Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Das Runde und das Eckige

Hans Arps organische Plastiken und die geschwungenen Konturen seiner Reliefs sind ideale Partner für die gerade, gebaute Linie. Seine Werke rhythmisieren die strengen Gebäudeformen und sind in ihrem Anspruch, Kunst und Architektur zu verbinden, noch immer wegweisend für Kunst am Bau-Projekte.

Hans Arp (1886–1966) hat Bauplastiken entworfen, hat architekturbezogen gearbeitet, hat Werke ortsspezifisch für den öffentlichen Raum konzipiert. Das ist wenig überraschend und beinahe allgemein bekannt. Umso erstaunlicher ist es, dass diese oft grossformatigen, präsenten Arbeiten kaum je das Thema von Publikationen und noch nie von einer Ausstellung waren. Das Kunstmuseum Appenzell und die Fondazione Marguerite Arp in Locarno schliessen nun diese Lücke. Mit «Public Arp» stellen sie Arps baubezogene Werke in den Kontext seines Schaffens und zeigen wie sie von der Vision einer Synthese der Künste getragen sind.

Die Ansprüche waren hoch: Nach dem Zivilisations- und Kulturbruch der Nazizeit ging es darum, wieder ästhetische Zeichen der Moderne zu setzen und an die früheren Errungenschaften anzuknüpfen. Architektur und Bildende Kunst standen dabei gleichberechtigt auf einer Stufe. Dank der Synthese beider sollte die Architektur ein menschlicheres Gesicht erhalten – ein Anliegen, für das sich insbesondere der Schweizer Architekturhistoriker Siegfried Giedion (1888–1968) einsetzte. Arp schätzte dieses Engagement und war gern bereit, an der Durchdringung von Kunst und Architektur mitzuwirken. Die Ausstellung fokussiert auf zehn Hauptwerke, darunter nahgelegene und fernere. Zu ersteren gehört die Universität St. Gallen. Für deren brutalistischen Betonkörper sollte Arp ursprünglich ein Relief beisteuern. Installiert wurde aber – aus gesundheitlichen Gründen musste Arp kürzer treten – schliesslich der «Schalenbaum», 1960. Die Bronzeplastik vor einem Bassin rechts des Haupteinganges markiert den Übergang zwischen Natur und Landschaft und hat bis heute nichts von ihrer Präsenz verloren.

Arp arbeitete immer wieder für Bildungsinstitutionen und leistete damit auch einen Beitrag an die visuelle Erziehung; vorgestellt werden ausser der Universität St. Gallen die Pestalozzischule Zürich, das Harvard Graduate Center, die Universität Caracas, die Technische Universität Braunschweig und die Allgemeine Gewerbeschule Basel sowie weitere Arbeiten beispielsweise für Kirchen. Die Ausstellung präsentiert vorbereitende Skizzen und Zeichnungen, Kartonentwürfe für die Reliefs und Modelle, Archivmaterial sowie historische und aktuelle fotografische Dokumentationen. Zudem sind den ortsbezogenen Arbeiten andere Plastiken Arps zur Seite gestellt; damit greift der Dialog zwischen Architektur und Kunst auch auf den beispielhaften Museumsbau über.

Unfertig, unangepasst, unverzagt – Albert Oehlen malt weiter

«Ich habe mir Verfahren verordnet, um Bilder zu malen, die ich sonst nicht malen könnte. Ich bin nicht intuitiv vorgegangen, sondern habe mir ein Programm ausgedacht und zum Schluss gestaunt.» – Freiheit von der Intuition, Freiheit vom Erfindungszwang, Freiheit von akademischen Ideen. Selbst die Idee des Originals ist obsolet geworden: Albert Oehlen malt nach eigens implementierten, kunstneutralen Regeln, malt Werke nochmals, deren er nicht mehr habhaft werden kann, malt mit unangepasster Geste und unbeeindruckt von Kunstströmungen, akademischen Weisheiten oder Marktdiktaten.

