Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Singen über Grenzen hinweg

Musik verbindet. Musik lässt Grenzen, kulturelle und gesellschaftliche Barrieren hinter sich. Binsenweisheiten? Vielleicht; aber Musik erreicht all das nur, wenn ihr verbindender Charakter gelebt wird, so wie bei Joana Obieta. Die junge Sängerin ist im Tango ebenso zuhause wie in der Weltmusik, liebt Jazz und Funk ebenso wie kubanische Rhythmen. Zuerst allerdings war sie umgeben von Klassik, denn Joana Obieta wuchs in einer Familie auf, in der Grosseltern und Eltern klassische Musik auf höchstem professionellen Niveau betreiben. So war Instrumentalunterricht für Joana Obieta beinahe selbstverständlich: Sie spielte acht Jahre lang Blockflöte, parallel dazu zwei Jahre lang Kontrabass und begann mit 13 mit dem Saxophon. Zuvor war, als sie zehnjährig die erste Staffel von «Deutschland sucht den Super Star» gesehen hatte, die Stimme dazugekommen: «Wir haben das en famille geschaut und begeistert begann ich mit Gesangsstunden.» Aber Joana Obieta erlebte Gesang nicht nur vor dem Fernseher: «Dank meines Vaters, damals Solokontrabassist im Sinfonieorchester St.Gallen, bin ich praktisch im Theater aufgewachsen. Nach der Aufführung von `Fame´ wollte ich Musicalsängerin werden. Tanz, Gesang und Schauspiel kombinieren zu können, schien mir damals unschlagbar.» Das Musical vermochte Joana Obieta aber nicht dauerhaft zu fesseln. Einerseits hatte sie bereits in der Schulzeit eine eigene Band gegründet, andererseits hatte sie nach der Matura begonnen, regelmässig nach Lateinamerika und vor allem nach Kuba zu reisen, und war fasziniert von den vielfältigen Rhythmen.

Zwar entschied sich Joana Obieta zunächst für ein Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaften in Zürich, «aber die Musik zum Beruf zu machen, hat mich nicht losgelassen.» Zum Glück, denn ihr gelang, wovon viele träumen: Joana Obieta wurde am renommierten Berklee College of Music in Boston aufgenommen. Vier Jahre lang hat sie nicht nur Musik auf höchstem Niveau studiert, sondern auch ein ausgezeichnetes Netzwerk aufgebaut und einen Businessabschluss erworben, der sich als gute Basis für ihre Projekte erweist: «Viele sind ausschliesslich fokussiert auf ihre Musik. Ich warte aber nicht gern auf Gelegenheiten, sondern schaffe lieber selber welche. Ich organisiere Konzerte, Festivals und Auftrittsmöglichkeiten. Auch wenn es eine finanzielle Herausforderung ist, schätze ich momentan das Leben ohne Festanstellung. Es gibt mir die Freiheit, meine Projekte weiterzuentwickeln.» Dazu gehört auch ihre eigene Startupidee, mit der sie bereits im Silicon Valley eingeladen war: Musik wird eingesetzt, um die interkulturelle Kommunikation und die gegenseitige Empathie zu fördern. In ihrer international zusammengesetzten Band DEJÀN funktioniert dies seit langem: «Die Kreativität und der Input aller Bandmitglieder macht die Musik für mich zu einem Ganzen. Ich entwickle nicht gerne alleine ganze Arrangements im dunklen Kämmerchen.» Und dank der organisatorischen Ader der jungen Sängerin ist DEJÀN nicht nur in den USA zu hören: «Zwar braucht es einen Rieseneffort, um über die Distanz etwas zu organisieren, aber mir sind die Verbindungen wichtig.» Und so werden DEJÀN und Joana Obieta auch immer wieder in der Ostschweiz zu hören sein.

Joana Obieta (*1992) studierte Kommunikationswissenschaften an der Universität Zürich und Gesang, Business und Performance am Berklee College of Music. Joana Obieta lebt in New York City.

