Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Lebenswege

«Intuition und Weg hängen eng zusammen.» Davide Tisato lässt sich von seiner inneren Unruhe und seinem Bauchgefühl leiten, sie bestimmen, wie lange er wo bleibt und wohin es ihn weiter zieht. «Zwischen den Orten zu sein» wird früh zu seiner Gewohnheit: Geboren ist er in Italien, seine Mutter stammt aus Teufen. Als er fünf war, zog Davide Tisatos Familie nach Heiden, mit 19 begann er sein Studium in Valencia, den Bachelor erwarb er in Lissabon, danach folgte der Master in Soziologie in Montpellier und anschliessend ein Masterstudium an der Internationalen Filmhochschule in San Antonio de los Baños, Kuba. Danach pendelte Davide Tisato ein halbes Jahr lang zwischen Heiden, Montegiovi und Malaga. Kann einer wie er eine geografische Basis finden, braucht er sie überhaupt? Davide Tisato hat mehrere Basisorte, und dies ist kein Widerspruch zu seinem nomadischen Leben: «Auch in nomadischen Kulturen gibt es Anknüpfungspunkte und das Zurückkommen. Je nach Jahreszeit, Saison und Arbeit werden ähnliche Wege zurückgelegt.» Heiden und Montegiovi sind zwei wichtige Knotenpunkte, wo sich seine Wege immer wieder kreuzen. Als weitere Basis ist Marseille ideal für das zeitgenössische Nomadenleben: «Von hier aus ist fast ganz Europa mit dem Zug oder per Bus zu erreichen.» Diese Reisen bezeichnet Davide Tisato als Transitionsmomente: «Im Halb- und Wachzustand fliessen Schreiben, Lesen und Schlafen ineinander. Das Unterwegssein ist meine Pause, ich werde innerlich ruhiger, wenn es sich draussen bewegt.» Zugleich passt das Reisen zur Arbeit als Filmemacher: «Zu beobachten und zu recherchieren sind wichtige Teile des Filmens.» Wer reist, kann viel beobachten, und er kann vielfältige berufliche Netzwerke analog pflegen: «Ich bin Teil eines Kollektives, dessen Hauptsitz in Genf ist und arbeite in wechselnden Kombinationen von zwei bis vier Leuten. Wichtig ist immer wieder das physische Zusammenkommen.» Und wenn Davide Tisato einmal nicht geografisch unterwegs ist, dann zwischen Themenfeldern und Interessen: Auch hier ist Bewegung die treibende Kraft.

Davide Tisato, geboren 1990 in Poggibonsi, ist Soziologe und Dokumentarfilmer. Das Kollektiv Ecran Mobile arbeitet seit 2018 an internationalen Filmprojekten.

Obacht Kulturmagazin Ausgabe No. 43 | 2022/2

Nichts für Puristen

Zehn Jahre Zeughaus Teufen: In der Ausstellung ‹Florilegium Teufen› sind künstlerische Stammgäste ebenso zu sehen wie neue Positionen. Kurator Ueli Vogt versammelt mit der ‹Blütenlese› über dreissig Positionen und wie gut sich das Erbe der Baumeisterfamilie Grubenmann als Ausgangspunkt für kreative Arbeit eignet.

Die Hitze hat Thomas Stüssis Kunstwerk weiterbearbeitet. Sie liess den Heissleim erneut schmelzen und alles stürzte zusammen: Die ausgedienten Dachstuhlmodelle fügen sich nicht mehr zu einer grossen Form, sondern bilden ein bizarres Durcheinander aus Hölzern. Was andernorts nur noch ein kaputtes Kunstwerk gewesen wäre, darf im Zeughaus Teufen bleiben und wird so von selbst zu etwas Neuem: Das zerfallene, zerknickte Lattengebilde kann zum Beispiel als ironischer Kommentar zum Dekonstruktivismus gelesen werden. Solche Verwandlungen, das Neu- und das Weiterdenken haben sich in den vergangenen zehn Jahren im Zeughaus Teufen bewährt und kommen im Sinne des Ausstellungstitels in der Jubiläumsausstellung erneut zur Blüte.

Bekanntes in neuem Licht
Seit der Gründung des Hauses sind viele Werke eigens für die Ausstellungen entstanden. Die Künstlerinnen und Künstler bezogen sich dabei auf die Baumeisterfamilie Grubenmann, auf die Baukultur oder auf die geographische Situation im Appenzellerland. So hatte Felix Stickel 2013 eine Landschaft auf die Wand gemalt, die nun als Hintergrund für eine neue Werkschau des St.Galler Künstlers dient. Alex Hanimann hatte drei Jahre später mit einem Schriftzug ermuntert, im Gespräch zu bleiben und Lösungen zu finden. Dieser Satz, geformt aus Holzlatten, ist jetzt in die Grubenmann-Präsentation im Dachstock integriert und passt dort ebenso gut inhaltlich wie gestalterisch: Das Zeughaus Teufen erinnert nicht statisch an die Grubenmannfamilie, sondern verbindet deren baukünstlerischen Leistungen mit aktuellen Ideen. Früher und heute stehen im Dialog, aus dem zeitgemässe Lösungen entstehen können.

Von Pilz bis Parcours
Strenge Grenzen zwischen Kunst, Handwerk, Design oder Architektur werden dabei nicht gezogen. Kurator Ueli Vogt mischt Kategorien und Sparten, international Bekanntes mit Lokalem, Etabliertes mit Experimentellem. Da hängt eine blaue Papierbahn der Bielerin Katrin Hotz neben den akkurat gemalten Porträts von Hans Zeller. Während Sven Bösiger den Grubenmannmodellen Töne entlockt, interpretiert sie Andri Bühler als Parcoursstrecken. Im Couture-Lehratelier der GBS wurden Blazer fürs Museum entworfen. Wenige Schritte weiter präsentiert Pilzler Marcel Zünd aus St.Gallen die fotografische Sammlung seiner Tagesausbeute. Die Wand darüber ist von Gipspilzen des Künstlers Thomas Stricker befallen. Und die in Basel und London lebende Künstlerin Céline Manz erinnert an die weltberühmte Ausserrhoderin Sophie Taeuber-Arp: Sie hatte für das Strassburger Vergnügungszentrum Aubette die Gestaltung der Innenräume entworfen mit vielen blauen und roten Rechtecken. Fensterfolien in diesen Farben filtern nun im Zeughaus Teufen das Sonnenlicht. Auch dies ist eine Besonderheit in Teufen: Klassische Ausstellungswände gibt es wenige. Deshalb findet sich Kunst auf den Fensterscheiben, auf dem Dielenboden, zwischen den Holzbalken, darum herumgewickelt oder von der Decke herabhängend. Wer den reinen, weissen Kunstraum sucht für die eigene Arbeit oder für die Kunstbetrachtung, wird vom Zeughaus Teufen enttäuscht sein. Wer sich hingegen einlassen kann auf ein gedrängtes Nebeneinander, auf Seitenblicke, Überschneidungen und ganz neue Sichtweisen, ist im Zeughaus Teufen am richtigen Ort.