Das Kunstmuseum St.Gallen wäre auch eine Option gewesen. Aber Albert Oehlen, der im vergangenen Jahr eine umfangreiche Werkauswahl im Palazzo Grassi zeigte, zog die Lokremise den klassischen Räumen vor. Da, wo es keine rechteckigen Grundrisse gibt und damit auch keine einander parallel gegenüber liegenden Wände, hat der Künstler Werke aus knapp vierzig Jahren zu einem vielfältigen Bezugssystem arrangiert. Und so wie das ehemalige Lokomotivdepot als Ausstellungsort nie ganz den Charakter des Provisorischen, Variablen verlieren wird, sind auch Oehlens Werke – der Ausstellungstitel «unfertig» deutet es an – keine malerischen Manifeste, sondern fluide Auseinandersetzungen mit dem künstlerischen Medium. Sie fallen mal schludrig, schnell, fleckig und krude aus, mal akkurat, präzise und geometrisch, wobei die erstgenannten Beispiele in der Ausstellung dominieren. Die Präsentation beginnt mit drei Bildern aus dem Jahre 1985, je eines in gelb, rot und blau.

«Ich habe damals in Grundfarben gemalt. Die Serie besteht aus sechs Bildern. Das ist es im Wesentlichen.» So lapidar schildert Albert Oehlen seine Arbeit formal und fügt zum Inhalt an: «Die Motive müssen nicht gedeutet werden. Wie das so ist: Es waren damals Motive aus der Werbung.»; Motive, die als Anregung, als Impuls dienten und nicht als Vorlage. Sie bleiben so im Vagen, dass sie jenseits von Aktualitäten den Aufbruch in den 1980er Jahren immer noch gültig dokumentieren: den Boykott der Geschmacksideale, die Absage an Tiefsinn, Stilreinheit und gutes Handwerk. So berichtet Oehlen am Beispiel der ausgestellten «Kerze» von 1981, wie er im Atelier Immendorfs dazu jemanden sagen hörte, schlechter könne man nicht malen, und dies mit einer Kaufempfehlung verband. Die Stimme gehörte Martin Kippenberger, der bald darauf im Trio mit Werner Büttner und Albert Oehlen für das «bad painting» stand.

Konstellationen statt Retrospektionen

Oehlens Malerei aus den 1980er Jahren hat nichts von ihrer Dynamik und Frische eingebüsst. Dass aber die beiden gelben Bilder der Primärfarbenserie sogar noch nach Terpentin und Lack riechen, verwundert zunächst. Ein Blick auf die Werkliste löst das Rätsel teilweise: Als Entstehungsjahr ist 2019 angegeben. Aber es sind die Motive von 1985. Die Erklärung ist einfach: Die ursprünglichen Bilder sind nicht mehr im Besitz des Künstlers. Statt langwieriger Recherchen und aufwendiger Ausleihprozesse hat sie

Albert Oehlen neu gemalt – im Stile der 1980er, sozusagen als spätere Version der früheren Bilder. Diskussionen um Original oder Unikat lässt der Künstler nicht aufkommen und reflektiert stattdessen seine künstlerische Arbeit: «Ein Bild nochmals zu machen fühlt sich nicht gut an. Schöner ist es, etwas Neues zu machen. Ich habe einen Widerwillen gegen die alten Bilder. Manchmal lockert sich das auch und ich kann zu alten Bildern wieder ein freundliches Gefühl bekommen.» Dieser Annäherungsprozess an längst abgeschlossene Arbeitsphasen mag zunächst unbequem sein und herausfordernd: «Wie gut kann ich mich erinnern? Wie gut kann ich das nochmal machen?». Aber Oehlen zieht ein positives Fazit: «Das war dann doch ein Spass.». So bleibt die Kunst durchlässig in alle Richtungen: in die Vergangenheit, in die Zukunft und stark in der Gegenwart verankert. Die Ausstellung ist damit weder eine Retrospektive noch eine aktuelle Werkschau, sie ist ein Netz aus Konstellationen.

Malerei im Digitalen Raum

So wie Oehlen nie dem Banalen, Hässlichen oder Populären auswich, liess er sich auch auf das Digitale ein: «Es fängt 1990 an: Ich habe mit den Mitteln gearbeitet, die es damals gab. Deshalb waren alle Bilder stark pixelig. Ich habe mich damit auseinandergesetzt: Warum soll ich damit arbeiten? Was ist meine Haltung dazu?»