Obacht Kultur, No. 35 | 2019/3

In der Kirche Singen

Das Kirchengesangbuch, immer wieder neu und in hoher Zahl aufgelegt, mit vielen hundert Seiten und Liednummern, zeigt es an: Kirche und Singen gehören zusammen, seit langem schon und nach wie vor. Aber nicht für jeden einfach so. Pfarrer Andreas Ennulat denkt viel über gottesdiensttaugliche Lieder nach und wählt keines, bloss weil es im Gesangbuch einer Feier oder einer liturgischen Zeit im Kirchenjahr zugeordnet ist. Der Gründe dafür sind zweierlei: Sowohl inhaltliche Fragen wollen bedacht sein, aber auch die Singpraxis der Gemeinde. Für Ennulat ist «nicht jedes Lied inhaltlich stimmig, nicht jedes steht mehr im richtigen Kontext oder hat die richtige Aussage». Direkte Forderungen an einen personalisierten Gott etwa entsprechen zeitgenössischen Glaubenseinstellungen nicht mehr: «Viele der Kerninhalte stimmen noch, aber was im 16., 17. oder 18. Jahrhundert sinnreich war, müsste heute anders formuliert werden». Zu den noch immer gut passenden Liedern gehören für Ennulat die Nummern 530 und 537 aus dem Gesangbuch: «Himmel, Erde, Luft und Meer» und «Geh aus mein Herz und suche Freud» machen Naturmystik allgemein verständlich, der Bezug zum personalisierten Gott ist zwar da, aber nicht um zu fordern, sondern die Schöpfung zu loben.

Das Gesangbuch wartet freilich auch mit neuem Liedgut auf, doch dieses kennen die traditionellen Gottesdienstbesucherinnen und -besucher kaum; und um es einfach zu singen, fehlt die Praxis: «Um mit der Kirchgemeinde neue Lieder einzuüben, wären Gesangstalente nötig». Zu denen zählt sich Ennulat nicht, ausserdem ist die Zahl der potentiell Mitsingenden inzwischen sehr klein: «Erst ab 25 Personen würden wieder andere Dinge möglich.» Pfarrer Ennulat sucht deshalb neue Wege, um die Gottesdienste zu gestalten: «So gab es zum Bettag einen halbstündigen Kurzgottesdienst mit Orgelbegleitung und einer Slam Poetin.» Mit musikalischen Soli oder der Orgel verleiht Ennulat nicht nur speziellen Gottesdiensten eine Struktur: «Jeder Gottesdienst ist wie ein Bauwerk. Er ist vom ersten Ton bis zum letzten Ton aufeinander abgestimmt und ergibt so ein harmonisches Ganzes.» Da kommt es auch auf die richtigen Lieder an.

Andreas Ennulat (*1955) studierte Theologie in Göttingen, arbeitete und promovierte an der Universität Bern und leitete 1991–1994 das Tagungszentrum Schloss Wartensee. Seit 2000 ist er Pfarrer der Gemeinde Wolfhalden AR und wird dort Ende 2019 pensioniert.

Obacht Kultur, No. 35 | 2019/3

Draussen Singen

Das weiss doch jedes Schulkind: Wenn es läutet, fängt der Unterricht an. Oder er hört auf. Stunde, Pause, Schulschluss – so einfach. Aber wenn es keine Schulglocke gibt? Wenn es kein strukturiertes Material, also auch keine Instrumente gibt, weil die Kinder im Wald lernen? Brauchen sie dann überhaupt Zeitsignale? In der Natur ist die strikte Minuteneinteilung der Lektionen überflüssig, denn die Kinder lernen nicht nach Fachgebieten getrennt, sondern erlebnisnah und alles miteinander. Aber Zeichen brauchen sie trotzdem, beispielsweise für den gemeinsamen Tagesbeginn, den Znüni, den täglichen Abschied vom Wald: «In der Natur hast Du nicht viel anderes als Deine Stimme, also ist Singen ein gutes Mittel zum Zweck.» Marius Tschirky hat für jede Gelegenheit Lieder erfunden und manche als Waldpädagoge tagtäglich gesungen: «Der schnellste Draht zu den Kindern ist die Musik.» Und sie funktioniert nicht nur als Botschaft, sondern hat viele andere Qualitäten: «Wenn Du Stimmungen erzeugen willst, sind Instrumente weniger wichtig. Mit dem Singen entsteht im Wald eine verschworene Gemeinschaft.»