Sehen – Denken – Tun: Ausstellen heisst im Zeughaus Teufen mehr als zeigen

«Ausgewogen!?» Am Anfang eine Behauptung. Mit Ausrufezeichen. Zugleich ein Zweifel, eine Unsicherheit. Mit Fragezeichen. Kann etwas, das gerade erst beginnt, schon ausgewogen sein? Ist Ausgewogenheit überhaupt erstrebenswert? Wieviel Gleichgewicht ist gut, wieviel Spannung notwendig? Die erste Ausstellung im Zeughaus Teufen ist beides: ein selbstbewusster Auftakt und eine Einladung, selbst zu sehen, zu denken und zu antworten. Das ist bei der Ausgangslage im Zeughaus Teufen nicht selbstverständlich. Dreh- und Angelpunkt der neu eröffneten Institution ist die Grubenmannsammlung auf der einen und der Bau Felix Wilhelm Kublys auf der anderen Seite: eine weithin anerkannte Baumeisterfamilie und ein angesehener Architekt. Da ist der Raum für neue Sichtweisen klein, es sei denn, die Kunst kommt ins Spiel. Ueli Vogt lädt elf Künstlerinnen und Künstler ein und versammelt damit elf Varianten des Nachdenkens über das Bauen, über Räume, Konstruktionen, Spannungen und die Menschen in den Bauten. Sandra Kühnes fragile, fragmentierte Karten behaupten sich ebenso im langgestreckten Mittelgeschoss des Zeughauses Teufen wie Kilian Rüthemanns schwebendes Stahlband oder Thomas Stüssis Aluminiumkonstruktion. Hans Schweizers gezeichnete Hausquerschnitte korrespondieren mit Herbert Webers Selbstinszenierungen in der Ebnater Kirche. Beni Bischofs verborgene Sentenzen kontrastieren mit Jan Kaesers raumgreifender Balloninstallation. Roman Signers zum Fliegen bereiten Gummistiefel sind ebenso spannungsgeladen wie Michael Pfisters Föhrenholzkurve. Vieles entsteht eigens für die Ausstellung. Karin Karinna Bühler beispielsweise platziert in Gips ein Zitat von Felix Wilhelm Kubly an der Wand, knapp unterhalb der Raumkante. Von Christian Kathriner ist im Haus eine Brückenmodell zu sehen und auf dem Vorplatz eine Trajektorenzeichnung. Jürg Rohr übersetzt eine komplexe dreidimensionale Struktur in eine zweidimensionale Wandmalerei. Manches davon wird lange bestehen bleiben, einiges bis in die Gegenwart hinein, anderes wird überarbeitet und verschwindet schliesslich wieder. Auch das passt zum neuen Haus: Gesammelt wird ebenso wie neu entwickelt. Ortsspezifisches steht gleichberechtigt neben Zugezogenem. Statik und Bewegung schliessen einander ebenso wenig aus wie Wandel und Bewahren. Der Ausstellungstitel hat es angedeutet, die Wegrichtung ist kundgetan: Hier wird über die ästhetischen, konstruktiven und gesellschaftlichen Qualitäten der gestalteten Welt nachgedacht, hier werden Haltungen, Methoden und Entwürfe vorgestellt, hier kommen Gestalter ebenso zu Wort wie Künstlerinnen, Fotografen ebenso wie Architektinnen, hier sind die Spartengrenzen aufgelöst.

«Annäherung an Deine Landschaft»

Die gestaltete Welt umfasst nicht nur Bauten und Gebrauchsgegenstände, nicht nur Grafik und Kunst. «Annäherung an Deine Landschaft», knapp ein Jahr später, steckt das Feld deutlich grösser ab, denn auch die Landschaft ist gestaltete Umgebung. Sie ist durchzogen von Wegen, geprägt von Siedlungen, Verkehr und Viehwirtschaft. Der Mensch ist mittendrin oder beobachtet vom Rande aus, er erlebt die Landschaft auf individuell unterschiedliche Weise. Die Ausstellung zeigt diese variantenreichen Blicke aufs Appenzeller Land und wagt unerwartete Nachbarschaften. Hans Zellers Gemälde verlassen ihr Kabinett und treten nun beispielsweise in einen Dialog mit Verena Schochs Fotografien des Alpsteins. Nicht die schroffen Gipfel, sondern grasgrüne Hügel unter blauem Himmel fotografiert Christian Schwager. Diese Hügel hat der Teufener Landschaftsarchitekt Andres Sulzer nachmoduliert und Roman Häne wiederum zeigt seine Sicht auf diese Arbeit. Ein besonderes Fenster aus dem Ausstellungsraum in die Landschaft hinaus öffnet Vera Marke. Für den Film «Der Ausblick» von 2006/07 hat sie monatlich dem Mondkalender folgend eine grosse Panoramascheibe geputzt. Die Künstlerin lässt sich wie eine Rückenfigur von Caspar David Friedrich über die Schulter blicken, nur dass die Landschaft hier dynamisch ist. Sie verändert sich mit jedem Wisch, mit den Jahreszeiten, ist mal in Dunkel getaucht und mal verschwommen, mal gleissend hell und nah. Diese Vielfalt spiegelt die gesamte Ausstellung: Soundarbeiten, Forschungsprojekte, Gipsmodelle, ein Wandgemälde, Videos, ein Fledermausexperiment und Spaziergänge – auch so geht ausstellen.

«Leidenschaftlich auf dem Holzweg»

Noch landschaftlicher, wenngleich auf andere Weise schreibt sich – zwei Monate später – die nächste grosse Schau ins Haus ein. Bereits im Titel deutet es sich an: «Leidenschaftlich auf dem Holzweg». Der Holzweg wird in zweierlei Sinne wörtlich genommen. Die Ausstellung widmet sich dem Werk des Holzbauingenieurs Hermann Blumer, und sie inszeniert seine umfangreiche Mustersammlung gleich einem langgestreckten Weg. Hier liegen Holzmuster, historische Objekte, Konstruktions- und Ornamentbeispiele und immer wieder Gegenstände mit imitierter Holzoberfläche. Letztere gehören zu den zahlreichen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Werkstoff Holz und dem Umgang damit. So fotografiert etwa Katalin Déer einen im Lignatur-Patent gedeckten Stall, der traditionelles Bauen aufs Beste in die Gegenwart weiterdenkt. Der junge Herisauer Künstler Fridolin Schoch wiederum führt die Ausstellung ins oberste Stockwerk: Er schreibt mit Holzbalken eine expressive Linie in den Raum. Er sägt, setzt an, sägt erneut, fügt das nächste Stück hinzu bis die Raumzeichnung schliesslich vom Mittel- bis ins Obergeschoss des Zeughauses reicht und die Arbeit der beiden Holzbaupioniere Hermann Blumer und Hans Ulrich Grubenmann schlüssig verbindet.
Die Ausstellung folgt einer stringenten Gliederung: Die fotografischen Aufnahmen, Dokumente und Pläne folgen aufeinander bezogenen horizontalen Linien in einer chronologischen Ordnung. Von dort aus lohnen sich Quer- und Seitenblicke und immer wieder die Rückkehr zum Hauptweg. Während also der Ausstellungsraum hier Landschaft gleicht, die durchschritten werden kann, verwandelt er sich mit der nächsten Schau in eine Gute Stube.

«Bauernkunst?»

Ein schwarzer Teppich bedeckt den Mittelgang vollständig. Zu beiden Seiten säumen ihn prachtvolle Kästen, einer neben dem anderen, chronologisch geordnet auch sie. Die Präsentation erlaubt es, den Schränken von den äusseren Saalseiten her gleichsam auf das Hinterteil zu gucken: Da zeigt sich raues Holz, irgendwie zusammen- und zurechtgetischlert. Hier kam es nicht auf Schönheit an – auf der Vorderseite umso mehr. Da wurde gezeigt, was man hat und wofür man lebt: Während auf innerrhödler Kästen Monogramme oder Heiligendarstellungen prangen, sind in Ausserrhoden Bibelgeschichten beliebter. Aber ist das nun Kunst? Bäuerliche sogar? Die Ausstellung setzt im Titel erneut ein Fragezeichen, diesmal ohne nachfolgendes Ausrufezeichen. Es verweist sowohl darauf, dass die oft so bezeichneten Schränke in ihrer Entstehungszeit eher keine Bauernmöbel waren, sondern der ländlichen Oberschicht gehörten, als auch darauf, dass trotz sorgfältiger volkskundlicher Forschung vieles offen bleibt: Wo standen die Kästen? Was wurde in ihnen aufbewahrt? Wie oft und warum wechselten sie ihren Ort?
Wieder bettet die Ausstellung ihr Thema in einen grösseren Zusammenhang. Restauratorinnen sind eingeladen, der Künstler Stefan Inauen veredelt malerisch ein schwedisches Billigmöbel, die Münchner Architektin Regina Baierl fügt ausgediente Möbelstücke zu neuen Objekten. Und das Druckmaterial der Grafikagentur Bänziger Hug ist erneut nicht einfach ein Faltblatt: Richteten sich die drei vorherigen Ausstellungen mit aufwendig gestalteten Leporellos oder Broschürenformaten an ihr Publikum, ist es nun ein eigens entwickeltes Kartenspiel. Statt mit PS-Zahlen oder Hubraum kann hier mit Alter oder Breite aufgetrumpft werden. So kommen die alten Stücke gut in der Gegenwart an.

