Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Eisen, Feuer, Papier

Laura McGlinchey und Wassili Widmer sind das Gewinner-Duo des diesjährigen Thurgauer Nachwuchsstipendiums für Bildende Kunst. Für die Shedhalle im Eisenwerk Frauenfeld haben sie eine riesige Papierinstallation entwickelt, in der es klingt und stinkt.

Papier kann alles. Bedruckt kann es grosse Kräfte freisetzen oder Emotionen wiedergeben. Es kann die Welt spiegeln, Zukünftiges oder Vergangenes festhalten. Mitunter muss es auch für allerlei Unfug herhalten und bleibt doch sprichwörtlich geduldig. Haben die gedruckten oder handschriftlich notierten Inhalte ausgedient, hat es das Papier noch lange nicht.

Laura McGlinchey (*1990) ist Pappmaché-Spezialistin. Papier und Karton sind ihre Werkstoffe. Unter ihren Händen kann Papier zur Plastik werden, kann Räume bilden, trennen und öffnen, ohne seinen ursprünglichen Zweck zu verleugnen.

Für die Shedhalle im Eisenwerk Frauenfeld hat Laura McGlinchey gemeinsam mit dem Ausserrhoder Künstler Wassili Widmer (*1992) eine begehbare Papierinstallation entwickelt. Kennengelernt haben sich die beiden beim Masterstudium an der Glasgow School of Art. Seit ihrem Abschluss vor drei Jahren sind sie in Kontakt geblieben, tauschen sich weiterhin über ihre künstlerische Arbeit aus und haben nun das Thurgauer Nachwuchsstipendium für bildende Kunst erhalten. Damit verbunden ist die zwölfte Ausstellung in der Reihe «Tanz mit Bruce» in der Shedhalle im Eisenwerk.

Hand, Kopf, Herz und Bauch

Fünf Wochen lang haben Laura McGlinchey und Wassili Widmer gekleistert und gesprayt, haben zu einer Performance eingeladen, Sound- und Lichteffekte ausgetüftelt. Der Bezug zu Bruce Nauman, der im Motto der Ausstellungsreihe anklingt, blieb dabei im Hintergrund, ist aber durchaus präsent.

Eines der grossen Themen Naumans ist die menschliche Körperlichkeit. Sie ist auch die Basis für die aktuelle Ausstellung in der Shedhalle: Die durch Papierwände gebildeten Sektoren der Halle sind der Hand, dem Kopf, dem Herzen und dem Bauch gewidmet. Damit beziehen sie sich ausserdem auf Fritz Langs Film Metropolis aus dem Jahre 1927: auf die physische und körperliche Arbeit und auf die intellektuelle und geistige Arbeit.

Das Ausstellungskonzept nennt viele solcher Bezüge; so wird beispielsweise männlich, hartes Handwerk identifiziert, das dann wiederum mit einem queeren Element transformiert werden soll. Vergessen gehen dabei feminine Aspekte. Dies zeigt, wie obsolet solche Kategorisierungen sind, und obendrein hat die Ausstellung sie auch gar nicht nötig. Sie wirkt sehr unmittelbar und sinnlich eindrucksvoll.

Anklänge an die industrielle Vergangenheit

Die Papierwände teilen den Raum in höhere und niedrige Kabinette. Manche sind nur geduckt zu erreichen, andere öffnen sich gleich einem grossen Höllenschlund. Darinnen glüht es, stinkt, scharrt und wummert. Wie Lava ergiesst sich rötlich, gelb und orange gefärbtes Papier über den Boden. Eine schwarze, schrundige Kruste bricht auf und gibt tiefer liegende Schichten frei.

An anderer Stelle wird ein Unterwasserblick vorgespiegelt. Wieder anderswo greifen drei Dutzend Hände in die Luft. Eine Jugendstilform ist in schönstem Schwung auf die Wand gemalt, ertrinkt aber bereits wieder in wirrem Schwarz. An anderer Stelle lockt am Ende eines engen und immer enger werdenden schwarzen Papierkorridors ein schwarzes Herz aus Pappe.

Papier baucht sich von den Decken herab, lässt Kanten verschwinden und stattdessen organische Räume entstehen. Ab und zu fällt der Blick auf das Papier selbst, viel Zeitungspapier und dazwischen Noten von Musikstücken, Matheübungsblätter, Buchkopien.

Das Papier stammt aus der Wohngemeinschaft im Eisenwerk. Dieser enge Bezug zum Leben und zu ihrem Ort erdet die Installation: «Melting of the iron body» bringt die Industriehalle ins Jetzt und Hier. Auf die früher hier verrichtete, schwere körperliche Arbeit verweist zwar noch die Videoperformance. Wieder klingt das Hämmern, Sägen, Werken durch die Hallen, aber es dient nicht mehr der Produktion, sondern verbindet sich mit den Raumeindrücken, der konstruierten Dichte und den Farb- und Lichtkonzepten zu einem Gesamtkunstwerk.

Ari Marcopoulos — Die Politik des Bildes. Der Künstler thematisiert gesellschaftliche Phänomene und bewahrt sich dabei einen poetischen Blick.

Ari Marcopoulos fotografiert seit vier Jahrzehnten. Er fotografiert die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld oder aus der Skateboard-, der Kunst- und der Musikszene. Er porträtiert
Bäume ebenso wie Graffiti oder hält Schlagzeilen und Stadtsituationen fest. Sein Werk umfasst aber längst mehr als Fotografien. In der bisher umfassendsten Einzelausstellung des Künstlers zeigt die Kunst Halle Sankt Gallen weitere Facetten von Marcopoulos´ Arbeit.