Lieder lassen sich gut mit Ritualen verbinden, aber sie vermitteln auch Inhalte. Und am allerbesten funktioniert das, wenn die Lieder lustig sind, so wie das Lied vom «Dachs Adalbert». Es erzählt vom alten Dachs, der aus lauter Gutmütigkeit viele andere Tiere beherbergt. Und tatsächlich haben Dachse oft Untermieter in ihren weit verzweigten Bauen. Wie viele Lieder ist «Dachs Adalbert» eine gesungene, situativ entwickelte Geschichte mit wenigen, aber gut funktionierenden Elementen. Die Melodie ist einfach, der Inhalt verständlich, die Gesangslinie klar. Nun kommt es nur noch darauf an, die Töne zu treffen. Marius Tschirky sieht da keine Schwierigkeiten: «Jeder kann singen. Wichtig ist aber, wie man singt.» Gekünsteltes Singen kommt selten gut an, ob bei Kindern oder einem Workshop mit elf Förstern. Viel braucht es also nicht: Die Töne treffen, die eigene Freude am Wald vermitteln – und schon kann die Stimme alles in Schwingung bringen, zumindest die von Marius Tschirky.

Marius Tschirky (*1976) lebt in Teufen AR. Er ist freischaffender Musiker und Naturpädagoge.

Obacht Kultur, No. 35 | 2019/3

Darf´s ein bisschen mehr sein?

Pablo Walser zeigt im Kunstraum Kreuzlingen ein Weltanschauungspanoptikum. Im Frühjahr hat der Künstler, in dessen Lebenslauf sich Thurgau, Sachsen und das Appenzellerland mischen, den Adolf Dietrich-Preis erhalten. Die Ausstellung ist Teil der Auszeichnung.

Etwas Ideologiekritik gefällig? Oder etwas vom Phrasensalat? Vielleicht ein wenig Schlagzeilensuppe? Und zum Nachtisch eine Religionsbowle? Die Tafel ist reich gedeckt im Kunstraum Kreuzlingen. Es ist für alle etwas dabei und falls etwas fehlen sollte, darf selbst weitergemalt, -geschrieben, -gezeichnet werden. Pablo Walsers Prinzip ist das des Miteinanders: Hier sind alle willkommen. Je mehr Beteiligte, desto wilder die Mischung und desto intensiver das Ergebnis.

Wer da versucht, den Überblick zu behalten, ist von vornherein verloren. Macht aber nichts, Zufallsfunde haben auch ihren Reiz. Sie locken in Wort und Bild, in Zitaten und auf Zeitungen, in Gemälden und Comicstrips des Künstlers. Überarbeitete Schullandkarten hängen neben Collagen im Schülermagazinstil, hastig hingeworfene Notizen neben eng beschriebenen Blättern, Gedrucktes neben Gekritzeltem, zartfarbige Zeichnungen neben grellen Aufrufen, deren Neonfarben dank bereit hängender Taschenlampen noch intensiver aufleuchten. Im Untergeschoss des Kunstraumes geht es weiter mit einer Videoprojektion und rosafarbenem Kinderelektromobil. Wer hineinpasst, kann seine Runden drehen vorbei an den Informationstafeln über «Verbrechen der Zukunft» und an einer speziellen Liebesbibliothek.

Bunt kommt das alles daher, sehr unterschiedlich in Form und Farbe. Aber gerade in dieser Menge und im Durcheinander ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild. Das ist eine der Stärken von Pablo Walsers Ausstellung: Die verschiedenartigen Elemente stehen selbstbewusst für sich und münden gemeinsam in ein grosses Ganzes oder wie es auf Zeitungscollagen zu lesen ist: «Grütze mittenand» – zusammengerührt und sofort serviert.

Das gilt nicht nur für die Form, sondern auch für den Inhalt. Auch hier zelebriert Pablo Walser Vielfalt und Überfluss. Lustvoll schreibt und zeichnet er an gegen Grenzen, gegen Nationalstolz und Intoleranz, gegen Gewalt und Gewinn, gegen Zahlenfetischismus, Materialismus und manch anderen Ismus. Aber ganz ohne geht es dann doch nicht: Feminismus und Anarchismus haben ihren festen Platz in diesem Kosmos. Aber immerhin kommt der nie dogmatisch daher; dafür sorgt schon die unpolierte Form. Hier ist nichts auf Hochglanz und Bedeutung getrimmt, hier weht der Geist der Kommunen, der alternativen Lebensentwürfe und Sinnenfreuden. Das zeigt sich besonders im Video im Untergeschoss. Unter dem Titel «Die Abwesenheit der Liebe» feiert hier eine Parallelgesellschaft die Hochzeit des Universums. Ein altes Landgut bildet die Kulisse für ein buntes Völkchen und seine undurchsichtigen Aktivitäten. Jeder darf sich verkleiden, jede in eine Rolle schlüpfen, egal wie – Hauptsache friedlich und offen für die Anderen. Nur das Brautpaar läuft schliesslich davon und die Torte stapft gedankenverloren hinterher. Chaos ist Programm, doch das ficht niemanden an. Stattdessen übersetzen die Untertitel die sich ständig überkreuzenden Gesprächsfäden einfach mit «Crosstalk».