Einige Jahre später entstanden zwei grossformatige Wandpaneele, die für eine Präsentation im Aussenraum gänzlich am Rechner entworfen und auf halbdurchlässiges Trägermaterial gedruckt wurden. Sie sind ebenfalls in der Lokremise zu sehen und verlangten dem Künstler ganz andere als nur malerische Entscheidungen ab. Für Oehlen stellte sich die Frage «Wie beeinflusst das Angebot des PC das Denken?» und er schildert die Unterschiede im Arbeitsprozess: «Ich entscheide, ob ich etwas lasierend haben will. Im Studio nehme ich dünne Farbe und muss nicht viel denken. Am PC muss ich definieren, wie deckend ich arbeiten will und muss eine neue Ebene anlegen, den Deckungsgrad bestimmen, muss die Kontur definieren: ob die Ränder flauschig sein oder eine Kante haben sollen. Und ich bin die ganze Zeit damit konfrontiert, dass die Bezeichnung vor der Nase steht, weil die angebotenen Werkzeuge einen Namen haben.»

Das Programm der Bäume

Das Resultat der Verfügbarkeit unendlich vieler Farben, Formen und Strukturen, des Angebots von Musterstempeln, Linienarten und Verzerrungsmöglichkeiten sind Bilder von gewisser Beliebigkeit. Albert Oehlen verlor bald das Interesse und wandte sich wieder der Malerei zu, legt ihr aber erneut ein Programm zugrunde, so beispielsweise in der Serie der baumartigen Strukturen: «Der Grundgedanke der Bäume ist das Wachstumsprinzip: Wenn man an einen Winterbaum näher herangeht, sieht man, dass die Bewegung, die der Ast machen kann, sehr vielfältig ist. Es gibt keinen Unfug, den er nicht machen kann, und es gibt nur zwei Regeln: dünner werdend, von der Mitte ausgehend. Wenn ich dieses Programm in der Malerei anwende, entstehen gute Formen. Ich bin nicht von einer visuellen Vorstellung ausgegangen, sondern einem Programm gefolgt.» Und Oehlen hat ein weiteres Element hinzugefügt: Die schwarzen Strukturen auf weissem Grund kontrastieren mit magentafarbigen Flächen, aber auch sie verweigern sich einer Interpretation: «Die Farbe hat keine Bedeutung und macht in der Funktion das, was ich will. Es gibt keine Unterhaltungseffekte durch Farbwechsel.» Unterhaltsam ist Oehlens Kunst trotzdem, denn sie bildet nicht das zu Erwartende ab und bleibt im gegenwärtigen Boom der Malerei, in dem Vieles seinen Marktwert erprobt, eigenständig und unangepasst.

Das Andere im Vertrauten

«wild, exotic, different» – diese drei Adjektive evozieren starke, aber auch negative Bilder, die geprägt sind von einer Geschichte, in der noch vor 100 Jahren sogenannte Völkerschauen stattfanden, und von einer Gegenwart, in der diese Begriffe noch immer für das vermeintlich Fremde werben, es beschreiben oder verunglimpfen. Brigit Edelmann, Stefan Rohner und Andy Storchenegger haben sich mit diesen ambivalenten Konnotationen künstlerisch auseinandergesetzt und dafür einen idealen Ort gefunden: das Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen. Die ethnologische Sammlung des Hauses wurde hauptsächlich zur Zeit der Stickereiblüte von St. Galler Kaufleuten zusammengetragen und ist zu grossen Teilen noch immer in den historischen Vitrinen ausgestellt. Edelmann, Rohner und Storchenegger präsentieren ihre Arbeiten eng verflochten mit der Dauerausstellung und untersuchen die grosse Wirkung kleiner Verschiebungen: Was passiert, wenn bekannte Objekte in ungewohnten Materialien daherkommen? Wenn Tiere und Menschen an anderen als den üblichen Orten unterwegs sind? Wenn vertraute Farben, Formen oder Klänge plötzlich mit anderen, fremden Elementen gemischt werden? Das Potential für diese Untersuchungen ist riesig und die drei spielen es in vielfältigen Medien durch. ks

 