«Überlagerte Schwingungen – Jürg und Thea Altherr»

Die beiden folgenden Ausstellungen, «Überlagerte Schwingungen – Jürg und Thea Altherr», Ende 2014 bis ins Frühjahr 2015 und wenige Monate später «Werden Wandeln Wirken – Ruedi Zwissler» widmen sich wieder Persönlichkeiten: Starke Einzelpositionen mit starken Bezügen zum Ort, zur Grubenmannsammlung, zur Arbeit im Zeughaus Teufen. Jürg Altherr ist Bürger von Speicher, er ist Künstler und zugleich Landschaftsarchitekt. Er entwirft Brücken, die den Grubenmannschen Modellen zur Seite gestellt sind, er platziert im Ausstellungsraum gebaute Strukturen, bei denen offen bleibt, ob sie Modelle, Vorstudien für Skulpturen und Plastiken sind oder freie, eigenständige Objekte. Zwei grosse Werke aus Wellpappe erlauben reiche Durchblicke und korrespondieren mit Thea Altherrs Fotografien von Lawinenverbauungen, die eine eigene Schönheit entfalten und doch ganz dem Nutzwert unterworfen sind. Die ganze Ausstellung atmet mit viel Luft und Lust durchs Haus. Vor dem Zeughaus Teufen jedoch manifestiert sie sich mit starker Geste. Dort steht der «Schlitz»: Ein Monolith, der einst in Aadorf liegen sollte, dort demokratisch weggewiesen wurde. Nach einigen Zwischenstationen hat er eine neue, aufrechte Position und – wie sich nach der Ausstellung zeigen wird – einen neuen, definitiven Platz. Zwei Jahre nach der Ausstellung war der Ankauf entschieden. Altherr darf also bleiben, denn Teufen ist mutiger, selbstbewusster als andere Gemeinden und weiss um die gesellschaftliche Kraft einer starken künstlerischen Position.
«Werden Wandeln Wirken – Ruedi Zwissler»
Ruedi Zwisslers Position ist nicht weniger stark, aber im gestalterischen Bereich verankert. «Werken Wandeln Wirken» bezieht sich auf diese Kraft und lässt andere sich an ihr reiben. So werden ikonische Entwürfe Zwisslers von jungen Grafikerinnen und Grafikern der Schule für Gestaltung St.Gallen neu interpretiert. Sein flexibel verbundenes VOLUMA-System wird im Mittelpunkt der Ausstellung zu einem Aufbewahrungs-, Aufenthalts-, Präsentations- und Gliederungsorgan. Ein streng gerastertes Regalsystem ist die Bibliothek. Daneben entdecken künstlerische Blicke von Michael Bodenmann und Barbara Signer die skulpturale Qualität einer Zwisslerschen Werbetafel. Beni Bischof nimmt sich der Walo-Geschichte aus der profaner Perspektive an und Bänziger Hug verdoppeln kurzerhand das M: Alle grossen und kleinen Ws in der für einmal auf gelb gedruckten Leporellobroschüre sind umgedrehte Ms. Die Ausstellung ist eine eindrückliche Hommage und bleibt bei Zwissler nicht stehen. Genau dadurch zeigt sie, worauf es dem grossen Gestalter ankommt: Die gute Form entfaltet gesellschaftliche Relevanz, sie besteht über ihren Erfinder hinaus und kann auch für andere zu einer Arbeitsgrundlage werden. «Werken Wandeln Wirken» ist fünf Monate lang zu sehen und bietet einiges Diskussionspotential. Der Kontrast der aus strukturiertem Denken entwickelten, klaren Gestaltung zu frei hinzu assoziierten Arbeiten ist nicht für alle einleuchtend. Wieviel Sinn und Überlegung in dieser Gegenüberstellung liegt, zeigt «Factory Teufen» ein Vierteljahr später.
«Factory Teufen»
Alles beginnt mit einem Gerücht: War er oder war er nicht? Wurde er oder wurde er nicht? War Andy Warhol als Kind im Appenzellerland und wurde von Hans Zeller gemalt? Kommt es überhaupt darauf an? Das Appenzellerland hat schliesslich sein eigene Kreativschmiede. Während in Manhattan Warhol und Zugewandte in der Factory wirkten, bezogen Grafiker Kurt Büchel und seine Frau Ada die ehemalige Textilfärberei am Goldibach. Als Büchel gemeinsam mit Remi Nüesch einen Gestaltungswettbewerb für die EXPO 1964 gewann, zog dies Grafiker, Fotografen und Kunstschaffende an: Sie gestalteten die Abteilung «Gesteigerte Produktivität» der Landesausstellung. Hans Schweizer wirkte mit, Jost Blöchlinger, Amelia Magro, Jules Kaeser und andere. Wie lässt sich diese kreative Energie, wie das gemeinsame Denken, Schaffen, Machen ausstellen? Die Ausstellung stellt der damaligen Vielfalt und Dichte die Ordnung gegenüber. Auf langen horizontalen Brettern liegen Originalfotografien aus. Korrespondenz, Pläne und Publikationen transportieren die damaligen Jahre ins Heute. Zeichnungen Hans Schweizers bilden eine zeitliche Klammer. Über allem tönt der Klang des Arbeitens, des Schablonierens, Blätterns, Stocherns, Schwenkens – die Künstlerin Katrin Keller hat die Geräusche aus einem Dokumentarfilm extrahiert. Damit hat die Factory-Ausstellung auch einen Factory-Sound.