Der Begriff könnte als Motto über der gesamten Ausstellung stehen und ebenso für Pablo Walsers Umgang mit dem Quellenmaterial. Der Künstler bedient sich bei den Printmedien, im Internet, durchforstet die überall zirkulierenden Meinungen, Meldungen und Machtdemonstrationen. Er greift auf, was tagesaktuell wichtig erscheint, bedient sich aber auch in der Kunstgeschichte, bei alten Utopien, Philosophien und Ritualen. Die Stichwörter werden Pablo Walser also nicht so schnell ausgehen und wenn doch, steht ein Nachrichtengenerator in Glücksradform bereit: Auf zur nächsten Runde! Wer will, wer will, wer hat noch nicht?

Es bellt im Kunsthaus

Flatz hatte einen, Picasso ebenfalls, Manon hat oft zwei dabei: Hunde, die in der Zeit sogenannter Statement-Leuchten oder Statement-Halsketten wohl getrost als Statement-Dogs bezeichnet werden könnten. Raphaela Vogel (*1988) zeigt sich jedenfalls auch mit vierbeinigem Begleiter und benennt nicht nur eine ganze Installation nach «Rollo», sondern bringt das Kunsthaus Bregenz dazu, zum «Pudel-Tag im KUB» und zu Führungen in Pudelbegleitung einzuladen. Allerdings erschöpft sich die Schau an vielen Stellen in solchen Äusserlichkeiten – die Künstlerin spricht gerne von «Effekten».

Vogels Repertoire ist spätestens seit der Ausstellung in der Kunsthalle Basel im vergangenen Jahr bekannt: Versatzstücke aus der Unterhaltungsindustrie, aus der Tierwelt, aus der Kunstgeschichte. Im Foyer des Kunsthauses kommt all dies zusammen: Zwei an ihren Hinterpfoten aufgehängte Löwenplastiken erinnern an Johann Heinrich Füsslis berühmte Zeichnung: Brunhilde blickt auf den nackt vor ihrem Bett aufgehängten Gunther. Der eben noch als Eroberer Auftretende ist erniedrigt, das Machtgefüge umgekehrt. Auch Vogels Bronzelöwen, das Maul ursprünglich zum Siegesgebrüll aufgerissen, sind nun in unangenehmer Lage. Obendrein hängt in ihren Nasenringen je ein Kugellautsprecher. Daraus erklingt Milvas Schlager «Hurra wir leben noch». Die Künstlerin singt ihn selbst und steckt zum Auftakt der Ausstellung mit dieser präzise gesetzten Installation das Themenfeld ab: Wie fühlt sich ein Künstlerinnendasein an? Welchen Spannungen unterliegt es? Diese Fragen können durchaus zu starken künstlerischen Aussagen führen, aber in Vogels Beispiel entspricht die Relevanz der Selbstbespiegelung nicht der gezeigten Quantität. Alle drei Obergeschosse werden jeweils dominiert von einem Videoselbstporträt der Künstlerin: Im ersten übertönt Babygeschrei über einer Meeresszene alle anderen Werke. Im zweiten verbreitet ein Zeltgestänge als Skelett einer Eventgesellschaft grosse Leere – das Video darin wechselt vom Bett zum Kreisverkehr zum Tunnel, mittendrin die suchende Künstlerin. Zuoberst suggerieren Architekturminiaturen und der Einsatz einer 360°-Kamera, die ganze Welt liege der Künstlerin zu Füssen. Ausgerechnet diese Arbeit bezieht sich auf einen Film Helke Sanders über eine von Wohnungsnot zum Äussersten getriebene Frau. Der Kontrast könnte unterschiedlicher nicht sein zwischen der kämpferischen, engagierten Regisseurin und der immer wieder auf sich blickenden Künstlerin.

Kunst mit Aussicht

Die Galerie widmertheodoridis hat ihre Räume in Eschlikon geschlossen und macht trotzdem weiter. Die Galeristen haben ein neues Ausstellungsformat erdacht und halten unterdessen Ausschau nach neuen Orten.