Ich ist ein Emoji

Der Raum ist roh, riesig und widerspenstig. Sylvie Fleurys Kunst ist glatt, glamourös und ironisch – ein verheissungsvoller Kontrast, den die Künstlerin souverän zu ihren Gunsten nutzt. Gelbe und pinkfarbene Fensterfolie verwandelt die Lichtstimmung im Kunstraum Dornbirn gleich einem Instagramfilter. Die schartigen Wände, die Industrieapparaturen in der ehemaligen Montagehalle – alles schmeichelnd umflossen von Rosa. Es hüllt auch die riesigen Aufblasfiguren einer Katze und einer weiblichen Porträtbüste ein, beide zähneputzend und stilisiert durch einen weiteren Filter: Die App Bitmoji tilgt alles, was individuell macht. So dominieren klare Linien und grosse Augen statt Runzeln, Narben, Asymmetrien. Das Selbstporträt der Künstlerin ist bestenfalls noch an ihrer markanten Brille zu erkennen und an ihrer Vorliebe für Logoshirts. Der Schriftzug «Eternity Now» prangt auf dem Kleidungsstück und ist zwar der Name eines weltbekannten Parfüms, aber viel mehr noch eine Behauptung, die das gesamte Selfiefieber befeuert. Warum warten, wenn jetzt der schönste, beste, fotografierenswerteste Moment da ist? Auch Sylvie Fleury wartet nicht, aber in der Übersteigerung schafft sie Raum zur Reflexion. ks

 

Klanginstallationen im Feuchtgebiet

Es war eines jener Kunstereignisse, die schon allein ihrer besonderen Lage und Räume wegen in Erinnerung bleiben: kleine windschiefe Scheunen, hingestreut im Hochmoor westlich von Gais, verbunden durch schmale Wege. Bei jedem Schritt schmatzte die satte Wiese, Vogelgezwitscher ringsum – Klangerlebnisse überall, vor allem aber in den Scheunen: Das Audiofestival «Klang Moor Schopfe» präsentierte vor zwei Jahren eigens inszenierte und sorgfältig umgesetzte Akustikinstallationen international tätiger Soundkünstlerinnen und Tontüftler. Nun kann zweite Ausgabe gefeiert werden. Auch sie lebt vom Engagement für besondere Töne, die nicht einfach für sich selbst stehen, sondern inhaltlich verbunden sind mit der Welt, aus der sie stammen. Wieder wird mit neuesten technischen Methoden gearbeitet ohne Grenzen zwischen Wissenschaft, Kunst und Klang. Der Däne Jacob Kirkegaard beispielsweise fängt Geräusche von Vulkanerde, Eis, atmosphärischen Phänomenen, Kernkraftwerken oder verlassenen Orten ein und arbeitet daran weiter mit Kompositionen, Installationen, Video und Fotografie. Und die österreichisch-US-amerikanische Gruppe «Noise Aquarium» untersucht, wie Plankton auf Lärm reagiert. Auch die interaktive und interdisziplinäre Wunderwelt vereint Sound- und Animationskunst, Technologie und Umweltforschung. Alle Künstlerinnen und Künstler haben im Vorfeld das Moor besucht und ihre Arbeiten eigens für diesen Ort entwickelt. Während einige von ihnen die Atmosphäre der kleinen, fensterlosen Scheunen thematisieren, andere wie etwa Julie Semoroz sich auf Vegetation und Fauna beziehen, inspiriert wieder andere die wassergetränkte Umgebung des fragilen Ökosystems. So widmet sich auch «A3 [Atacama×Amazon×Alps]» dem Wasser. Für dieses Projekt kooperiert «Klang Moor Schopfe» mit dem Festival Novas Frequências in Rio de Janeiro, dem Mapping Festival in Genf und dem Tsonami Festival in Valparaíso und Künstlerresidenzen in der Atacama-Wüste, im Regenwald des Amazonas und in den Alpen. Das ausserrhodische Audiofestival ist damit einmal mehr Teil eines internationalen Netzwerkes. Dieses ist seit der ersten Durchführung ständig gewachsen und nur ein Kollektiv ist bereits zum zweiten Mal dabei: Die Schweizer Gruppe Norient produziert elf Podcasts zu den Installationen in den verschiedenen Schöpfen, die online angehört werden können – aber am besten natürlich vor Ort.

www.klangmoorschopfe.ch

Frauen und Bauten im Modell

Der dritte 1954er in diesem Sommer: Nach Thomas Struth in Vaduz und Albert Oehlen in St.Gallen und hat das Kunsthaus Bregenz nun seine Ausstellung mit Thomas Schütte eröffnet. Der Düsseldorfer setzt sich mit klassischen Bildhauerpositionen ebenso auseinander wie mit Architekturentwürfen.