«Projekt Grubenmann»
Produktiv, kreativ geht es schon vier Monate später weiter. Diesmal steht die Arbeit der Baumeister Grubenmann selbst im Zentrum. Doch statt in der Vergangenheit zu verweilen, öffnet Ueli Vogt mit «Projekt Grubenmann» einmal mehr das Haus konsequent der Gegenwart. Studentinnen und Studenten des Institutes für Holzkonstruktionen der ETH Lausanne analysierten die Dachstühle von Grubenmann-Kirchen und leiteten darauf eigene Entwürfe ab. Die Formen- und Materialvielfalt ist gross. Dieser Heterogenität wird auch die Präsentation gerecht: Die Künstlergruppe FMSW hat einen Kilometer Dachlatten zu einer wild verzweigten, sperrigen, tragfähigen Struktur verbaut. Hierin haben einerseits die studentischen Modelle Platz, andererseits wuchert sie als eigenständige Form durch den Raum. Im Kontrast dazu steht das filigrane Strohhaus Birgit Widmers, stehen die klar gegliederten und fein abgestuften, weissen Treppen der Künstlerin Monika Spiess und Alex Hanimanns ebenfalls aus Dachlatten zusammen genagelter Satz: «WE NEED TO TALK WE HAVE TO KEEP TALKING WE WILL FIND A SOLUTION». Das ist mehr als eine künstlerische Aussage. Der Satz liest sich wie das Motto des Zeughaus Teufen: Im Gespräch bleiben, diskutieren, kommunizieren und Lösungen entwickeln, diese erneut zur Diskussion stellen und sich wieder auf die Suche begeben. Dazu passt auch Christina Witzigs Projektion. Sie versammelt Sätze aus der Grubenmann-Fachliteratur und durchsetzt sie mit persönlichen Aussagen Rosemarie Nüesch-Gautschis – auch neue Kombinationen von vorhandenem Wissen lassen weiter- und neu denken.
«Homedress – Von Wand und Gewand»
Mit der nächsten Ausstellung bleibt das Zeughaus Teufen dem Machen treu und geht doch wieder neue Wege: Das Textile zieht ein. Anlass ist das Grossprojekt «igfädlet – Ostschweizer Textilgeschichten» mit acht Museen aus der Region. Unter dem Titel «Homedress – Von Wand und Gewand» wird alles möglich: Da wird das Haus angezogen und der Mensch, da wird der Prozess gezeigt und das Produkt. Da wird das Museum zum Laufsteg und zum Laden – und bleibt doch immer ein Ort, der Aktuelles mit der Kulturgeschichte verbindet und nicht nur präsentiert, sondern zugänglich macht. Bereits das Spektrum des Ausgestellten vermittelt, dass ein Gewebe nicht einfach ein Textil sein muss. Weben lässt sich mit Wörtern, Schrift und Fetzen, Gedankenfetzen im Besonderen. Musik verwebt Töne, Kunst mischt sich in die Mode ein. Bei all dieser Vielfalt ist die Ausstellung nie beliebig. Der rote Faden sind sowohl die intrinsische Motivation der Gestalterinnen und Designer, der Weberinnen und Schneider, der Performer und Künstlerinnen und ihre kompromisslose Suche nach einer neuen Qualität als auch die Art des Ausstellens im Zeughaus Teufen. Statt wie in musealen Ausstellungen üblich Deutungshoheit zu behaupten und einen Ewigkeitsanspruch zu stellen, fliesst die produktive Atmosphäre durchs ganze Haus. Dies gilt für die Auswahl durch den Kurator ebenso wie für die Präsentation als solche: Die Balken werden einbezogen und die Böden. Drähte werden gespannt und Tücher gehängt. Wäscheklammern kommen zum Einsatz. Bekanntes findet sich wieder wie etwa Regalkonstruktionen aus «Werken. Wirken. Wandeln». Anderes verwebt sich mit Bestehendem wie die papierne Kaminverkleidung mit dem Kabinett der Hans Zeller-Bilder. Die Dachlatten aus «Projekt Grubenmann» verwandeln sich in konstruktivistische Kleiderständer und in das Gerüst eines schräg ansteigend den Raum durchmessenden Laufsteges. Dieses Verweben von Bekanntem und Neuem weckt die Entdeckerlust und gehört bereits wie selbstverständlich zum Repertoire des Hauses. Mit der zehnten grossen Ausstellung setzt sich diese Haltung fort.
«Walk The Line»
Ein von Jonny Cash 1955 komponiertes Lied liefert den Titel und den Assoziationsraum für die Ausstellung, die zwar um die Linie kreist, aber nicht allein den Strich eines Stiftes meint, sondern eine konsequent verfolgte künstlerische Haltung. Die zwei grossen Angelpunkte sind Klaus Lutz und Ulrich Fitzi: Experimentalfilmer und literarisch inspirierter Performancedarsteller der eine und autodidaktischer Zeichner und biedermeierlicher Landschaftschronist der andere. Gemeinsamkeiten: keine. Gemeinsame Anknüpfungsmöglichkeiten: viele. Hans Ulrich Grubenmann hat es mit seinen Kirchendächern und Brücken vorgemacht, Ueli Vogt führt es als Kurator weiter: Sie überspannen weite Räume und schaffen Verbindungen. Fitzis akurate, streng lineare Zeichnungen entstehen kurz vor der Erfindung der fotografischen Kamera. Sie sind so detailliert, dass sich die porträtierten Orte und Wege im Appenzellerland bis heute finden lassen. Zwar ist diese Art, sich der Landschaft zu nähern, aus der Zeit gefallen, aber gerade deshalb ist sie zeitlos und bietet sich an für Brücken zum Film, zur Konzeptkunst, zur Abstraktion. Zu Klaus Lutz´ zwölf Meter langer Zeichnung «Pas de deux» beispielsweise. Oder zu Sandra Kühnes mit der Schere geschnittenen Wegenetzen. Zu Anna Beck-Wörners Klebebandlinien, die über Balken und Wände des Zeughauses mäandern. Zu Christian Rattis Projekt «Passerella», das vor allem eine zeitliche Kontinuität zu erhalten versucht: Der Künstler möchte die längerfristige Zukunft von Zumthors ausgedientem Verbindungsbauwerk beim Bündner Kunstmuseum sichern und hat dafür einen Infostand inklusive Modell realisiert. Diese Idee bildet ab, was im Zeughaus Teufen immer wieder aufs Neue gelingt: Die Vergangenheit wird für die Gegenwart aktiviert und bleibt für zukünftiges Weiterdenken offen: Die Linie schreibt sich also fort.
«APROPOS flüchtige Blicke»
Nach «Walk The Line» vergeht fast ein Jahr, gefüllt mit Zwischenstellungen, Projekten für die Stirnwand, kleinen Einschüben. Das Haus bleibt offen, beweglich, einladend. So ist auch das nachfolgende «APROPOS flüchtige Blicke» keine Ausstellung im Sinne einer für einen bestimmten Zeitraum festgeschriebenen Präsentation, sondern wird bereits als «sich wandelndes Projekt» angekündigt. Diese erprobte und bewährte Arbeitsweise wird sich perfekt passend in ihre Zeit einfügen. Denn sieben Monate nach der Eröffnung werden alle Kulturinstitutionen im Land auf unbestimmte Zeit für ihr Publikum geschlossen sein. Für das Zeughaus Teufen kein Grund zu schliessen oder stehen zu bleiben. Die Arbeit geht weiter, die gestellte Frage ist gross: «Was sehen wir, wenn wir durch die Welt gehen?». Dokumentarische und künstlerische Fotografien, Zeichnungen und Karten halten die Welt fest und interpretieren sie zugleich. Wer fotografiert oder zeichnet, tut dies mit eigenem Fokus, eigenem Schwerpunkt. Sehen ist individuell und verändert sich im Laufe des Lebens. Dieser Vielfalt wird das Zeughaus Teufen mit grosser Dichte gerecht: kleine Formate und übergrosse, Einschübe, Kojen, Bilder überall, auf Pressspanplatten, an den Balken, den Wänden, in Reihen, vertikalen Bahnen. Während in der Bilderflut der digitalen Welt die Fotos weggewischt und weitergeklickt werden, ist hier die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander Programm. So entstehen Dialoge, die sich bald auch wieder mit dem Publikum führen lassen.
«Zwischen Farben»
Fast vierzehn Monate werden es schliesslich sein, in denen die Blicke in vielen Wandlungen und Ansichten durchgespielt werden. Dann ist es wieder Zeit für Neues und dies kommt mit grosser, freudvoller Geste: Katrin Hotz verändert das mittleren Stockwerk des Zeughaus Teufen vollständig. Die Bieler Künstlerin installiert in vielen Farben monochrom lackierte Papierbahnen an den zwei Balkenreihen des Raumes auf. Horizontal, vertikal, schräg, übereinander, aneinander, bis auf den Boden – die Bahnen lösen die Raumkanten auf, schliessen Durchblicke und -gänge und öffnen stattdessen neue Sichtachsen. Sie verdecken teilweise den Empfangstresen und legen sich hinter Hans Zellers Gemälde. Das Zeughaus Teufen wird mit «Zwischen Farben» zum begehbaren Bild. «Zwischen» steht nicht nur für die Zwischenräume der Installation, sondern auch für alles, was dank ihr ausserdem in den Blick rückt. Lucie Schenkers Farbzeichnungen und Plastiken zum Beispiel oder Max Grafs Entwürfe und Zeichnungsstudien. Der ein Jahr zuvor verstorbene St. Galler Architekt hat einiges gebaut, aber viel mehr unterrichtet und gezeichnet. Und er hatte ein umfassendes Verständnis vom sozialen und gesellschaftlichen Anspruch der Architektur. So gehörte es für ihn dazu, für das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen auch Sitzbänke zu entwerfen – die damals nicht realisiert wurden. Das erste Exemplar steht nun im Zeughaus Teufen. Einladend. Einfach in der Materialwahl. Klar in der Formgebung. Gestaltet für den intensiven Gebrauch im Aussenraum. Dass sie zuerst im Zeughaus Teufen steht, ist kein Widerspruch. Denn dieses Museum ist kein in sich geschlossener Kosmos. Es positioniert sich mit grosser Nähe zu zeitgenössischen Arbeits-, Bau- und Gestaltungswelten. Dabei bleiben die Grenzen zwischen Gattungen, Sparten und Kategorien fliessend, auf dass der Dialog bereichert werde und neue Sichtweisen möglich sind.
Florilegium
Mit der Blütenlese nach zehn Jahren führt Ueli Vogt seine kuratorischen Ansätze zusammen. Er integriert Bestehendes, initiiert Neues, schafft Verbindungen und rückt einmal mehr auch die Leistungen der Baumeisterfamilie Grubenmann in neues Licht. Letzteres gelingt beispielsweise durch Christian Rattis Insekteninstallation: Masstäblichkeiten verschieben sich, Modelle werden zu Dioramen, Reihungen zu Prozessionen. Auf andere Art transformiert Thomas Stüssi studentische Dachstuhlmodelle: Als T-Form frei im Raum stehend behaupten sie sich als selbständige Form. Sven Bösiger entlockt Modellen Töne, Andri Bühler filmt ihre Parcoursqualitäten. Aber auch unabhängig von Grubenmann entsteht Neues: So erweist Céline Manz mit farbigen Fensterfolien und Leuchtstoffröhren der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp und ihrer Gestaltung der Strassburger Aubette die Referenz. Ob an den Fenstern oder dazwischen, im Treppenhaus oder in der Grubenmannbox, an den Balken oder zwischen ihnen, an den Wänden oder am Gemälde, das Felix Stickel vor knapp zehn Jahren hier auf die Wand gemalt und nun temporär erweitert hat, – über dreissig Positionen agieren miteinander, mit der Sammlung und dem Haus und feiern das Zeughaus Teufen einmal mehr als Ort des Denkens und des Tuns.