Wer Weitsicht wünscht, muss hoch hinaus. Aber nicht immer ist ein Viertausender nötig oder ein Wolkenkratzer. In Eschlikon genügt für die Aussicht ein mittelgrosser Turm. So einer wie auf dem ehemaligen Ziegeleiareal. Hier, wo bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts Ziegel gebrannt wurden, ist seither eines der typischen Gewerbegebiete entstanden: gesichtslos und wenig bemerkenswert bis auf den Turm. Geradlinig überragt er die Industriebauten und macht neugierig. Denn sein schmuckloser Betonkörper ist gekrönt von einem in alle vier Himmelsrichtungen durchfensterten Kubus. Ist dies ein Stellwerk, so nahe am Bahngleis? Eine Überwachungsstation? Ein Direktorenbüro?

«Kommandozentrale» nennen Jordanis Theodoridis und Werner Widmer ihren neuen Galerieort gerne – und noch lieber «Horst». Denn von hier aus halten sie nach fünf Jahren klassischer Galeriearbeit in Eschlikon Ausschau: «Der ‹Horst› ist unsere Zwischenstation, bis wir wissen wohin.» Und er bietet die einmal mehr Gelegenheit etwas Neues zu wagen: «Wir haben immer wieder experimentiert. Das treibt uns an.» Nun zeigen sie eine nicht im Raum, sondern in der Zeit gestreckte Gruppenausstellung unter dem Titel «The Beauty and the Beast»: Zehn künstlerische Positionen fügen sich nacheinander und gehören doch zusammen.

Die erste ist Judith Villiger. Auf einer grauen Wandfläche im Erdgeschoss und im Lift sind aktuelle Arbeiten zu sehen. Villiger widmet sich starken Frauen aus der Ostschweiz, die sich gesellschaftlich engagierten und dennoch in der Geschichte unerwähnt blieben. Mit brachialen Arbeitsmethoden hat sie reproduzierte Porträtfotografien traktiert und manipuliert und daraus vielschichtige Bilder entwickelt. Sie sind der perfekte Auftakt in dieser Auseinandersetzung mit der Dualität des Wilden und des Schönen, das die Kunstgeschichte von Beginn an durchzieht und die selbst in dem Betonbau noch eine Entsprechung findet.

Interessierte sollten sich den 15. jeden Monats vormerken. Dann finden jeweils ein Künstlerdialog und ein Publikumsgespräch statt. Danach ist die Ausstellung nur noch auf Vereinbarung zu besichtigen. Ist dies ein Zugeständnis an das Besucherverhalten, das sich auf Eröffnungen und Ereignisse konzentriert? Werner Widmer bestätigt, dass es für Galerien schwieriger geworden ist, zu regulären Öffnungszeiten viele Gäste anzuziehen, aber beim «Horst» gehe es grundsätzlich um etwas Anderes: «Bei diesem Galerieformat steht die Kunst im Vordergrund nicht der Kommerz.» So bekommen die Künstlerinnen und Künstler nicht einfach einen Raum im «Horst», sondern eine Bühne. Ihre Arbeit wird nicht nur präsentiert, sondern intensiv diskutiert und analysiert – zehnmal bis einschliesslich 15. August. Dann ist die Gruppenausstellung vollständig, und vielleicht hat bis dahin auch der Ausguck hoch über Eschlikon seinen Zweck erfüllt, und Jordanis Theodoridis und Werner Widmer wissen, wohin die Reise geht. Was aber schon jetzt sicher ist, die beiden werden das Galeriewesen einmal mehr neu erfinden.

Das Leuchten der Hochalpen

Giovanni Segantini hat die Ikonografie der Berge geprägt. Zentral in seinen Werken ist die Dichotomie von Dunkel und Licht – eine Ausgangslage, die Künstlerinnen und Künstler bis heute herausfordert, ob mit Bergsujet oder ohne.