Frauen – flach gewalzt, zerdrückt, aufgeschnitten oder verdreht. Thomas Schütte hat den weiblichen Körper auf vielfältige Weise umgestaltet, deformiert und verletzt; und er hat es immer als Bildhauer getan, der einen Typus der figuralen Plastik untersucht und weiterdenkt: Die Liegende und die Kniende gehören zum festen Repertoire klassischer Bildhauer von Maillol bis Moore, von Lehmbruck bis Rodin. Schütte hat seine Variationen dieses Themas in den späten 1990er Jahren in Keramik durchgespielt – ein anachronistisches Vorgehen, dem aber von Anfang an die Option eingeschrieben war, diese Figuren als Modelle zu verstehen. Anfang der 2000er Jahre entstanden schliesslich die Aluminium-, Bronze- und Stahlgüsse, überlebensgross, rostend oder mit Auto- und Pianolackierung. Schütte präsentiert sie nicht auf Sockeln, sondern auf eigens entworfenen Metalltischen und verweist mit dieser angedeuteten Arbeitssituation auf seine Auseinandersetzungsprozesse.

Acht dieser Frauen sind jetzt im Kunsthaus Bregenz ausgestellt und bilden gemeinsam mit Schüttes Architekturmodellen einen perfekten Zweiklang – wenn sie auch in zwei verschiedenen Stockwerken ausgestellt sind. Wie die Frauenplastiken beziehen sich die architektonischen Modelle des Düsseldorfer Künstlers weniger auf die Realität als vielmehr auf Gestaltungstypologien. Nur das Modell für die Skulpturenhalle Neuss war für eine Umsetzung gedacht und wurde gebaut. Alle anderen – Ferienhaus, Bunker oder Wohnhaus – spielen Bauformen durch und weiter bis zur völligen Freiheit von Zweckbestimmtheit. So besteht der Modellsarg nur noch aus einem Gerüstgerippe, das eine farbige Plexiglasplatte in orangerotem Licht erscheinen lässt. Diese Präsentation misst sich beinahe unweigerlich mit den über 300 Architekturmodellen Peter Zumthors, die zwar nicht gezeigt werden, aber zur Sammlung des Kunsthaus Bregenz gehören: Während Zumthor eine künftige Gesamtsituation interpretiert, reduziert Schütte sich auf Haut und Gestalt imaginärer Bauten. Eine Besonderheit stellt seine «Bibliothek (1:1)» dar. Sie ist im Erdgeschoss zu sehen und bleibt aufgrund ihrer Dimension und ihrer Präsentation im Innenraum in der Schwebe zwischen Bau, Skulptur und Modell. Der räumliche Kontext prägt auch den Vergleich der drei Bronzeplastiken im dritten Stockwerk des Kunsthauses mit jenen im Aussenraum: Monumental sind sie immer, aber existentieller muten sie im Innenraum an, wo sie konkurrenzlos ihre Verlorenheit entfalten.

Kunst als Aktionsfeld

«Che fare?» fragte das Kunstmuseum Liechtenstein vor neun Jahren und fokussierte auf das Tun in der Arte Povera, auf die Prozesse und den Anspruch auf Veränderung. Jetzt folgt ein wichtiger, neuer Baustein in der Aufarbeitung der künstlerischen Bewegung.

«Entrare nell´opera» widmet sich ausschliesslich den Aktionen und zeigt die künstlerischen Werke konsequent und gleichberechtigt neben vielen, erstmals aus den Archiven geborgenen Originalmaterialien. Dafür wurde intensiv mit Künstlern, Nachlass- und Archivbetreuerinnen und Fotografen zusammengearbeitet. Viele von ihnen sind noch Zeitzeugen und lieferten das Wissen um die Arte Povera aus erster Hand. Diese umfangreichen Recherchen werden in einem vollständigen Verzeichnis der Azione Povere publiziert, doch vor dem Blick in das geplante Buch, lohnt der Gang durch die Ausstellung. Hier begegnen sich Werk und Dokumentation auf beispielhafte Weise. Sorgfältig wurde vermieden, die Kunst und die Materialien direkt miteinander zu konfrontieren oder gar zu vermischen. Somit wird den künstlerischen Arbeiten keine Präsenz weggenommen und dokumentarische Bilder sind klar also solche zu erkennen. In jedem Ausstellungssaal wurden eigens Archivzonen eingerichtet, in einem Raum sogar auf einer nie zuvor realisierten zweiten Ebene, die in den perfekten White Cubes des Kunstmuseum Liechtenstein eine annehmliche Leseatmosphäre für die bereitgestellte Literatur und einen Überblick aus ungewohnter Perspektive schafft.