Hrsg. Ulrich Vogt, Maria Nänny, 1 x ZHT, 10 Jahre Zeughaus Teufen, Jungle Books, St.Gallen 2022, S. 366–371

Blütenlese

Teufen—Zehn Jahre Experimente, Temporäres und Dauerhaftes, Handfestes und Konzeptuelles – mit der Ausstellung ‹Florilegium Teufen› fasst Kurator Ueli Vogt, bevor er das Zeughaus Teufen im Sommer verlässt, noch einmal zusammen, was ihn umgetrieben hat und was die Institution leisten kann: Sie ist mehr als ein Museum mit Grubenmann Sammlung und mehr als ein Ausstellungsort in der Logik des Kunstbetriebes. Die Nähe zu den architektonischen und baukulturellen Themen liefert einerseits konkrete Anknüpfungspunkte, ermöglicht aber andererseits einen lockeren Umgang mit dem Gezeigten. Die Frage, ob etwas Bildende Kunst ist oder Angewandte oder einem anderen gestalterischen Bereich zuzuordnen ist, rückt im Zeughaus Teufen in den Hintergrund. Wichtiger sind das Zusammenspiel, das offene Denken. Auch das Wagen und Wuchern haben Platz. So verändern sich auch diesmal bestehende Werke, wachsen weiter oder suchen sich neue Orte: Ausgediente Dachstuhlmodelle formen dank Thomas Stüssi ein breitschultriges T, ein Schriftzug von Alex Hanimann erweitert die Dauerausstellung formal und inhaltlich, Felix Stickels Wandbild wird mit vielfältigen kleineren Formaten gewürzt. Zu den neuen Arbeiten gehören Céline Manz´ farbige Fensterfolien und Leuchtstoffröhren, die den Raum uminterpretieren, Anita Zimmermanns unbefangener ‹Schimpf im Säulenfeld› oder ein Objekt von Loredana Sperini, das sich überraschend mit Jürg Altherrs Plastik auf dem Vorplatz verbindet. Über dreissig Positionen agieren miteinander, mit der Sammlung und dem Haus und feiern es einmal mehr als Ort der Möglichkeiten.

Zerebrale Kunst

Frankfurt am Main — Zwei Stunden, mindestens! So lautete die Empfehlung für einen Besuch der Duchamp-Ausstellung im Frankfurter MMK und zwei Stunden sind gut investiert in eine einerseits umfangreiche, andererseits lustvoll inszenierte Ausstellung. Sie zeigt den ganzen Duchamp, die frühen Gemälde eines nicht unbegabten Teenagers, die Zeitungskarikaturen, Briefe, Porträtfotos und selbstverständlich Arbeiten aus allen Phasen von 1902 bis 1968. Nichts fehlt, selbst Werke, die nicht reisefähig sind, sind durch Vor- und Detailstudien, Versionen oder Remakes vertreten.
Klassiker wie «Fountain», Flaschentrockner und Fahrradrad gehören unbedingt in eine solche Ausstellung und markieren in Frankfurt am Main den Auftakt. Sie werden teilweise hoch in den Raum gehängt und mit auf die Wand gemalten, hellgrauen Schattenrissen inszeniert: Duchamps Werk verträgt diesen fröhlichen, unbefangenen Blick gut. Zudem sind diese Readymades in der Folge auch in anderen räumlichen und chronologischen Kontexten zu sehen. Die gesamte Präsentation folgt nicht einer stringenten Zeitspur, sondern erlaubt sich Seitenblicke, Parallelen und Schwerpunkte. Dafür wird der eigenwillige postmoderne Hollein-Bau aufs Beste genutzt: Spitzwinklige Säle, kleine Kabinette, grosse und kleine Treppenaufgänge und Zwischenebenen, Durchgänge und Erker liefern eine Raumvielfalt, in der sich Duchamps reiches Werk schlüssig präsentiert. Die Eingangstür für André Bretons Galerie «Gradiva» beispielsweise ist so logisch eingebaut als wäre sie nie woanders gewesen. Die Rotoreliefs drehen sich in einem verdunkelten Raum mit passender Geometrie. Ein kleineres Kabinett liefert den intimen Rahmen für fotografische Aufnahmen des Künstlers über sein ganzes Leben hin. Sowohl Themen wie Schach, Gender, Geschlecht und Zufall erhalten eigene Ausstellungsbereiche als auch wichtige Werke wie «Boîte-en-Valise» oder «Le Grand Verre», das nach jahrelanger Arbeit 1923 «permanently unfinished» blieb. Zu sehen ist die 1965 von Richard Hamilton erstellte und von Duchamp autorisierte Replik, umgeben von Studien, Skizzen, fotografischem und schriftlichem Material. «Le Grand Verre» ist wohl eines der meistinterpretierten Werke des 20. Jahrhunderts, stellt aber andere von der bärtigen Mona Lisa, bis zur Erfindung des weiblichen Alter Ego Rrose Sélavy nicht in den Schatten. In allem zeigt sich, wie kraftvoll, frisch und relevant Marcel Duchamps Kunst bis heute ist.

Geschüttelt, nicht gerührt

Bregenz — Davidstern, Herz, Rose, Rune, Christuskreuz – Jordan Wolfson (*1980) gibt Symbole, Wörter, Zeichen und Bilder in einen imaginären Mixer: Einmal kräftig aufgedreht und heraus kommt eine wilde Mischung, die sich wahlweise als Rassismus- oder Antisemitismuskritik lesen lässt, in der Künstliche Intelligenz oder Homosexualität aufblitzen, die popkulturelle Phänomene oder die Angst vor Viren enthält. Funktioniert diese Gemengelage als Gesellschaftskritik? Oder drängt sich anderes in den Vordergrund?
Das Kunsthaus Bregenz zeigt knapp zwanzig Arbeiten von Wolfson. Der «Female Figure», die 2014 im Rahmen der Art Basel Aufsehen erregte, wird dabei ein ganzes Stockwerk zugewiesen. Andere Werke teilen sich einen Raum. Alle jedoch profitieren von der kühlen Ästhetik des Zumthor-Baus. Sie bildet den idealen Rahmen für die formal heterogenen und mit vielen Themen bestückten Arbeiten. So können die Wandobjekte mit Dächlein, Ketten und Riemen, mit Fotomontagen und Bibelzitaten, mit Anspielungen auf jüdische, christliche und kolonialistische Erfahrungen problemlos neben «Artists Friends Racists», 2020 bestehen, obgleich letzteres Werk technisch ungleich komplexer ist: Zwanzig Hologramm-Ventilatoren drehen sich mit hoher Geschwindigkeit und erzeugen die Illusion von Bildern, die im Raum schweben. Vor wenigen Monaten war das Werk an der Art Unlimited zu sehen, nun also in Bregenz: Emojis, Davidsterne, die Arme einer Comicfigur erscheinen und verschwinden wieder, genau wie die drei titelgebenden Wörter, wie Beispiele für Black Facing oder Motive von Breughel und Caravaggio. Aber weder die zwanzigfache Multiplikation der Bilder noch ihr schneller Wechsel können die Themen oder eine Haltung dazu schlüssig transportieren und folglich Reaktionen provozieren. Was bleibt, ist der Eindruck technischer Finesse und suggestiv kombinierter Bilder. Auch «Female Figure» verdankt seine Faszinationskraft stärker technischen Aspekten als diskursiven Qualitäten zu Themen wie sexulisierter Gewalt, Rollenzuschreibungen oder humanoider Robotik. Ansätze dafür finden sich zwar in den Schmutzspuren auf Körper und Kleidung der Figur, ihren offen liegenden Schultergelenken und ihren Blickkontakten dank Gesichtserkennungssoftware, aber insgesamt dominiert auch hier die Form den Inhalt. Wichtige Themen werden nur gestreift, differenzierte Auseinandersetzungen findet nicht statt – ein Spektakel ohne Nachhall.