Ein Fries aus Fotografien. Unprätentiös auf die Wand tapeziert, eines neben dem anderen. Ein Baum. Zwei Frauen in einer geöffneten Tür. Ein Passant. Eine Schar Kinder. Wieder ein Baum, diesmal schneebedeckt. Zwei Männer hinter einem Zaun. Jedes Bild ist wichtig. Jedem Bild folgt ein nächstes. Jugendliche. Der Innenraum einer Apotheke. Ein geöffneter Kamerakoffer. Bilder bei Tag, Bilder bei Nacht. Komponierte Schwarzweissaufnahmen. Farbige Schnappschüsse.
Ari Marcopoulos zeigt in der Kunst Halle Sankt Gallen 91 Fotografien und inszeniert sie als einen horizontal durch den Raum fliessenden Bilderstrom. Manche Bilder zeugen mit ihren Motiven von der Pandemiezeit, andere tragen diesen Verweis nur in der automatischen Datumsanzeige der Kamera. Wieder andere wurden deutlich früher aufgenommen. Die Ausstellung ist während der Pandemie entstanden. Sie verhüllt dies nicht, beschränkt sich aber nicht auf die vergangenen zwei Jahre, so Ari Marcopoulos: «Wenn ich in einer Schachtel oder im Ordnersystem des Computers nach bestimmten Bildern suche, finde ich andere.» Die automatische Datumsanzeige auf vielen Fotografien ist für Marcopoulos ein wichtiges Element, das zu einer anderen Datensammlungen in Beziehung steht: «Ich schätze On Kawaras Arbeit sehr. Oder auch jene von Stanley Brown, der Wegbeschreibungen sammelte. Es geht um das Aufzeichnen von Zeit und Bewegung.»

Begegnungen und Bücher

Die beiden vergangenen Jahre der Pandemie gehörten auch der Black Lives Matter Bewegung und zu einem Teil der Regierungszeit Donald Trumps. Sie gehörten der künstlerischen Arbeit und dem alltäglichen Tun, waren die Zeit der Stille einerseits und die Zeit politischen Engagements andererseits. Marcopoulos hängt seine Bilder dieser Zeit in der Ausstellung hierarchiefrei aneinander. Die Bildfolge ist narrativ, aber nicht linear erzählerisch. So lassen sich beispielsweise verwandte Motive entdecken, wenn eine alte Frau mit der Hand ihre Zähne fasst, ein Mann zähnefletschend grinst und auf der nächsten Fotografie eine Comicfigur ihr Gebiss bleckt. Aber diese Nachbarschaften bleiben beiläufig und offen. Ari Marcopoulos glaubt an die Betrachtenden als Interpreten und Interpretinnen der Arbeit: «Das Werk ist erst vollendet, wenn sie anwesend sind, ihre eigenen Gedanken entwickeln und spüren, was die Arbeit meint. Dank meiner Bilder kann an unbewusst vorhandene Dinge angeknüpft werden.» Getragen ist die Arbeit von seinem Interesse für die Menschen: «Ich erlebe sehr berührende Begegnungen mit Menschen aus meinem Quartier, mit dem Postboten oder beispielsweise im Friseursalon. Ich fotografiere sie und habe aus den Fotografien ein Buch gemacht mit 825 Seiten. Allen im Friseursalon habe ich ein Exemplar gegeben. Das sind Gelegenheiten, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.»
Der Künstler ist bekannt für seine Bücher und Zines, die er seit vielen Jahren herausgibt. Eine Konkurrenz zwischen den Büchern und den Ausstellungen entsteht dabei nicht: «Eine Ausstellung ist kein Buch. Ein Buch ist keine Ausstellung. Bücher existieren, Ausstellungen kommen und gehen. Ausstellungen können mehrere Dinge gleichzeitig behandeln. Ein Buch kannst du in die Hand nehmen und durchblättern, aber die Bilder verschwinden, wenn die nächste Seite aufgeschlagen wird. In einer Ausstellung bist du umgeben von Bildern. Wichtig ist: Ich mache immer eine Publikation oder ein handgefertigtes Zine.» Marcopoulos setzt bei diesen Heften und bei seinen Büchern auf einfache und klare Gestaltung und bezieht sich auf eine Katalogtradition: «Einige meiner Lieblingskataloge stammen aus den späten 1960ern und frühen 1970ern. Damals hatten die Bücher oft einfache Softcover. Sol Lewitt, Robert Morris – zu solchen Künstlern gab es einfache, dokumentierende Kataloge. Sie waren dazu da, zu zeigen, was gewesen ist.»