Der Rundgang beginnt mit «Aktion und Werk» und zeigt die enge Verknüpfung zwischen Objekt und Tun, sind doch die Objekte für Handlungen entwickelt, entstehen aus ihnen oder bannen den Moment einer Handlung wie Giovanni Anselmos spannungsgeladener «Torsione». «Aktionen und Schauplätze» widmet sich wichtigen Aktionsorten wie dem Aktionsraum 1 in München, der Fernsehgalerie Gerry Schum und dem Piper Pluriclub in Turin. Im dritten Saal wird das im Ausstellungsmotto genannte «Eintreten ins Werk» allen möglich. Interaktive Arbeiten bieten emotionale und physische Einstiege etwa in eines der Spiegelwerke Michelangelo Pistolettos oder als kräftigen Hammerschlag mit dem Schriftzug «Essere» auf eine Bleiplatte von Eliseo Mattiacci. Das vierte Kapitel schliesslich thematisiert mit «Das Theatrale und die Sinne» den szenischen Raum, den jedes Arte Povera-Werk eröffnet: Es schlägt Brücken über die Zeit, zwischen Denken und Sinnen, ins Leben hinein. ks

Sonja Hugentobler, LE DÉJEUNER, 2019

Sonja Hugentobler hat mit LE DÉJEUNER das «Letzte Abendmahl» Leonardo da Vincis für die Kulturlandsgemeinde neu gedacht und modifiziert.

Der Tisch. Ort des Zusammentreffens, der Konversation, der Arbeit, des Essens, des Spiels. Sonja Hugentobler zeigt einen gedeckten Tisch. Dahinter öffnen sich hohe schmale Fenster und sorgen gemeinsam mit seitlichen Nischen für eine lichte, atmosphärische Stimmung. Der durchscheinende, zarte Farbauftrag kontrastiert mit dem Bildaufbau: Die Zentralperspektive gibt einen strengen kompositorischen Rahmen vor.

Nicht von ungefähr erinnert das Bild an eines der berühmtesten Werke der Kunstgeschichte: Leonardo da Vinci malte Jesus und die zwölf Apostel an einem weiss gedeckten Tisch in einem klaren, schmucklosen Raum. Er schuf das Abendmahl als Wandbild für den Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand und legte ein besonderes Augenmerk auf die Blicke und Gesten der Speisenden, auf ihre Handreichungen und den sprichwörtlichen Fingerzeig.

Sonja Hugentobler verzichtet bewusst auf die Figurendarstellungen und eine illustrative Umsetzung der berühmten Vorlage, aber sie erweitert ihr Gemälde gegenüber dem Renaissanceoriginal um grosszügige freie Flächen links und rechts des gedeckten Tisches. Damit leitet sie die Betrachterinnen und Betrachter aus dem dreidimensionalen Raum ins Bild hinein, zur Tafel hin. Diese Annäherung funktioniert von beiden Bildrändern aus und steigert die zentrale Bedeutung des Tisches: Er ist der Treffpunkt, er ist die Metapher für die Zusammenkunft, die weit über das gemeinsame Mahl hinausreicht.

Mit seiner Breite lädt das Bild ein, in Bewegung zu bleiben und währenddessen über gemeinsame Haltungen nachzudenken, über die abendländische Bildtradition, über das kulinarische und kommunikative Angebot, das jede gedeckte Tafel darstellt, über den Wert gemeinsam verbrachter Zeit und ausgetauschter Gedanken.

Sonja Hugentobler wurde 1961 in Chur geboren und lebt und arbeitet seit 2006 als freischaffende Künstlerin im Palais Bleu in Trogen.