Giovanni Segantini (1858–1899) ist ein regelmässiger Gast im Kunstmuseum St.Gallen: Seit 1956 wurde er ungefähr alle zwanzig Jahre gewürdigt, und so wie die Lichtstimmung in jedem Segantinibild anders ist, ist auch jede der Ausstellungen ein Solitär. In «La Luce Alpina» sind jetzt vierzehn Gemälde Segantinis – eine stattliche Anzahl angesichts heutiger konservatorischer Restriktionen und nur möglich dank der zentralen Werkgruppe aus der Otto Fischbacher Giovanni Segantini-Stiftung – von aktuellen Werken umgeben. Letzteres ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn die Gemälde Segantinis haben ihren grossen Auftritt in der Mitte, im Oberlichtsaal. Dies ist die richtige Entscheidung, denn so wird einerseits den leuchtkräftigen Gemälden die ideale Lichtsituation zuteil, andererseits entfalten sich die anderen fünf Positionen in gut gewählter Raumabfolge rundherum: Im dunkel gestrichenen ersten Saal dehnt Siegrun Appelt (*1965) das Sehen. Langsam gleiten unstete, atmosphärische Bilder aus Licht und Farbe ineinander über. Sie bilden nicht ab, sondern bergen das Potential zu Bildassoziationen in sich. Im angrenzenden Raum ist Dove Allouches (*1972) Synthese von Licht und Dunkel zu sehen. In alchemistischer Manier experimentiert der Franzose mit Radiographien und mit metallischen Flüssigkeiten auf lichtempfindlichem Papier und beweist, dass die eindrücklichste Art, das Licht zu zeigen, das Dunkel ist. Patrick Rohner (*1959) verbindet nicht nur der Lebensort in den Bergen mit Segantini, sondern auch die künstlerische Arbeit in der Natur. Zwar entstehen seine prozessualen, vielschichtigen Ölbilder im Atelier, gezeigt werden aber auch Steinzeichnungen, in denen die Jahreszeiten selbst ihre Spuren gelegt haben.

Am direktesten wird das Ausstellungsmotto in den beiden südseitig gelegenen Räumen umgesetzt: Philippe Rahm (*1967) konzipierte für «La Luce Alpina» eine Arbeit aus weiss gestrichenen Bodenplatten in der Silhouette des maximalen Lichteinfalls und mit bläulicher Beleuchtung. Damit transferiert der Architekt das erhebende Strahlen hochalpinen Lichtes in den Innenraum des Kunstmuseums. In perfekter Nachbarschaft dazu stehen Not Vitals (*1948) «Tschinch Muntognas», jene fünf Berge im Grenzgebiet zwischen dem Engadin und Südtirol, in fragiler Eisendraht-Gips-Version im Gegenlicht. Sie sind Abbild und Abstraktion, sind Form und Oberfläche und transferieren Segantinis Gipfelketten in den dreidimensionalen Raum.

Symmetrie und Subjektivität

Die junge deutsche Künstlerin Raphaela Vogel zeigt unter dem Titel „Bellend bin ich aufgewacht“ eine Werkschau im Kunsthaus Bregenz. Immer wieder dreht sich bei der Künstlerin alles um sich und um sie selbst.

Raphaela Vogels Installationen sind aufsehenerregend. Die erstarrten Flüssigkeitseruptionen, die Tierfiguren und -häute, die grossen Stahlkonstruktionen ziehen das Kunstpublikum in Bann. Nun ist die 31-jährige im Kunsthaus Bregenz angelangt, einem Bau, der selbst für gestandene Künstlerpersönlichkeiten eine Herausforderung darstellt. Aber Vogel geht ganz unbefangen zu Werke. Das gelingt teilweise, teilweise auch nicht. Der Auftakt im Erdgeschoss des Kunsthauses zählt zu den beeindruckenden Momenten der Ausstellung. Im ansonsten leeren Foyer hängen zwei identische bronzene Löwenplastiken von der Betondecke. Das Maul der Kraftprotze ist geöffnet zum Triumphgebrüll. Doch nun scheinen die Raubtiere kläglich zu heulen, denn sie hängen nicht nur kopfüber, sondern in ihren Nasen ist je ein Ring befestigt, an dem ein Kugellautsprecher hängt. Daraus erklingt düster-sanft Milvas „Hurra, wir leben noch“, gesungen von Raphaela Vogel selbst. Mit diesem Lied übers Lebensauf und -ab steckt die in Nürnberg geborene und in Berlin lebende Künstlerin den Rahmen ihrer Arbeiten fest. Immer wieder geht es ihr um Spannungen und Druck, sowohl physikalisch, aber auch auf der emotionalen Ebene des Künstlerinnendaseins: „Was heisst es, Kunst zu machen? Meine Werke sind Reflexionen der eigenen Arbeit.“

Vogels „albtraumhafter Rückblick auf das eigene Schaffen“ gerät jedoch zur notorischen Selbstbespiegelung. Die Künstlerin setzt bewusst auf optische Reize: „Ich führe Effekte vor wie beispielsweise Symmetrien, Spiegelungen und Repetitionen.“ Besonders gern verwendet sie eine 360°-Kamera und tritt selbst auf. In „Son of a Witch“ etwa räkelt sie sich beobachtet von der Kamera auf einem runden Bett mit einer Poledance-Stange in der Mitte. Das Bett schliesslich verwandelt sich langsam in einen Kreisverkehr – alles dreht sich, Runde um Runde.