Turner, Kienholz und Michelangelo

Referenzen an andere Künstler gibt es in Ari Marcopoulos´ Werk in vielerlei Hinsicht. Unter den 91 Fotografien ist ein abgelichteter Zeitungsartikel über William Turner, eine Fotografie von Büchern über Gericaults ‹Méduse› und Kienholz´ ‹Five Car Stud› oder ein Band über Michelangelo, der von den Händen einer schwarzen Person gehalten wird. Hinweise auf gesellschaftlich relevante Themen liegen auch in diesen Fotografien: «In diesem Nebeneinander liegt die Bedeutung. Bei Gericault ist ein Schwarzer Mann zuoberst auf dem Floss zu sehen. In dem Artikel über William Turner ist sein Gemälde von Napoleon im Exil zu sehen. Einerseits lässt sich dessen Einsamkeit als Anspielung auf die Situation während der Pandemie lesen. Andererseits berichtet der Artikel darüber, wie Turner mit dem Kunstmarkt spielte. Das wiederum führt zum kapitalistischen New York.»
Besonders verbunden waren Ari Marcopoulos und seine Partnerin Kara Walker mit Robert Frank und dessen Frau June Leaf: «Ich bin beeinflusst durch ihn und hatte das Privileg, in seinen letzten Lebensjahren viel Zeit mit ihm verbringen zu können.» In der Kunst Halle Sankt Gallen zeugt das Video ‹Nova Scotia›, 2022 von dieser Freundschaft. Es ist weniger die Dokumentation eines Besuches als ein gemeinsames Eintauchen in Erinnerungen und Gedanken. Ein Gespräch dreht sich mit langen Pausen über Sprache, Herkunft und Wohnort. Der in der Schweiz geborene Frank berichtet über seine Zeit in Paris und betont, wie gern er Menschen traf. Auch diese den Menschen zugewandte Art verbindet die beiden Fotografen. So berichtet Marcopoulos wie er Zugang zu verschiedenen Szenen fand: «Mit welcher Gruppe auch immer ich gearbeitet habe, ich war sehr interessiert an den Menschen. Dieses generelle Interesse ist ebenso entscheidend wie Offenheit. Zudem war irgendwann der Punkt erreicht, dass viele Menschen meine Arbeit kannten. Ich bringe die Bilder unter die Leute, als Zine oder auf andere Weise. Ich habe beispielsweise 300 Fotografien an den Zaun des Basketballplatzes in meinem Quartier gehängt.»

Störmomente

Marcopoulos porträtiert nicht nur Menschen, auch Bäume finden sich häufig unter den Bildern. Oder Graffiti: «Ich nehme die Kamera zur Hand, wenn mich etwas besonders anzieht, etwa eine Form, eine Gestalt oder ein Ausdruck. Selbst wenn ich Graffiti fotografiere, entstehen Porträts. Ich suche nicht nach grossartigen oder besonders virtuosen Graffiti. Interessiert bin ich am Graffiti als Gegenpool zur Reklame. Die Gesellschaft missbilligt Graffiti. Werbung hingegen wird nicht in Frage gestellt, sie scheint nicht zu stören. Graffiti ist ein Antidot zur Reklame.»
Marcopoulos selbst inszeniert in seiner Ausstellung Störmomente: Auf neun kleinen Monitoren – mit bewusster Nonchalance auf dem Boden platziert – tönen Sound- und Videoexperimente weit in den Raum hinein. Sie entstanden während des pandemiebedingt erzwungenen Rückzugs und verbinden sich mit dem bedrohlichen Klang der New Yorker Polizeihelikopter über den Black Live Matters-Protesten. Auch im Video «Alone Together with Joe McPhee» verbindet Marcopoulos sein Interesse an der Musik mit den gesellschaftlichen Zuständen in den Vereinigten Staaten: Der Jazzmusiker McPhee improvisiert auf einem Plastiksaxophon und rezitiert ein eigenes Gedicht mit grosser emotionaler und politischer Dringlichkeit. Marcopoulos führt damit im letzten Ausstellungsraum schlüssig zusammen, was ihn künstlerisch beschäftigt und ihn längst über die Fotografie hinaus geführt hat, ohne dass er sie hinter sich lassen musste.

→ ‹Upstream›, Ari Marcopoulos, Kunst Halle Sankt Gallen, bis 7.8. ↗ www.k9000.ch

Ari Marcopoulos (*1957 in Amsterdam) lebt in Brooklyn

Einzelausstellungen (Auswahl)
2021 Archive/Project Space, Pittsfield
2020 galerie frank elbaz, Paris
2019 Art Basel Unlimited
2019 Fergus McCaffrey, New York
2015 Marlborough Chelsea, New York
2012 V1 Gallery, Kopenhagen
2010 Foam_Fotografiemuseum Amsterdam
2009 Berkeley Art Museum, Berkeley

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2021 LAXART, Los Angeles
2020 Hugh Lane Gallery, Dublin
2019 University of New York at Albany, New York
2019 Pratt Institute, New York
2018 Fotomuseum Winterthur
2016 Camden Arts Centre, London
2015 Fondazione Giuliani, Rom
2010 Whitney Biennal, Whitney Museum of American Art, New York
2006 Kunsthaus Zürich

Polyphonie im Untergeschoss

St.Gallen — Die Jungend telefoniert nicht mehr. Sie bevorzugt Kommunikationskanäle, bei denen der Ton mit dem Bild gekoppelt ist. Die Stimme hat sich woanders durchgesetzt: Sprachnachrichten haben den Textnachrichten längst den Rang abgelaufen. Mitteilungen werden ins mobile Gerät gesprochen und irgendwann, irgendwo, vielleicht immer wieder angehört.
Die gesprochene Sprache bleibt: Einander etwas sagen, in den Tonfall alles hineinlegen, was sich nicht sagen lässt, sich ganz dem Klang hingeben, der Sprachmelodie – Sprechen vermittelt Informationen nicht nur durch Wörter, sondern auch durch die Stimmästhetik. Diesen Qualitäten der Stimme, dem Hören und nicht zuletzt auch der Wirkung des Bild-Ton-Raumes widmet Manon De Boer ihre Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen. Es ist die bisher umfangreichste Einzelausstellung der in Indien geborenen und in Brüssel lebenden Künstlerin. Gezeigt wird sie im Untergeschoss des Museums. In diesem postmodernen Raumgefüge ohne Tageslicht kommen die Arbeiten De Boers aufs Beste zur Geltung, dafür war kräftige Orange auf den Wänden nicht extra notwendig. Vielmehr steht es im Kontrast zu jenen fein austarierten Zwischentönen der Filme und Videos, der Lesung, der Drucke und Installationen.
De Boer arbeitet oft mit anderen zusammen, sie flicht Referenzen in ihre Werke ein, wie etwa zum Werk von Agnes Martin, zur niederländischen Schauspielerin Sylvia Kristel oder dem Bürgerrechtsaktivisten Richard X. Clark. Sie spricht mit der Choreografin und Tänzerin Latifa Laâbissi, filmt vier Teenager und bezieht sich – immer wieder – auf Chantal Akerman. Letzere liest in ‹A Family in Brussels›, 1998 ihren Text über ihren eigenen Familienalltag in Brüssel. Das zweistündige Hörstück ist ein individueller Bericht, der zugleich auf einer übergeordneten Ebene funktioniert: Akerman porträtiert menschliches Zusammenleben. Damit fügt sich ihre Arbeit aufs Beste in die Polyphonie der Ausstellung Manon De Boers ein: ‹Che Bella Voce› transportiert eine Vielstimmigkeit, die sich einerseits in übertragenem Sinne als ein Neben- und Miteinander von Haltungen und Gedanken lesen lässt und sich andererseits wörtlich verstanden in facettenreichen Klängen äussert. Dazu gehören auch die Geräusche der Natur als Resonanzraum für menschliches Denken und Sein. Ob Mensch oder Landschaft: Manon De Boers Werk überzeugt durch ihren präzisen filmischen Blick und ihr aufrichtiges Interesse am Wesen der Dargestellten.