Leinen los: Das Gewürm dräut

Fridolin Schoch, Künstler und Musiker mit ausserrhoder Wurzeln, gestaltet mit «Loopheaven» den Auftritt im Obacht 2/2019

Von Tenedos her winden sich zwei Schlangen durchs Meer und erklimmen das Ufer. Auf wen haben sie es abgesehen? Mit sicherem Schwung greifen die Tiere Laokoon an; zuerst aber ringeln sie sich um die schmächtigen Leiber seiner beiden Söhne. Vergil beschreibt in seiner Aeneis das verzweifelte Ringen, den Schrei des Vaters. Abgebildet ist der schreckliche Todeskampf in einer der meistgerühmten antiken Statuen, der Laokoon-Gruppe. Sie wurde bereits in antiken Schriften gelobt, aber seit der Wiederentdeckung 1506 geradezu gefeiert, von der Wissenschaft wieder und wieder untersucht, interpretiert und gewürdigt. Die Ausdruckskraft der drei Figuren ist für das Interesse ebenso ausschlaggebend wie ihr Ebenmass und das Verhältnis von Ruhe und Dynamik.

Letzteres funktioniert auch ohne Laokoon und seine Söhne: Sind langestreckte Körper mit rundem Querschnitt stark ineinander verschlungen, scheinen sie unentwirrbar zu sein. Die Dynamik der gewundenen, verknoteten Formen ist für einen Moment gebannt. Sie verharrt, bis sie sich wieder selbst entfesselt oder entfesselt wird. Diese Anmutung besitzen auch die Arbeiten von Fridolin Schoch. Der Künstler beschäftigt sich in seinen dreidimensionalen Werken mit der räumlichen und narrativen Wirkung von Knoten, Schlingen und Schlaufen. So scheint etwa das Ende eines Lüftungsschlauches aus der Wand zu wachsen, sich zu einem überdimensionalen Knoten zu verschlingen und anschliessend in den Boden abzutauchen. Oder ist die Reihenfolge genau anders herum? Wo ist der Anfang, wo ist das Ende? Wie kam der Knoten zustande?

Fridolin Schoch entwickelt komplexe räumliche Gebilde. Die Modelle dafür formt er aus Kletterseilen, jenen vielfarbigen Sportutensilien, die zur Absturzsicherung dienen. Mit «Werktitel» stellt er diese Gebrauchsartikel nun erstmals im Vordergrund. Er wickelt sie auf und zusammen, verdreht oder verknotet sie fachmännisch und fotografiert sie schliesslich. Die Fotografie scannt er ein und bearbeitet sie weiter. Die echten Seilenden sind nun nicht mehr zu identifizieren, stattdessen verschwinden sie in der Raumtiefe. Denn obwohl zweidimensional abgebildet, bleibt in der Arbeit der räumliche Eindruck erhalten. Dazu tragen einerseits die starken Schattierungen bei, die Hell-Dunkel-Kontraste, die Wiedergabe der plastischen Seilstrukturen und der kleinen Partikel, die sich in den Seilen festgesetzt haben. Das Auge kann sich den Schlaufen und Schlingen verlieren, die Finger ihnen entlangfahren oder die Binnenform ertasten. Fridolin Schoch ermöglicht hier, was sonst nicht funktioniert: Wo sonst die Knoten dominieren, ist hier nun auch ihr Zwischenraum ein Erlebnis.

Obacht No. 34 | 2019/2

Kunst schenken? Lieber tauschen!

Künstlerinnen und Künstler tauschen. Das Interesse an den Arbeiten Anderer ist gross und der Tausch ist ein Zeichen von Wertschätzung und erleichtert das Inkontaktbleiben.