Entscheide. Dich. Jetzt.

«Ja Nein Vielleicht» – in den vergangenen zweieinhalb Jahren waren ungeahnte und weitreichende Entscheidungen fällig. Dies nimmt der Verein Kunsthalle[n] Toggenburg zum Anlass für die aktuelle arthur-Ausstellung und fächert das Thema in viele Richtungen auf. Versammelt sind Werke von 21 Künstlerinnen und Künstler in der Probstei St.Peterzell.

Rechts oder links? Stadt oder Agglo? Brust oder Keule? Hund oder Katze? Ja oder nein? Beim Einkaufen, unterwegs, auf dem Stimmzettel, bei der Impfung, beim Medienkonsum – ständig sind Entscheidungen fällig, das ganze Leben lang. Manchmal gibt es nur ein Ja oder ein Nein. Manchmal ist auch ein Vielleicht möglich. Wann ist eine Auswahl freiwillig, wann ist sie notwendig? Ob Multioptionsgesellschaft oder die grossen Lebensfragen – Vieles verlangt eine Entscheidung. Organspenden oder nicht? Wahrheit oder Fake? Reparieren oder wegschmeissen? Wo anfangen? Wo aufhören?
Kann die Kunst weiterhelfen? Der Verein Kunsthalle[n] Toggenburg widmet sich mit der sechzehnten Ausgabe von arthur dem weiten Feld der Entscheidungen. Die nomadische Ausstellung spannt diesmal zusammen mit dem Verein Ereignisse Propstei St. Peterzell. Fast zwei Dutzend Künstlerinnen und Künstler nähern sich dem Thema auf erwartungsgemäss sehr unterschiedliche Weise an. Die Präsentation ist dicht, reicht von Objekten, Malerei, Zeichnung über Installationen bis hin zu Soundarbeiten. Sie beginnt vor dem Haus und reicht bis in den Dachspitz hinein. Sie umfasst Neues, eigens Entwickeltes und Bestehendes und knüpft oft an Momente an, die kaum jemandem fremd sind, weil das Thema unseren Alltag prägt.
Anita Kuratle aus Basel beispielsweise stellt das Warten ins Zentrum ihrer Arbeit. Die aus Papier geschnittenen Korbstühle und die von Kritzeleien inspirierten Objekte rufen Situationen in Erinnerung, die jede und jeder kennt: Soll ich noch warten oder kommt er doch nicht mehr? Der Bus? Der Anruf? Der ersehnte Mensch? Ursula Anna Engeler aus Romanshorn fokussiert auf Entscheidungen, deren Tragweite um den ganzen Globus reicht. Aus Etiketten in Bangladesh hergestellter Textilien hat sie ein Kleid zusammengenäht und spielt auf die Arbeitsbedingungen der Näherinnen ebenso an wie auf die Klimafolgen des ungezügelten Kleiderkonsums. Der Liechtensteiner Martin Walch hat vielarmige Wünschelruten aus Christbaumspitzen geschnitzt und stellt damit die Schwierigkeit sich zu entscheiden in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Orientierung zu finden ist nicht immer und nicht für alle leicht, da geraten mitunter auch abwegige Entscheidungshilfen ins Visier. In den Zeichnungen der Ausserrhoderin Harlis Schweizer Hadjidj spiegeln sich sehr anschaulich die künstlerischen Entscheidungen. Jeder Strich, jede Farbe, jede Fläche auf dem Format ist das Ergebnis einer bewussten Auswahl. Dabei testet die Künstlerin Grenzen aus, was notwendig ist, um ein Haus, einen Hügelzug oder eine Jahreszeit erkennbar machen zu können. Die Liechtensteinerin Barbara Geyer stellt in den Dachstock der Probstei ein stählernes Wasserbecken. Ein automatisch betriebener Arm erzeugt von Zeit zu Zeit Wellen und eine Lichtquelle sorgt für Reflexion der bewegten Oberfläche an der Dachschräge. Sie lassen sich nicht vorhersagen, sie entfalten ihre eigene Dynamik und Schönheit. Die Künstlerin liefert damit ein schlüssiges Bild für die grosse Rolle des Zufalls inmitten aller Entscheidungsgewalt oder wie es Wilhelm Busch auf den Punkt gebracht hat: Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.

Gräser, Gummis, Gegenwelten

Katharina Henking und Guido von Stürler arbeiten im Sommeratelier Weinfelden. Beide zeigen in der alten Remise ihren künstlerischen Blick auf Natürliches und von Menschenhand Geschaffenes.

Frontscheiben von Autos, ihrer Zehen entledigte Knoblauchknollen, Gartenschläuche und Fadengespinste haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Auch auf den zweiten nicht – dennoch funktioniert die Ausstellung von Katharina Henking und Guido von Stürler in der Remise Weinfelden. Die beiden künstlerischen Positionen sind räumlich nicht vermischt, unterscheiden sich sehr in Form und Material, aber sie nehmen inhaltlich durchaus einen Dialog auf. Die Remise selbst bietet dafür den idealen Rahmen.
Die alten Treppen und Dielen knarren, manche Deckenbalken zwingen, den Kopf einzuziehen, kleine Räume liegen nah beieinander. Ursprünglich lagerte der Thurgauer Apotheker und Kaufmann Paul Reinhart in diesem Haus Kräuter und Gewürze. Wie passend, dass Katharina Henking hier in einem leicht erhöhten, offenen Raum eine filigrane, schwebende Pflanzeninstallation zeigt. Äste und zu Ringen gebogene Zweige hängen von der Decke, daran schaukeln getrocknete Gräser und Nutzpflanzen bei jedem noch so kleinen Lufthauch. Diese romantisch verträumte Anmutung wird gebrochen durch einen Massagehandschuh aus Plastik und zerknüllte Klebefolien, die sich um Pflanzenreste winden. Dieses industriell gefertigte Material ist transparent und glitzert wie ein Tautropfen und ist doch in seiner Künstlichkeit ein grosser Kontrast. Immer wieder inszeniert Henking solche Widersprüche. So steckt sie Pflanzenfasern in Folie oder verzwirbelt Polyesterfäden, die wie Insektenüberbleibsel im Dachstock hängen. Darunter, im ersten Obergeschoss wecken lose hängende Gummibänder die Assoziation von Fetisch und Spannung. Diese Materialien sind es auch, die als Klammer zu Guido von Stürlers Arbeiten wirken. Der im thurgauischen Wallenwil lebende Künstler kombiniert Auto-Frontscheiben, Gartenschläuche und metallene Servierteller mit Spiegeln, Lampen und Epoxydharzblöcken. Diesen Ensembles fügt er Ton, Marmormehl oder getrocknete Zitrusfrüchte hinzu. Auch hier sorgt der Zusammenklang aus natürlichen und maschinell gefertigten Dingen für Spannung. Verstärkt wird diese durch die Farbigkeit: Bewusst setzt von Stürler auf den Dreiklang der Primärfarben rot, blau und gelb, der dem Braun des gebrannten Tones und des Holzes gegenüber steht. Die Gegenwelten sind bewusst inszeniert und werden sogar in den virtuellen Raum hinein gesteigert: Guido von Stürler hat eigens für die Ausstellung mehrere Augmented Reality-Sequenzen programmiert. Wer mit einem bereit liegenden Tablet oder dem eigenen Smartphone die QR-Codes einliest, kann – wenn einige technische Aussetzer und Verzögerungen überwunden sind – dreidimensional erscheinende Ameisen über die Tonplatten krabbeln oder einen Vogel darüber fliegen lassen.
Vor zwei runden Lichtobjekten erscheinen dank Augmented Reality zwei Skulpturen: die Venus von Willendorf und eine männliche polynesische Figur. Bei einer dritten Arbeit erscheint Giorgio Vasaris «Allegorie der Geduld», jene muskulöse Schöne in doch recht ungeduldiger Warteposition: Im virtuellen Raum öffnet von Stürler ein weites Feld zwischen Kulturkreisen, Epochen, Natur und Kunst – und führt mitunter weit weg von der Ausdruckskraft der realen Gegenstände und Materialien. Die digitale Welt ist hier kaum mehr als verspielter Zusatz. Deutlich schlüssiger ist es, den Bogen von seinen Objekten mit Glas oder den tönernen Pflanzenhalmen zurück zu Katharina Henkings Installationen zu spannen und möglichen Fragen nachzugehen: Ist uns die Natur näher oder die Technik? Wie verhalten sich beide zueinander? Was kann die Kunst in diesem Verhältnis bewirken?