Viermalvier

Drei Künstlerinnen und ein Künstlerduo befassen sich im Kunstmuseum Liechtenstein mit feministischen Anliegen, mit Kolonialgeschichte oder mit der Lebenssituation Schwarzer in den Vereinigten Staaten. Der rote Faden durch die vier räumlich getrennten Positionen ist die Vaduzer Museumssammlung.

C4 ist eine Limousine für die einen und Plastiksprengstoff für die anderen. C(hoch)4 ist die Formel für eine vierteilige Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein. Das C steht dabei für Collection, Crossover, Community und Contamination: Letizia Ragaglia hat für ihre erste Ausstellung als Direktorin am Kunstmuseum Liechtenstein weit ausgeholt und doch auch wieder nicht. Sie positioniert sich global und richtet zugleich den Blick auf die eigene Sammlung. Sie wählt Trendwörter, verbunden mit Themen, die eine zeitgenössisch positionierte Institution heute kaum mehr ausblenden kann. Zugleich forderte sie die Künstlerinnen und Künstler auf, ein Werk des Museums auswählen, um es gemeinsam mit ihrer eigenen Arbeit zu zeigen. Diese Ausgangslage hat zu ebenso schlüssigen wie überraschenden Kombinationen geführt. Nazgol Ansarina (1979 in Teheran) etwa präsentiert ihr ‹The Inverted Pool›, 2019-2022, neben ‹Cellule no. 5›, 1992, von Absalon: Hier das nach innen gewendete Haus, das die Kindheitserinnerungen der Künstlerin, aber auch ein aktuelles iranisches Lebensgefühl transportiert. Dort die minimalistische Zelle, die als Wohnklause und als Denkraum konzipiert ist. Die beiden Volumina bestimmen den Ausstellungssaal, der eine als schlanker geöffneter Zylinder, der andere als hermetischer Quader, mit Stahlleiter und somit auf seine Art einladend. Mercedes Azpilicuetas´ (1981 in LaPlata, Argentinien) Werk kreist um Frauen, ihre Initiativen und Netzwerke. Die Künstlerin verwebt es schlüssig mit Objekten der Vorarlbergerin Anne Marie Jehle. Eigens dafür hat sie Podeste entworfen, die von Möbelstücken penetriert werden. Auch die textilen Objekte nehmen einen geistreichen Dialog mit Jehle auf. Diamond Stingily (*1990 in Chicago) hat eines der ältesten Gemälde im Besitz des Museums ausgewählt, ein barockes Blumenstillleben. Es wird zum dekorativen Element im Rahmen ihrer Referenz an den Friseursalon ihrer Mutter. Einerseits würdigt Stingily mit der retrospektiven Werkzusammenstellung familiäre Frauennetzwerke, andererseits verweist sie auf kollektive Erfahrungen Schwarzer in den Vereinigten Staaten. Mit dem Künstlerduo Invernomuto kommen schliesslich die italienische Volkskultur und Italiens Kolonialgeschichte ins Spiel, verknüpft mit Pino Pascalis ‹Ponte levatoio›. Der gemeinsame künstlerische Nenner ist die erzählerische Qualität. Für alle Positionen gilt: Die Impulse funktionieren in beide Richtungen, hin zur Sammlung und von ihr ausgehend.

