Draussen Singen
by Kristin Schmidt
Das weiss doch jedes Schulkind: Wenn es läutet, fängt der Unterricht an. Oder er hört auf. Stunde, Pause, Schulschluss – so einfach. Aber wenn es keine Schulglocke gibt? Wenn es kein strukturiertes Material, also auch keine Instrumente gibt, weil die Kinder im Wald lernen? Brauchen sie dann überhaupt Zeitsignale? In der Natur ist die strikte Minuteneinteilung der Lektionen überflüssig, denn die Kinder lernen nicht nach Fachgebieten getrennt, sondern erlebnisnah und alles miteinander. Aber Zeichen brauchen sie trotzdem, beispielsweise für den gemeinsamen Tagesbeginn, den Znüni, den täglichen Abschied vom Wald: «In der Natur hast Du nicht viel anderes als Deine Stimme, also ist Singen ein gutes Mittel zum Zweck.» Marius Tschirky hat für jede Gelegenheit Lieder erfunden und manche als Waldpädagoge tagtäglich gesungen: «Der schnellste Draht zu den Kindern ist die Musik.» Und sie funktioniert nicht nur als Botschaft, sondern hat viele andere Qualitäten: «Wenn Du Stimmungen erzeugen willst, sind Instrumente weniger wichtig. Mit dem Singen entsteht im Wald eine verschworene Gemeinschaft.»
Lieder lassen sich gut mit Ritualen verbinden, aber sie vermitteln auch Inhalte. Und am allerbesten funktioniert das, wenn die Lieder lustig sind, so wie das Lied vom «Dachs Adalbert». Es erzählt vom alten Dachs, der aus lauter Gutmütigkeit viele andere Tiere beherbergt. Und tatsächlich haben Dachse oft Untermieter in ihren weit verzweigten Bauen. Wie viele Lieder ist «Dachs Adalbert» eine gesungene, situativ entwickelte Geschichte mit wenigen, aber gut funktionierenden Elementen. Die Melodie ist einfach, der Inhalt verständlich, die Gesangslinie klar. Nun kommt es nur noch darauf an, die Töne zu treffen. Marius Tschirky sieht da keine Schwierigkeiten: «Jeder kann singen. Wichtig ist aber, wie man singt.» Gekünsteltes Singen kommt selten gut an, ob bei Kindern oder einem Workshop mit elf Förstern. Viel braucht es also nicht: Die Töne treffen, die eigene Freude am Wald vermitteln – und schon kann die Stimme alles in Schwingung bringen, zumindest die von Marius Tschirky.
Marius Tschirky (*1976) lebt in Teufen AR. Er ist freischaffender Musiker und Naturpädagoge.
Obacht Kultur, No. 35 | 2019/3