Rote Viren und ein Roboter: Das Kunsthaus Bregenz zeigt Werke des amerikanischen Künstlers Jordan Wolfson

Rot ist eine laute Farbe, eine Warnfarbe, eine Primärfarbe. Wer «Achtung!» sagen will, nutzt Rot. So auch Jordon Wolfson. Der 1980 in New York geborene Künstler zeigt im Kunsthaus Bregenz eine Auswahl seiner Werke. Rot taucht darin immer wieder auf.

Kristin Schmidt

Ein rotes Virus hüpft durch New Yorks Strassenschluchten. Es schwebt, es springt, es schlenkert fröhlich mit seinen Proteintentakeln. Mal verwandelt es sich in einen vieleckigen Körper, dann bläst es sich auf, bis es zu platzen droht, dann kugelt es munter weiter. Präsentiert Jordon Wolfson hier den Siegeszug des Coronavirus? Die Entstehungszeit seines Videos «Raspberry Poser» acht Jahre vor der Coronapandemie und die animierten Kondome verweisen auf ein anderes Virus: HIV ist noch immer präsent. Und es zirkuliert überall. In Wolfsons Video wabern die Kondome durch herzig eingerichtete Kinderzimmer, klinisch reine Wohnwelten und schmucke Wohnzimmer. Überall verteilen sie rote Herzchen. Dazwischen: Anarchie-Zeichen, Geschlechtersymbole, eine wütende Comic-Figur, ein freundlicher Skinhead – Jordon Wolfson mixt alles und erreicht wenig. Denn die grosse Themenvielfalt lässt eine eigene Haltung oder eine Dringlichkeit des Gezeigten kaum erkennen. Auch der immense technische Aufwand bei seinen künstlerischen Werken täuscht darüber nicht hinweg.

Wilder Mix aufwendig inszeniert

Das Virus-Video nimmt ein ganzes Stockwerk des Kunsthaus Bregenz ein. Der Raum ist vollständig mit einem weissen Kuschelteppich ausgelegt, Musik und die Pop-Ästhetik des Videos sind durchaus anziehend, provozieren aber kaum ein längeres Nachdenken. Ähnlich ist es mit «Artists Friends Racists» eine Etage weiter oben: Hier drehen sich vor einer freistehenden Wand zwanzig Hologramm-Ventilatoren mit hoher Geschwindigkeit. Sie erzeugen die Illusion von Bildern, die im Raum schweben. Emojis, Davidsterne, die Arme einer Trickfigur erscheinen und verschwinden wieder. Aus dem englischen Wort für Freunde wird das für Rassisten und dann jenes für Künstler, immer wieder aufs Neue, dazwischen Bilder von Breughel, Caravaggio und Niederländer mit schwarz angemalten Gesichtern, die den «Zwarte Piet» feiern: alles zwanzigfach, alles im schnellen Wechsel. Aber weder die Anzahl der Bilder, noch ihre rasche Abfolge oder die technische Spielerei der Hologramm-Installation steigern die Intensität der Aussage. Ebenso wenig gelingt dies den im gleichen Raum gezeigten Wandobjekten. Das Christuskreuz trifft hier auf den weissen Hai. Groucho Marx trifft auf John F. Kennedy Junior und beide werden mit Ketten und Riemen gebändigt. Eine brave Kinderschar wird mit Vampirzähnen versehen. Darüber überall Bibelzitate, rote Rosen und Herzen, Kreuze, Runen und ab und an ein Davidstern. Es ist ein vielfältiges Spiel mit popkulturellen, spirituellen und medialen Symbolen, in die Tiefe geht dies jedoch nicht.

Gogo-Girl oder Baba Jaga

Jordon Wolfsons bisher bekanntestes Werk «Female Figur» ist im dritten Obergeschoss des Kunsthauses zu sehen. Auch dessen Faszination entsteht vor allem durch Form und Technik: Eine lebensgrosse und der menschlichen Gestalt nachempfundene Roboterfigur tanzt vor einem Spiegel. Sie trägt weisse, hochhakige Stiefel, weisse, lange Handschuhe und ein knappes, beschmutztes Negligé. Das Gesicht unter der platinblonden Perücke ist zur Hälfte von einer grünen Maske mit langer Nase bedeckt. Verblüffend geschmeidig bewegt sie sich vor dem Spiegel und nimmt dank der Gesichtserkennungssoftware Blickkontakt mit dem Publikum auf. Die Künstlichkeit der Figur wird durch die offenen Schultergelenke betont, gleichzeitig lässt «Female Figur» erahnen, wie nah die Technik bereits am lebenden Original ist. Ihre Baba Jaga-Maske verschränkt die Installation mit dem Erdgeschoss des Kunsthauses: Hier hängt ein blutrotes Haus an der Wand, das Dach blickt in Form einer Hexenmaske in den Raum: Wer sich gruseln möchte, ist hier gut aufgehoben, aber die Effekte erzielen eher kurzfristige Wirkung.

Kunst als vierte Dimension

Kleine Landschaften und grosse Klänge, die Welt in einer Glaskugel oder einer Schlagzeile – «Dimensional. Drinnen und draussen» zeigt Transformationen gewohnter Kategorien, begibt sich in Zwischenzonen und eröffnet neue Sichtweisen auf bekannte Dinge vom Stein bis zum Stuhl.