Ostschweizer Kunstsommer

Ein Pool! Für die einen unverzichtbarer Bestandteil eines guten Sommers. Für die anderen lächerliches Prestigeobjekt mit schlechter Ökobilanz. Hellblau leuchtendes Karree am Sommertag, einladend oder abschreckend, aber in jedem Falle eine Badeanlage mit langer Tradition. Kein Wunder also, dass der Pool auch in Museen auftaucht. Für eine Abkühlung ist Nazgol Ansarinas Pool im Kunstmuseum Liechtenstein zwar nicht geeignet, lohnt aber unbedingt trotzdem einen Besuch. Er gehört zur ersten Ausstellung, die Letizia Ragaglia in ihrer neuen Position als Direktorin des Hauses in Vaduz realisiert hat. Sie zeigt vier Positionen in vier Räumen. Wer den ersten Raum betritt, sieht noch nicht viel vom pooltypischen Himmelblau. Erst wer die Leiter des grossen, weissen Quaders erklommen hat, blickt in die – allerdings trockene – Tiefe.
‹The Inverted Pool› der Iranerin Nazgol Ansarina präsentiert sich als nach innen gewendetes Haus, das die Kindheitserinnerungen der Künstlerin, aber auch ein aktuelles iranisches Lebensgefühl transportiert. Neben dem Pool ist Absalons ‹Cellule no. 5› aus der Museumssammlung zu sehen: eine minimalistische Zelle, die als Wohnklause und als Denkraum konzipiert ist. Sie passt bestens zum Pool und zeugt von der Aufgabe, mit der sich die Künstlerinnen und Künstler im Rahmen von «C(hoch)4» zu befassen hatten: Alle haben je ein Sammlungswerk in Beziehung zu ihrem eigenen Werk gesetzt. Diamond Stingily (*1990 in Chicago) hat eines der ältesten Gemälde im Besitz des Museums ausgewählt, ein barockes Blumenstillleben. Es wird zum dekorativen Element im Rahmen ihrer Referenz an den Friseursalon ihrer Mutter. Mit ihrer Installation würdigt Stingily familiäre Frauennetzwerke und verweist sie auf kollektive Erfahrungen Schwarzer in den Vereinigten Staaten. Die Kombination von Sammlungs- mit Ausstellungswerken sorgt für spannende Impulse in beide Richtungen.
Solche Impulse setzt einmal mehr auch das Zeughaus Teufen. Die Baumeisterfamilie Grubenmann und die Sammlung des Hauses reizt Künstlerinnen und Künstlern seit zehn Jahren zu neuen Gedanken übers Bauen, über die Gestalt des gebauten Raumes und über das Zusammenleben darin. Das gilt auch für die aktuelle Ausstellung. In deren Titel schwingt sogar der Sommer mit: Mit dem Titel «Florilegium» verspricht sie eine Blütenlese und damit ein Wiedersehen mit Künstlerinnen und Künstlern wie Beni Bischof, Regula Engeler, Alex Hanimann, Vera Marke, Christian Ratti, Loredana Sperini und Felix Stickel. Thomas Stüssi beispielsweise baut aus studentischen Modellen von Grubenmannbauten eine neue Struktur. Celine Manz aus Basel hingegen ist zum ersten Mal dabei, sie löst die Konturen im Zeughaus mit roten und blauen Leuchtstoffröhren und farbigen Fensterfolien auf. Das Zeughaus Teufen ist weit davon entfernt, ein White Cube zu sein, aber genau deshalb funktioniert es so gut als Aufforderung an die Künstlerinnen und Künster, ihre Werke in Beziehung zum Haus und zueinander zu setzen. Während Ueli Vogt in Teufen neue und bestehende Netzwerke pflegt, sie in und an seinem Haus weiterwuchern lässt, werden im Kunsthaus Bregenz seit jeher Einzelpositionen gefeiert. In der diesjährigen Sommerausstellung hat Jordan Wolfson seinen grossen Auftritt. Der amerikanische Künstler ist in virtuellen Welten, fiktiven und aktuellen gesellschaftlichen Realitäten unterwegs. In seinen Werken thematisiert er Sexismus, Gewalt, Rassismus und Antisemitismus. Er versteht sich als Beobachter der Welt, indem er jedoch seine Beobachtungen künstlerisch transformiert und ausstellt, teil er sie und sorgt in Bregenz nicht unbedingt für sommerliche Hochstimmung.
Auf andere Weise unbequem wird es im Vögele Kulturzentrum in Pfäffikon. Mit «Der Tod, radikal normal» zeigt die Stiftung eine «Ausstellung über das, was am Ende wichtig ist» und stellt dabei zunächst einmal Fragen: Darf man einen Sarg als Möbel verwenden? Wie sieht das digitale Jenseits aus? Was prägt unseren Umgang mit Trauer und Verlust? Was soll nach dem Tode bleiben von uns? In der Kunst, der Popmusik, der Literatur, in den filmischen Medien oder der journalistischen Berichterstattung ist der Tod omnipräsent. Aber wie lässt sich diese Präsenz im Alltag ertragen und wie, wenn der Tod real und nahe ist? Allgemeingültige Antworten darauf zu geben, versucht das Vögele Kulturzentrum nicht, statt dessen soll ein heterogener Mix aus Alltagsobjekten, Gegenwartskunst, wissenschaftlichen Beiträgen und Kulturgegenständen Denkanstösse geben.
Vielleicht kommt dem einen oder der anderen beim Thema Tod die Familie in den Sinn, wird hier doch der Tod für die meisten Menschen am nächsten erlebt. Familie ist, wie der Tod, ein Bestandteil des Lebens, ist unendlich vielgestaltig, kann ebenso positiv wie negativ belegt sein. Das Fotomuseum Winterthur zeigt Familie aus der fotografischen Perspektive und schafft es zugleich, all die Zwischentöne abzubilden, die bei diesem Thema anklingen. Familie wird nicht als etwas Gegebenes dargestellt, sondern unter dem Titel «Wahlfamilie – Zusammen weniger allein» als soziales und kulturelles Konstrukt behandelt. Zu sehen sind Fotografien so renommierter Künstlerinnen und Künstler wie Nan Goldin, Richard Billingham oder Larry Clark, aber auch persönliche Fotoalben von Menschen aus der Schweiz. Die eigene Familiengeschichte wird in aufwendig arrangierten Szenen oder in Schnappschüssen reflektiert, sie kommt mal als Blutsverwandtschaft daher, mal als selbstgewählte Komplizenschaft.