In „Tränenmeer“ steht Vogel auf einem Felsen am Meer und lässt sich von einer programmierten Drohne filmen, aber auch hier setzt das Kreisen ein: „Die Wirbel zermalmen und verdrehen das Bild, sie spiralisieren und verschränken Wasser und Land.“ Dazu ertönt ein lautes, gedehntes Säuglingsgeschrei, das nur scheinbar im Kontrast zur benachbarten Arbeit „Puppenruhe“ steht: Lebensecht gestaltete Puppen bergen den inbrünstigen Ruf nach einer heilen Welt. Aufgehängt sind sie an Aluminiumtraversen für die Bühnentechnik. Immer wieder verwendet Vogel solche Elemente: „Ich nutze gerne Restbestände der Vergnügungs- und Unterhaltungsindustrie.“

Die Gestänge wirken wie Skelette einer Eventgesellschaft und bilden bei Gerüst, Rahmen und Adersystem für Vogels Installationen. In „Rollo“, benannt nach dem Pudel der Künstlerin, kommen dazu noch weitere Relikte: Modelle architektonischer Wahrzeichen im Massstab 1:25. Sie standen viele Jahre im Freien. Tannennadeln liegen auf der Tower Bridge, der Rendsburger Hochbrücke fehlen Schienenstücke, die Kupferschindeln der Frauenkirche sind locker. Vogel verbindet diese Modelle mit Metallstangen, die alle zu einem Lautsprechersystem und einer Projektion führen: Einmal mehr steht die Künstlerin im Fokus einer Rundumkamera, die alles zu einem Punkt in der Mitte verzerrt, so dass die ganze Welt zu Vogels Füssen liegt. Sie steht im Mittelpunkt ihres Kosmos. Dabei ist der Ausgangspunkt dieser eigens für das Kunsthaus Bregenz entwickelten Installation ein ganz anderer: ein Film der deutschen Regisseurin Helge Sander über eine Frau, die verzweifelt über die Wohnungsnot mit ihren zwei kleinen Kindern bis auf die Spitze eines hohen Kranauslegers klettert. Der Film wird im Untergeschoss gezeigt und lässt in seiner existentiellen Dramatik, seinem Anspruch, seiner Wut und trotz seiner Entstehungszeit 1984 die Arbeiten Raphaela Vogels ziemlich blass dastehen.

Schlaglichter aufs Kunstgefüge

Kann eine Gruppenausstellung die Wirkung von Hochschulen, Jurys, Auszeichnungen und Kunsträumen auf eine künstlerische Karriere aufzeigen? Kann sie dies für alle grossen Schweizer Sprachregionen? Genügen dafür neun exemplarische, künstlerische Positionen?

Der Anspruch von «Protect me from what I want – 15+1 Jahre Helvetia Kunstpreis» ist hoch und der Einstieg überdeutlich: Gina Proenza (*1994) und Ruben Valdez (*1986) aus Lausanne haben in die Kunst Halle Sankt Gallen einen Laufsteg gebaut. Von Wand zu Wand breitet er sich aus und erinnert mit seiner Schleifpapieroberfläche an den sprichwörtlichen roten Teppich. Wer ihn beschreitet, merkt jedoch schnell, dass hier nicht nur Kanten (und Karrierevorstellungen) abgeschliffen werden können, sondern das Terrain ein schwankendes ist, denn der Steg lagert auf Tennisbällen. Sicherheiten gibt es also für junge Künstlerinnen und Künstler nicht – oder? Könnten sie in der Zusammenarbeit mit Sponsoren liegen, so wie es die Gemäldeserie des Genfers Josse Bailly (*1977) suggeriert mit der ironischen und unbefangenen motivischen Nähe zum Geldgeber?

