darauf eine weitere Email mit detaillierten Instruktionen zur Zeit (zeitgleich zu St.Gallen/Zürich Switzerland: 16:50 h (4:50 PM) UTC)), zur Technik (einfache Videokamera, beispielsweise ein Smartphone) und zur Durchführung der Kameraaufnahme. Alles war minutiös beschrieben, auch der Fall, dass bei Teilnehmenden gerade Nacht sein würde zum Aufnahmezeitpunkt oder die Sonne wegen wolkenverhangenen Himmels nicht zu sehen sei. Zudem waren Speicherung, Benennung der Dateien und der Versand detailliert beschrieben. Monika Sennhauser hat ihre Email weit gestreut. Das Ergebnis der gesammelten Kamerafahrten zeigt sie nun hier im Architekturforum.

So wie die Teilnehmenden der Arbeit ihre Kamera zunächst auf ihre Fusspitzen richteten, sind die entstandenen Videosequenzen nun horizontal am Boden zu sehen. Vom Boden aus geht die Fahrt der Kamera mit einer einzigen geraden und direkten Bewegung bis zum Fokus der Sonne. Die Arbeit erzählt viel: Sie ist getragen durch die Verfügbarkeit hochentwickelter Technik. Sie repräsentiert die globale Vernetzung mittels neuer Medien, und die dennoch sich behauptende Vielfalt der Kulturkreise. Die Aufnahmen stammen aus Kalifornien, Mexiko, Texas, New York City, Kanada, Südamerika, Grönland, London, Ägypten, in der Schweiz unter anderem aus Zürich, Bellinzona, St. Gallen, oder aus China, Malaysia und anderswo. Diese Vielfalt ist beeindruckend, ebenso wie sie einigen anekdotischen Charakter hat. Aber all das sind in Monika Sennhausers Arbeit Nebeneffekte. Ihr eigentliches Thema ist es, die Drehung der Erde um die Sonne darzustellen. Schon seit einigen Jahren hat die St.Galler Künstlerin daran gearbeitet zu zeigen, dass die Erde der Sonne folgt, ihr nachdreht. Ziel ist es, die scheinbare Bewegung der Sonne nicht mitzumachen und dadurch die Bewegung der Erde sichtbar zu machen.

Monika Sennhauser hat verschiedene Wege ausprobiert, viele Experimente gemacht, ist weit gereist. Ihr persönlicher Erkenntnisdrang mündet in eine vielseitige künstlerische Erkundungs- und Darstellungspraxis. Nicht nur Sonne und Erde sind ihre grossen Themen, sondern auch Licht und dessen Brechung, Farben und andere optische und astronomische Phänomene. Aus dem bewussten Sehen heraus entwickelt sie präzise Fragestellungen: Ist der Bogenverlauf der Sonnenbahn auf der anderen Seite der Erdhalbkugel ein anderer als hier oder genau gegengleich? Wie lässt sich die Erdbewegung um die Sonne bildlich fassen, im Gegensatz zur scheinbar zu beobachtenden Sonnenbewegung? Wie öffnet ein Spiegel den Raum, und wie beeinflusst er die Wahrnehmung eines Gegenstandes?

Sennhausers künstlerische Werke sind mehr Experiment als Objekt. Das Material für ihre Versuchsmodelle findet sie St.Galler Künstlerin oft an unvermuteter Stelle und konstruiert damit bis ins Detail durchdachte Anordnungen, die den Blick selbst dann öffnen, wenn Monika Sennhauser bekannte, alltägliche Dinge verwendet. Zum Beispiel im Architekturforum: Mit NOWS 1 und NOWS 2 hat die Künstlerin zwei Installationen eigens und temporär für die aktuelle Ausstellung entwickelt. Vier Tische aus dem Fundus des Architekturforums und fünf Spiegel sind das einfache Vokabular beider Arbeiten. Das Ergebnis sind hochkomplexe Wahrnehmungsstudien: Was lässt sich alles beobachten? Was ist ein Tischbein? Was ist ein gespiegeltes Tischbein? Ist es ein halbdurchlässiger Spiegel? Wo entsteht räumliche Wirkung? Wo wird der Raum beschnitten? Wie brechen sich die Linien, wie ziehen sie sich weiter? Monika Sennhauser verzichtet darauf, die Anordnung als Werk auszuformulieren, die ephemere Situation ist ihr ebenso wichtig wie die flüchtigen visuellen Eindrücke. Sie ist eine genaue Beobachterin, die es mit ihren ausserordentlich präzise konstruierten Arbeiten ermöglicht, an Seh- und Verstandeserlebnissen teilzuhaben.

2011 filmt Monika Sennhauser zwei Himmelsausschnitte. Mit dem Titel der Arbeit Zwei Fenster 2011, Pissarro – Newman bezieht sie sich auf zwei Maler, denen wenig gemein zu sein scheint. Barnett Newman setzte in seiner Werkgruppe der zip-Bilder über die monochromen Farbflächen seiner grossformatigen Gemälde schmale vertikale Balken in Kontrastfarben. Sie sind trennendes und zugleich verbindendes Element. Camille Pissarros Grosser Birnbaum in Montfoucault (1876) aus der Sammlung des Kunsthauses Zürich funktioniert entgegengesetzt zu Newmans zips. Hier zerteilt ein grosser Birnbaum den einen Himmel in zwei Flächen. Sie sind nicht nur verschieden gross, sondern auch verschieden farbig. Rechts dominiert ein helles Blau mit weissgelb leuchtenden Zirruswolken, links dagegen ist der Himmel verschattet zu einem dunklen Blauton. Monika Sennhauser visualisiert in ihrem Video ebenfalls Trennendes und Verbindendes. Der Zwischenraum ist kein nachträglich eingefügtes Element, sondern Teil des gefilmten Bildes: Die Künstlerin platzierte zwei Spiegel auf dem äusseren Fenstersims und filmte beide dann mit nur einer Kamera. Die Wolken ziehen also tatsächlich von einer Seite auf die andere hinüber und gleiten am Spiegelzwischenraum vorbei. So spürt Monika Sennhauser dem ästhetischen Reiz bekannter Erscheinungen nach. Die Ausstellung lässt Bekanntes neu sehen. Sie sensibilisiert für Farb-, Form- und Flächenverhältnisse und das Potential eines offenen Blickes.