Um vom kleinen familiären Kosmos zum grossen Ganzen und all den dortigen Herausforderungen zu gelangen, genügt der Wechsel aus dem Fotozentrum ins Kunstmuseum Winterthur: Hier ist die «Welt aus den Fugen». Neun jüngere Künstlerinnen und Künstler befassen sich mit akuten Themen wie Klimawandel, Migration, künstliche Intelligenz. Julian Charrière, Anne Imhof, Pamela Rosenkranz und andere präsentieren keine zweidimensionalen Werke an der Wand, sondern neun raumfüllende Installationen. Das Kunsterlebnis und damit das Erlebnis einer aus den Fugen geratenen Welt ist hier umfassend.
Andere Grenzen werden im Kulturort Galerie Weiertal aufgelöst. Das beginnt bereits mit der Anreise: Mit dem Zug geht es ab Bahnhof Winterthur bis Bahnhof Wülflingen und von dort sind es 30 Minuten Fussweg. Die Stadt wird zurückgelassen, das Land rückt näher, die Natur auch oder zumindest das, was der Mensch aus ihr gemacht hat. Hier treffen sich Waldsaum und Wiesen, Wassergräben und Obstbäume und in einem kleinen Weiler liegt der idyllische Garten der Galerie Weiertal. Hier werden seit langem Sommerausstellungen veranstaltet, die mit künstlerischen Interventionen den Kontakt aufnehmen zur Umgebung, die Kontraste setzen zur Idylle und die thematisch immer wieder Anknüpfungspunkte finden zu ihr. In diesem Jahr lautet das Thema «vonWegen» und spielt mit der Doppeldeutigkeit des Widerspenstigen und der Fusspfade. Der Weg wird bewusst auch als Lebensweg begriffen, als Umweg, Schleichweg und Bewegung: Wie bewegen wir uns? Was passiert unterwegs? Wem begegnen wir? Ist der Weg der richtige? Wohin werden wir kommen, wenn wir weitergehen? Die Kunst findet darauf vielfältige Antworten. Wie bereits in der Vergangenheit sind die Kunstwerke im Garten verteilt, lassen auch den Gartenteich nicht aus, verstecken sich in Schuppen und hinter Bäumen, lenken den Blick vom Garten aus hinaus in die Landschaft und eröffnen besonders in diesem Jahr immer wieder neue Wege. Oder gerade nicht? Stefan Rohner und Birgit Edelmann aus St.Gallen beispielsweise haben eigens für die Ausstellung einen begehbaren Bogen konstruiert. Gleich einer halbrund geschwungenen Brücke steht er im Gras. Doch ganz gleich von welcher Seite her nach oben gegangen wird, am Scheitelpunkt des Bogens geht es nicht einfach weiter: Beide Teile des Weges laufen ins Leere, ein grosser Schritt zur Seite ist notwendig, um nicht abzustürzen und den Hinunterweg antreten zu können. Die Verschiebung gibt vielfältige Denkanstösse und für einmal ist Geradlinigkeit nicht die beste Lösung.
Vom Weiertal zurück nach Winterthur dauert es ungefähr so lange wie von Winterthur nach St.Gallen. Hier hat der Ausstellungssommer viele Stationen und ebensoviele Facetten, in diesem Jahr zusätzlich bereichert durch die Klause in der Mühlenenschlucht. Auch hier ist eine Begegnung mit der Arbeit von Stefan Rohner möglich und eine andere mit derjenigen von Lika Nüssli. Ihre temporären Präsentationen in der Schlucht sind nicht allein: Sie befinden sich in dieser zwar städtischen, aber wildromantischen Umgebung in guter Nachbarschaft von permanent installierter Kunst.
Wer es urbaner mag, wird in diesem Jahr anderswo fündig: Gleich drei Grossausstellungen locken das kunstinteressierte Publikum. Die Documenta in Kassel ist die fünfzehnte und stiess bereits im Vorfeld eine breit geführte Kulturdebatte an. Die vierzehnte Ausgabe der europäischen Wanderbiennale Manifesta ist in diesem Jahr in Prishtina zu Gast und führt somit auf unausgetretene Kunstpfade. Die etablierteste aller Biennalen in Venedig findet neu ebenfalls in den geraden Jahren statt, der Rhythmuswechsel ist pandemiebedingt. Aber es müssen nicht immer die international bekannten Grossanlässe sein, die eine Reise lohnen.
Das Bergell hat ebenfalls eine Biennale, auch sie ist international besetzt, auch sie punktet mit hochkarätigen Werken, die obendrein alle für den Ort, das Tal entstanden sind. Vicosoprano ist in diesem Jahr der Hauptaustragungsort. Thematisiert wird dort die Verbindung der Dörfer durch die Geographie des Tales, durch die Naturgewalten und die sozialhistorischen Entwicklungen. Prägend sind beispielsweise die Handelsroute in den Süden, die Passstrasse und die Albigna-Staumauer, die Reformation oder die Hexenprozesse. Das sind hervorragende Ausgangspunkte für künstlerische Auseinandersetzungen. Julian Charrière beispielsweise durchsuchte Archive nach Filmausschnitten, die das Fällen und Fallen von Bäumen zeigen. Aus unzähligen Aufnahmen montierte er eine Chronologie des Fällens: Keile werden in die Stämme geschlagen. Die Stämme reissen langsam auf bis die Bäume schliesslich zu Boden krachen. Einmal mehr findet der Künstler eindringliche Bilder für den Umgang des Menschen mit den sich erschöpfenden Ressourcen der Natur. Lena Maria Thüring verbindet in ihrer multisensorischen Arbeit ihre Recherchen zur gesellschaftlichen Stellung von Frauen heute und den Bergeller Hexenprozessen des 16. bis 18. Jahrhunderts. Duft, Video und Ton verweben sich in einer dichten Installation im Ausstellungsraum. Nevin Aladağ arbeitet im Aussenraum: Sie beleuchtet den Fluss Maira und zeigt damit seine Bedeutung für das Dorf und für das Bergell. Er ist dank der Wasserkraft Teil der Wirtschaft des Bergell, besitzt aber zugleich eine grosse zerstörerische Kraft. Der Ostschweizer Christian Hörler lenkt den Blick auf die in alter Handwerkstechnik gebauten Trockenmauern. Der Künstler mauerte selbst einen Quader ohne den Einsatz von Mörtel. Zwei andere mit ostschweizer Bezug sind Jiajia Zhang und Jiří Makovec. Sie haben in der Landschaft natürliche und von Menschenhand gemachte Zeichen fotografisch gesammelt. Die faszinierenden, oft surrealen Momente werden auch als Postkartenserie veröffentlicht. Werden die Postkarten vom Bergell aus versendet, reist auch das Kunstwerk durch Welt und Zeit. Es breitet sich aus und belebt obendrein die schöne alte Kulturtechnik des Postkartenschreibens. Also auf ins Bergell und den Stift nicht vergessen!