Die Welt steht Kopf. Verkehrtherum glitzern die Wellen in der Sonne. Ihnen schliesst sich der Hügelzug des anderen Seeufers an. Er steht Kopf und unter ihm prangt der Himmel, blau wie der See. Joëlle Allet hat drei Glaskugeln am Steckborner Deucherquai platziert. Jede der Kugeln birgt in sich die ganze Welt: Wo auch immer die drei platziert sind, durch sie hindurch ist die gesamte Umgebung zu sehen, auf dem Kopf stehend und gewölbt durch das Glas hindurch. In diesem massiven Glas sind kleine Luftbläschen eingeschlossen und feine Adern. Die Kugeln zeigen damit nicht nur die Umgebung, sondern auch ihren eigenen gläsernen Kern. Mit diesem Zusammenklang von Innen und Aussen, von grosser Welt in kleiner Kugel ist «Triplés», 2017 der gelungene Auftakt für «Dimensional. Drinnen – draussen», die Sommerausstellung 2022 im Haus zur Glocke in Steckborn.
Ebenfalls auf dem Quai, nur wenige Meter entfernt, steht «Stummer Stein», 2018 von Arthur Schneiter. Der Monolith steht in grossem Kontrast zu «Triplés»: Statt durchsichtig ist er schwarz. Statt schwebend auf Augenhöhe montiert zu sein, ruht er fest auf einem eigens bearbeiteten Sandsteinsockel. Statt einer geschlossenen geometrischen Form ist er vielgestaltig mit unterschiedlich bearbeiteter Oberfläche. Glatte Flächen stehen eingearbeiteten Rastern gegenüber, polierte Flächen kontrastieren mit rauer Haptik. Mit all ihren Unterschieden in Konzeption und Form stehen dennoch beide Kunstwerke für das Ausstellungsmotto ein und bilden eine Klammer zwischen Steckborner Unterseeufer draussen und dem Kunstraum drinnen.
Vier künstlerische Positionen sind für «Dimensional. Drinnen – draussen» miteinander verbunden und richten den Blick in Innen- und Materialwelten, auf die Aussenhaut und Oberflächen, aber auch in Strukturen, Räume und Konstruktionen. Schlüssig an der Verbindungsstelle zwischen Innen und Aussen platziert Fredy Schweizer sein Wellenkissen: «untersee 2», 2022. Auf der breiten Fensterbank liegend spiegelt es die Umgebung vor dem Haus und im Raum. Die Form des Steines verweist ebenfalls auf draussen, lassen sich doch die gleichmässig angeordneten, sanft gerundeten Erhebungen und Vertiefungen als Wellenberge und -täler lesen. In ihnen reflektiert sich das Licht und wird in das Gebäude hinein geführt. Dort trifft es auf zwei Marmorskulpturen, ebenfalls von Fredy Schweizer: «wiegend zu land und zu wasser», 2021/22 schwingt an einer Seite kühn in den Raum hinaus, bildet dann Kreten, die auf der anderen Seite in Kurven ausfliessen. «wahrnehmend», 2021/22 reckt eine forsche Spitze in den Raum, ausgehend von einer grossen Rundung. Diese Leserichtungen sind nicht vorgegeben, Fredy Schweizers Bildhauerarbeiten lassen sich von allen Seiten betrachten. Angeregt ist ihre Gestalt einerseits durch die sorgfältig herausgearbeitete Maserung des Steines und und andererseits durch die Landschaft.
Jeder Mensch trägt die Erfahrung von Landschaft in sich, kann Hügel, Ebenen, Berge vor dem inneren Auge abrufen. Diese Erfahrungen sind ein wichtiger Bestandteil der Arbeit Fredy Schweizers. Ihn prägt insbesondere die Landschaft des Seerückens mit der grossen Wasserfläche des Untersees. «untersee 1», 2022 thematisiert deren Wellenstruktur. Zugleich lenkt Schweizer die Aufmerksamkeit auf den Stein selbst. Wie bei den polierten Marmorskulpturen zeigt sich auch hier das Innere des Steines an seiner Oberfläche. In diesem Falle ist es Kalkstein mit zahlreichen kleinen Einschlüssen, die von der langen Geschichte des Steines erzählen. Der Blick schwingt von den Details aus dem Innenleben des Steines an die seidig matte Oberflächenhaut und zurück. Und er schwingt von hier aus weiter zu «togo», 2012 von Patrick Steffen, denn der Oberflächenglanz beider Arbeiten führt einen lebhaften Dialog. Steffen hat Papier so lange beidseitig mit Graphit bearbeitet, bis es einen sanft metallischen Glanz angenommen hat. Zudem wellen sich die drei übereinander gehängten Blätter leicht und führen damit in der Vertikale weiter, was «untersee 1» in der Horizontalen anklingen lässt. Zugleich korrespondiert «togo» mit Arthur Schneiters Graphitzeichnung «Zwei Steine» zwei Stockwerke weiter oben, die ebenso dicht und ebenso materialgetrieben ist. Im Gegensatz zu den Papierarbeiten Patrick Steffens ist sie jedoch motivisch angelegt und verweist mit der Darstellung zweier Steine auf die bildhauerischen Werke Schneiters. Der Künstler platziert Klangsteine im Haus zur Glocke. Sie sind als Rohmaterial präsent, sind als «Kleines Steinspiel», 1989 angelegt, laden mit «Ohr am Stein», 2022 vom Äusseren des Steines aus ein, in sein Inneres hineinzuhören, und sind als kleiner Steinhaufen auf einer Serpentinplatte platziert. In ihrer gerasterten Oberflächenbearbeitung erinnert die Platte an den «Stummen Stein» auf dem Deucherquai und fügt sich somit in das Spiel zwischen drinnen und draussen ein.
Arthur Schneiter bearbeitet Steine so, dass sie zum Klingen gebracht werden können. Die Klanggitter im Inneren der Steine tönen nach draussen und nehmen damit ein Volumen weit über das eigentliche Material des Steines hinaus ein. Welche klangliche Qualität und Vielfalt in den Steinen ruht, verdeutlicht mit Patrick Steffens «fade», 2021. Das Video ist nur wenige Schritte entfernt zu sehen und zu hören. Der Sound stammt vom Klangkünstler Fritz Hauser und wurde unter anderem auf Klangsteinen von Arthur Schneiter erzeugt. Gefilmt wurde «fade» von den Gleisen einer stillgelegten Bahnstrecke aus. In homogener Bewegung geht die Fahrt vorbei an einer Landschaft in der Dämmerung; mit immer gleicher Blende, immer gleichem Tempo, immer gleichem Blickwinkel. Langsam stellt sich die Dunkelheit ein und eine grosse Ruhe liegt über der profanen Gegend mit ihren Fabrikhallen, Fahrstrassen, Feldern. Den Kontrast zum gleichförmigen Tempo und der visuellen Stille dieser Arbeit bildet Steffens Anagrammpoesie. Seit vielen Jahren sammelt der Künstler prägnante Botschaften im öffentlichen Raum. Die Schlagzeilen, Parolen oder Graffiti verwandelt er per Anagramm in poetische Wortmeldungen. Diese sind in Steckborn in Form einer Zeitung, als Bildtafeln im Haus zur Glocke und als Plakate am Bahnhofskiosk zu sehen und zu lesen. Das Drinnen und Draussen verschränken sich hier physisch durch den Ort der Präsentation. Zusätzlich werden die aggressiven und plakativen Sätze und Parolen, die ganz auf Aussenwirkung ausgerichtet sind, nach innen geholt, in den Bereich der Poesie, der Reflexion, des Innehaltens. Noch immer ziehen sie in der typischen Blockschrift der Boulevardzeitungen die Aufmerksamkeit an, um aber das geweckte Interesse mit surrealen, humorvollen Sätzen zu belohnen. Aus der bereits rätselhaften Schlagzeile «Für Aliens gibts kein Verstecken mehr» werden Sätze wie «Fakten verbiegen? Kirschen mit Rüssel!» heisst es da, oder «Frisch verliebt? Tanke Genüsse im Kern!». Dieses Verschieben der Realität, die Transformation des Alltags verbindet Patrick Steffens Anagramme mit Joëlle Allets Werk. Wie die Kugeln am Steckborner Deucherquai, sorgen auch ihre Arbeiten im Dachgeschoss des Hauses zur Glocke für eine neue Sicht auf die Dinge.
Die «Trois Chaises», 2014 mit ihren unterschiedlichen langen Beinen werden durch den schiefen Dielenboden in ihrer Wirkung noch verstärkt. Hier ist die Welt aus ihrer rechtwinkligen Ordnung geraten. Die Tongefässe auf dem Holztisch sind ebenso fragil wie trotzig mit ihren krummen, bauchigen Formen und ihrer kleinen Standfläche. Mit «Lappalie», 2022 schliesslich unterwandert die Künstlerin die Kategorien von oben und unten, drinnen und draussen. Zwei Dutzend Vasen, Dekantierer, Schalen, Karaffen und Flaschen aus transparentem Glas liegen oder stehen auf dem Boden. Ihre Öffnungen sind verdeckt oder nach unten gekehrt, ihr Inneres ist von aussen her zu sehen, aber nicht mehr zu greifen. Die Übergänge vom einen Gefäss zum anderen sind nicht mehr klar, denn manche bilden ein Duo und einige sind mit Mut und Witz zu einem Turm gestapelt. Kippt er oder kippt er nicht? Wird er einem Beben, ausgelöst durch einen schweren Schritt auf dem alten Holzboden standhalten? Die Antworten bleiben bewusst offen und Joëlle Allets Arbeit liefert einen schlüssigen Kommentar zum Ausstellungsmotto: Ob drinnen oder draussen, ob klein oder gross – keine Kunst ohne Wagnis, keine Kunst ohne Idee und Experiment.

Ausstellungsbroschüre zu «Dimensional. Drinnen – Draussen», Haus zur Glocke, Steckborn