Der Hund als Kuh und umgekehrt

Willy Künzler für Obacht-Kultur

Die Kuh zeigt ihre Reisszähne. Weit bleckt sie ihre Zunge heraus. Hässig sieht sie aus und gestresst. Die Augen sind nicht mehr gross, schwarz und sanft, sondern mit kleiner Iris im umgebenden Weiss. Willy Künzler (*1930) schenkt der geduldigen Kuh einen Hundekopf, einen grimmigen Blick und scharfe Zähne. Soll sie sich wehren können? Oder ist es anders herum? Hat der Bläss einen Kuhkörper erhalten, um doppelt nützlich zu sein? In dieser hybriden Gestalt könnte er die Herde eintreiben und obendrein als Milch- und Fleischlieferant dienen.

Willy Künzler ist ein kritischer und aufmerksamer Geist. Der im Buchberg bei Thal aufgewachsene und heute in Stein lebende Maler bildet die Welt nicht so einfach ab, so wie sie sich oberflächlich betrachtet darstellt. Seit er 1996 begonnen hat, künstlerisch zu arbeiten, kommentiert mit seinen Bildern die grösseren Zusammenhänge rund um aktuelle politische und gesellschaftliche Erscheinungen – schweizweit, aber auch lokal, ausserrhodisch, appenzellisch. Besonders haben es ihm die landwirtschaftlich genutzten und ausgenutzten Tiere angetan. Sie sind mal Hauptakteur in seinen Bilderzählungen, mal bleiben sie im Hintergrund, immer jedoch behandelt sie Künzler mit dem ihm eigenen Gespür für die Würde dieser Lebewesen. So stellt er ihnen auch einen besonderen, eigens erfundenen Schutz zur Seite: Kuh-Engel wachen, mahnen und sie fordern einen achtsamen und dankbaren Umgang mit Natur und Kreatur.

Obacht Kultur No. 18, 2014/1

Das Bellen auf der A13

Harlis Hadjidj-Schweizer, «A13», 2014 – Ein Kunstbeitrag für Obacht-Kultur

Unterwegs, auf der A13 gen Süden, in die Ferien. Der Verkehr fliesst. Plötzlich ballen sich rote Bremslichter auf der Fahrbahn. Stop! Stau? Ein Unfall? Die Gedanken schweifen nicht länger umher, sie sind ganz aufs Geschehen fokussiert. Gelassenheit weicht grosser Anspannung. Plötzlich ist nichts mehr selbstverständlich.

Harlis Hadjidj-Schweizer inszeniert den Moment des Kippens. Auf der Gegenseite eines zusammengefalteten blauen Posters ist ihr Bild einer Autofahrt reproduziert. Das monotone Blau kippt in intensive Farben und Kontraste. Die Routine hinter dem Lenker kippt in Herzklopfen. Grell blitzen die Frontscheinwerfer auf der Gegenfahrbahn, Rot und Gelb die Rücklichter direkt voraus. Die Spiegelungen auf dem regennassen Asphalt verdoppeln die intensiven Farben. Gesteigert werden sie durch die Grün- und Blautöne der Vegetation, des Himmels und des Bodens – die Farben vibrieren. Harlis Hadjidj-Schweizer hat die Szene selbst erlebt. Wie in vielen ihrer Gemälde entspringt die Bildidee für «A13» einem konkreten persönlichen Erlebnis. Zugleich transportiert sie eine andere Erinnerung, eine, die sich tief ins emotionale Gedächtnis eingegraben hat und das Herz mancher ebenso rasen lässt wie eine Ausnahmesituation auf der Autobahn.

Die Ausgangssituation ist ähnlich harmlos: Unterwegs, auf Wanderwegen, in der Freizeit, am Wochenende. Die Gedanken schweifen, das Auge ergötzt sich am Grün, an den wie hingestreut liegenden Bauernhöfen. Da schiesst er laut bellend um eine Hausecke oder aus seiner Hundehütte: Der Hofhund. Er verteidigt sein Revier oder zumindest bewacht er es. Beisst er wirklich? Darauf kommt es nicht an, die Alarmglocken schrillen im Kopf.

Die Angst vor Hunden hat einen Namen und gilt als Überbleibsel der Urangst des Menschen vor wilden Tieren. Und selbst, wenn keine pathologischen Cano- oder Kynophobie vorliegt, kann ein wachsamer Bläss bei manchen Wandernden Panikattacken verursachen. Es ist ein Rassemerkmal des Appenzeller Sennenhundes, dass er das Vieh unter ausdauerndem Gebell zusammentreibt und als Wachhund schnell, gern und lautstark anschlägt. Er gibt ein eindringliches Warnsignal, genau wie die grellroten Rücklichter: Achtung! Stop! Hier nicht weiter! Wer dennoch weitergeht, braucht starke Nerven.

Harlis Hadjidj-Schweizer ist 1973 in St.Gallen geboren und besuchte dort die Schule für Gestaltung, anschliessend studierte sie an der Ecole de Décor de Théâtre in Genf. Seit 1996 arbeitet die Künstlerin in ihrem Atelier in Gais und seit 2005 zusätzlich in St.Gallen.

Obacht Kultur No. 18, 2014/1