Zweckbauten neu definiert

Ilona Ruegg transformiert für eine Ausstellung in der Kunsthalle Arbon Mobiliar aus ihrem eigenen Atelier. Die Installationen passen so perfekt in den rohen Industriebau wie die Fotos aus der Arbeitswelt des Teilchenphysikers James Beacham.

Bauten sind statisch, Bauten stehen, Bauten haben Bodenhaftung. Sie unterliegen physikalischen Gesetzmässigkeiten, sie folgen im Normalfall einer konstruktiven und einer Materiallogik. Ilona Ruegg, 1949 in Rapperswil geboren, unterwandert die Logik des Bauens. In der Kunsthalle Arbon installiert sie Anomalie und Lager: zwei Raumelemente, die sich mit Fragen des Bauens, des Zwecks, des Nutzens und der Ästhetik auseinandersetzen.

Die Konstruktion Lager mutet standfest an. Dafür sorgen vier stabile Vierkantstreben, zwei verbindende Plattformen und ein zusätzlicher Quader an einer der beiden Stirnseiten. Aber die Konstruktion steht nicht, sie hängt an Spanngurten vom Hallendach herab. Sie schwebt knapp einen halben Meter über dem Boden, genau an einer Stelle, an dem im Beton ein Viereck ausgespart und mit Holzbrettern ausgestattet ist.

Damit lenkt die Künstlerin zunächst den Blick auf den Ausstellungsraum, auf die unsanierte Industriehalle, die ganz ihrem Zweck unterworfen war, der nun aber nicht mehr ersichtlich ist. Wodurch sind die Unebenheiten im Boden entstanden? Was verbirgt sich unter den Holzbrettern? Hing ursprünglich etwas in der Halle? Was spielte sich unter den massiven T-Trägern ab?

Umnutzung mit doppeltem Wert

Dass Kultur einzieht, wo früher produziert wurde, ist längst keine Seltenheit mehr. Mit dieser Umwidmung stillgelegter Industriehallen wird oft mehr gewonnen als ein Raum: Die zweckorientierte Ästhetik der Bauten, ihre produktive Atmosphäre liefert wertvolle Anknüpfungspunkte für künstlerische Auseinandersetzungen.

So setzt Ilona Ruegg ihre Arbeit in einen deutlichen Kontrast zum grossen Raumvolumen der Halle, zu den gealterten Strukturen und den rein durch den Nutzen bestimmten Farben. Zusätzlich zur ungewöhnlichen, hängenden Position hat sie den stirnseitigen Quader von Lager ebenso mit Alufolie überzogen wie Teile von Anomalie.

Bei letztgenannten Werk sind einzelne Bauteile zusätzlich mit einer Tarnbeschichtung überzogen. Ausserdem fügen sich Fenster auf Kniehöhe, eine erratische Dachschräge und ohne Zweckbestimmung bereitgelegte Platten zu einem vielgestaltigen Raum. Eine Säule der Halle wurde auf selbstverständliche Weise integriert und lässt sich als Verweisstück auf die Architekturgeschichte lesen.

Ilona Ruegg antwortet nicht mit frei erfundenen Konstruktionen auf die starke Ausstrahlung der Halle. Beide entstammen ihrem Atelier: Lager diente früher als Hochbett, der Quader im Unterbau als Schrank. Anomalie besteht aus einem Hochsitz, der 2017 bei der Biennale im Kulturort Weiertal zu sehen war, sowie aus einer Arbeitsplattform, ebenfalls aus dem kürzlich verlassenen Zürcher Atelier der Künstlerin.

Ilona Ruegg war bereits an vielen Orten tätig; diesem nomadischen Arbeiten entsprechen die gezeigten Holzkonstruktionen. Sie sind mobil, sie sind leicht, sie besitzen provisorischen Charakter und bilden auch mit diesen Eigenschaften einen Kontrast zu den massiven Strukturen der Halle. Ebenso wie jene sind sie aufs Arbeiten ausgerichtet und doch von einem vollständig anderen Anspruch an den gebauten Raum getragen.

Baustellen und Kabelgewimmel

Mit Arbeitswelten und deren Ästhetik setzt sich auch James Beacham auseinander. Ilona Ruegg steht seit längerem mit dem 1977 geborenen Filmemacher und am CERN tätigen Teilchenphysiker im Austausch. Mit seinem Ausstellungsbeitrag «Nothing Was Always There» verbindet er Landschafts- und Stadtbilder aus der Schweiz, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Estland zu einer Collage. Aufnahmen von Fabrikhallen, Baustellen, Industriezonen werden mit Nahaufnahmen von Bodenstrukturen, Kabelgewimmel, technischen Anlagen oder Abflussrohren kombiniert.

Mal rückt die Ästhetik eines funktionellen Rasters in den Blick, mal die Tristesse der Produktionsstandorte. Bau- und Arbeitswelten kommen damit in der Ausstellung nochmals auf andere Weise, aber ebenso schlüssig zusammen.