Zwar stehen die Versicherungsgesellschaft und der inzwischen nach ihr benannte Kunstpreis im Titel der Ausstellung, aber sie präsentiert ein vielfältigeres Bild. Dafür sorgt etwa der Einbezug des Offspace Sonnenstube aus Lugano und der Hochschule Luzern, letztere wird die Verbindung St.Gallen – Luzern in eine Performancestrecke umfunktionieren, ersterer hat kürzlich seine feste Bleibe verloren und tourt nun mit einem Wohnwagen durch die Schweiz – perfekt also, um in St. Gallen die Bedeutung eines artist-run space als Netzwerkplattform zu zeigen, quasi als Ausstellung in der Ausstellung.

Auch die Provenienz der Werke spiegelt das heterogene Bild, in dem sich die junge Kunstszene bewegt. Sie stammen teilweise aus der Sammlung des Preisstifters, aus dem Besitz der Künstler und Künstlerinnen oder sind eigens entstanden – und zeigen die Förderung durch Aufträge. Eine Arbeit ist sogar auf Giovanni Carmine zugeschnitten: Der Zürcher Florian Germann (*1978) schickt den Leiter der Kunsthalle in Alienschuhen durch die Institution. Der Schall der Tritte hallt akustisch verstärkt durchs Haus – der Kurator: eine omnipräsente Macht. Die Ausstellung ist reich an solchen Schlaglichtern auf das Kunstgefüge, und auch wenn sie in ihrer Knappheit kaum allgemeingültige Aussagen zu treffen vermag, bietet sie einen wichtigen Diskussionsbeitrag.

Stille in Garten und Schrift

Monet wollte den perfekten Garten, Blüte an Blüte, Farbenpracht und Überfluss, gehegt und gepflegt von Profis. Gemüsebeete und Obstbäume hatten im Gartenkunstwerk ebenso wenig Platz wie all das, was unter dem Begriff «Unkraut» zusammengefasst wird.

Hartnäckig erobert sich das Unkraut immer wieder einen Platz und wird ebenso hartnäckig ausgerupft. Ursula Palla (*1962) hat sich diesen ungeliebten Pflanzen bereits in früheren Arbeiten gewidmet und nun einige Dutzend Exemplare aus Monets Garten der Vergänglichkeit enthoben. In Bronzegüsse übertragen stecken die zarten Halme mit ihren spärlichen Blättern, den unscheinbaren Knospen und Blütenständen im Boden des Kunstraum Kreuzlingen. Dank einer Licht- und Videoprojektion werfen sie ihre eigenen Schatten an die Wand und werden von den Silhouetten sanft bewegter Exemplare überblendet. «empty garden» ist mit seiner Nähe zur Naturstudie und der Aufmerksamkeit für das Unscheinbare ein würdiger Nachfolger des Dürerschen «Grossen Rasenstücks», bereichert um einen poetischen Moment, der sich aus der Inszenierung als raumfüllende Arbeit und dem Spiel zwischen Objekt und projiziertem Abbild ergibt. Im Tiefparterre setzt sich die fragile Gartenstudie fort. Palla hat Spiegelfragmente zu zwei kristallinen Flächen zusammengefügt, Seen gleich liegen sie still in der Dunkelheit. Die Stille verbindet die Arbeiten Pallas mit jenen von Zsuszanna Gahse (*1946). Die Schriftstellerin, Lyrikerin und Übersetzerin präsentiert ihre Arbeiten erstmals in einer grösseren Auswahl. Die Nachbarschaft zu Palla erweist sich dabei als gut gewählt. Denn die unaufgeregte, sorgfältige Art, mit der sich die Videokünstlerin ihren Themen nähert und sie umsetzt, zeichnet auch Gahses Schriftbilder aus. Sie erweisen sich einerseits als inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Wort und seinen Aussagemöglichkeiten. Andererseits entwickelt die Preisträgerin des Schweizer Grand Prix Literatur 2019 Schriftbilder, die auf dem gestalterischen Aspekt der Buchstaben und Wörter beruhen. Sie reiht immer die gleiche Wortkombination aneinander, setzt solange handgeschriebenen Text über handgeschriebenen Text bis im Schwarz jede Leserlichkeit aufgehoben ist, sie überschreibt horizontale Zeilen diagonal in einer gleichmässig fliessenden Schrift, so dass sich die Wörter verkanten. Das Ergebnis sind Blätter, die zwischen sprachlichem und grafischem Rhythmus variieren und die Beiläufigkeit von Fingerübungen besitzen.