Am Schluss kommt der grosse Tausch: Die Künstlerinnen und Künstler holen ihre Arbeiten ab, sie kommen ins Gespräch, ihre Kunstwerke im Postkartenformat wechseln die Hände: «Die Atmosphäre ist sehr schön!» Birgit Widmer gerät ins Schwärmen, wenn sie von den Ausstellungen in der Bahnstation Strahlholz erzählt und vom Kunsttausch am Ende des Ausstellungswochenendes. Seit vielen Jahren schon wird das Strahlholz für zwei Tage vom «Halt auf Verlangen» zum Halt für die Kunst. Und weil alle Kunstwerke gleich gross sind und gleich viel kosten, nämlich dreissig Franken, ist das Tauschen einfach. Aber verschenkt wird auch: «Die Künstlerinnen und Künstler freuen sich über die Aktion und schenken eine Postkarte als Dank für die Arbeit», sagt Birgit Widmer und betont zugleich, der eigentliche Wert eines Werkes spiele unter Künstlerinnen und Künstler weniger eine Rolle. «Man weiss, worum es geht, wenn man künstlerisch arbeitet.» Nämlich nicht um den Aufbau einer Kunstsammlung, sondern «um den Austausch, um die Gedanken aneinander», betont HR Fricker. Der Trogener Künstler ist einer der Pioniere der Mailart-Szene. Diese Künstlerinnen und Künstler sandten sich bereits in den 1980er Jahre Arbeiten per Post zu, «weil sie nicht mehr aus der Kunstgeschichte lernen und ihre Anregungen bei Picasso oder Duchamp suchen wollten, sondern bei jenen, die jetzt schaffen», so HR Fricker. Eine zweite Motivation war die gegenseitige Wertschätzung: «Per Post schenken sich Mailart Künstler auch Aufmerksamkeit und fordern einander auf, dran zu bleiben, weiterzumachen.» Diesen Austausch hat das Internet verändert, HR Fricker beobachtet auch dort, woran Künstlerinnen und Künstler arbeiten. Aber wenn ihm Werke gefallen, fragt er an, ob die Originale zu kaufen seien, denn für den Tausch ist der persönliche Bezug wichtig. Das bestätigen auch Ueli Alder und Nora Rekade. Beide haben vor allem im Studium und im Anschluss daran viel getauscht. Für den Urnäscher war es jeweils eine besondere Freude, nicht die perfekten Fotografien zu tauschen, sondern jene Prints «die abverhait sind, die man selber behalten hat, weil sie speziell sind. Arbeiten ausserhalb des Kontextes, die gerade nicht im Katalog oder in der Galerie gelandet sind, sind viel spannender.» Und solche erhält man eben nur durch einen guten persönlichen Kontakt. Zudem bieten diese getauschten Werke wertvolle Erinnerungen an das gegenseitige Interesse aus der Studienzeit, «als sowieso niemand Geld hatte», so Nora Rekade.

Auch für Vera Marke ist die Nähe zu den Künstlerinnen und Künstlern Voraussetzung: «Kunst schenken und tauschen hat etwas Intimes. Ich tausche nicht mit jedem.» Aber wenn sie tauscht, kann sich daraus ein jahrelanger Prozess entwickeln; so hat die Herisauer Künstlerin mit HR Fricker halbjährlich Kunst getauscht und regelmässig auch Kunst in Postkartengrösse mit Birgit Widmer. Schenken ist hingegen heikel: «Es gibt Künstler und Künstlerinnen, die im Verdacht stehen, Bestechungsgeschenke zu machen oder sich einschmeicheln zu wollen. Meinen Studentinnen und Studenten bringe ich bei, dass es wichtig ist, sich rar zu machen und den eigenen Wert zu kennen.»

Vera Marke schwärmt von einer Arbeit, die sie von Thomas Stüssi erhalten hat, die eigentlich ein Teststück von seinem «Slow Flow» für den Schaukasten Herisau ist. Sie gehört also zu den Stücken wie sie Ueli Alder beschreibt, zu den Überbleibseln, den Recherchematerialien, den Experimenten. Eine klassische vorbereitende Arbeit sind Zeichnungen, so eine hat Vera Marke sogar noch zugute von Thomas Stüssi: «Vera hat noch etwas ausstehen. Eine Zeichnung im Zusammenhang mit meiner Diamantensuche.» Aber auch Stüssi hat etwas ausstehen, wie Nora Rekade berichtet: «Als wir über meine Arbeiten sprachen, sagte er, eine gefalle ihm besonders, und ich entschied, er bekommt sie zum 40. Geburtstag. Das war im vergangenen Jahr.» – und so bleibt der Prozess in Gang, die Verbindungen bestehen, der nächste Tausch folgt.

Obacht Kultur No. 34, Heft 2/2019