Ohne geht es nicht

Schlitzwände und Koffein – beides braucht es für das Kunsthaus Bregenz. Davon ist in den Ausstellungssälen normalweise nichts zu sehen. Dora Budor ändert das. Die in New York lebende Kroatin holt ans Licht, was sonst im Hintergrund bleibt.

Bregenz — Sandpapier, dunkelgrau, anthrazitfarben; darauf mit weiss: Linien, zu Knäueln geballt, zu unentwirrbaren Netzen verwoben, dann wieder ausfasernd in zarten Strichen, gekritzelt und gezeichnet. Das pulvrige Zeichenmaterial ist am Sandpapier haften geblieben, hat Spuren hinterlassen, mitunter haben sich kleine Brocken gelöst. Dora Budor (*1984) zeigt ‹Love Streams›, 2022 im obersten Stockwerk des Kunsthaus Bregenz. Die ein Dutzend gerahmten Sandpapierblätter sind in der Ausstellungsgeschichte des Hauses eine vergleichsweise kleine Arbeit und doch eine der eindrucksvollsten und persönlichsten. Dora Budors Zeichenmaterial ist Escitalopram. Das Medikament erhielt die Künstlerin zur Behandlung einer depressiven Erkrankung und einer Angststörung. Indem sie gegen den physischen Widerstand des Sandpapiers anzeichnet, drückt sie expressive, fragile und dichte Spuren ihrer Krankheit einerseits aus und das Aufbegehren gegen die damit einhergehenden Zwänge andererseits. Die Intensität von ‹Love Streams› steigert sich noch durch den Sound im Ausstellungsraum. Der, so wird im Saaltext informiert, stammt von ferngesteuertem Sexspielzeug, das unter dem Titel ‹Termites›, 2022 im Belüftungssystem des Hauses platziert ist – unsichtbar zwar, aber nicht weniger präsent: Die erzeugten Vibrationen dringen als dumpfes Wummern in den Ausstellungsraum und verbinden sich eindringlich mit den dort gezeigten Werken. Zugleich stehen auch sie für Dora Budors Hauptthema in Bregenz: Die Künstlerin holt Vorgänge aus dem Verborgenen ins Licht. Sie zeigt Abläufe und Strukturen, die im Hintergrund funktionieren oder zum Funktionieren notwendig sind, aber kaum je öffentlich bekannt oder sichtbar werden. Das gilt auch für die Schlitzwände des Kunsthaus Bregenz. Sie ziehen sich ums gesamte Fundament und verhindern, dass sich die Statik der angrenzenden Gebäude verändert und bieten Platz für die Pumpen gegen einsickerndes Grundwasser. Dora Budor hat Abdrücke dieser Schlitzwände genommen und zeigt mit der mehrteiligen Arbeit ‹Kollektorgang› diese Negativformen. Und sie hat den Kaffeesatz, der sich in Verwaltung und Café angesammelt hat, zu Pucks pressen lassen. 300 dieser Scheiben liegen auf dem spiegelblanken Boden im zweiten Obergeschoss. Kaffee als Aufputschmittel: Einmal mehr zeigt Budor, was notwendig sein kann für den Betrieb komplexer Systeme – zu denen Gebäude und Institutionen ebenso gehören wie der menschliche Körper.

Zehn in Appenzell

Appenzell — Anspielungsreich, hintergründig und etwas sperrig – der Ausstellungstitel «R.A.W. or the sirens of Titan» hat es in sich. Basierend auf Kurt Vonneguts Anti-Kriegs-Roman «Die Sirenen des Titan», erschienen 1959 in New York, kündet er von Krieg und Pazifismus, von Antike und Kosmos, von Weiblichem und Männlichem. Was kaum unter einen Hut zu bringen scheint, vereint Roland Scotti unter den Dächern zweier Häuser. Der scheidende Kurator und Museumsdirektor zeigt im Kunstmuseum Appenzell und in der Kunsthalle Ziegelhütte zehn Positionen als Gegenwelten zum Hiesigen, zum Irdischen, zum Kriegerischen. Zehn Künstlerinnen antworten mit ihrem Werk auf den Schriftsteller, auf den Kurator und überhaupt auf drängende Fragen in der heutigen Welt. Entstanden ist keine Gruppenausstellung mit Dialogen zwischen den einzelnen Werken, sondern eine Versammlung persönlicher Thesen, jede für sich in einem Raum. Den Auftakt gestaltet die in London lebende Suzanne Treister (1959), die Forscherinnen und Forscher des Genfer CERN um ihre Zeichnungen zu «ausserirdischem Leben» bat. Damit treffen alte Kulturtechnik und wissenschaftlicher Erkenntnisdrang, Imagination und Realität aufeinander. Auch Valérie Favre zieht es ins All hinaus. Die in Berlin und Neuchâtel lebende Malerin lässt Geistesgrössen in kleinen Nachen durch die Sternennacht gleiten. Während diese beiden Künstlerinnen detailreiche Bildwelten liefern, arbeiten andere im dreidimensionalen Bereich mit konkreten Gegenständen oder vorhandenen Gegebenheiten. Die St.Gallerin Asi Föcker (1974) inszeniert mit Spiegeln, Ventilatoren und einer ausgetüftelten Konstruktion das Licht. Prismenartig bricht es sich im Ausstellungsraum und geht eine Symbiose mit der kristallinen Architektur von Annette Gigon und Mike Guyer ein. Roswita Gobbo (1989) aus Rorschach stellt eine simple Holzbank in ihr fensterloses Kabinett und räumt jenen Eindrücken Platz ein, die sich erst bei genügend Zeit und Muse einstellen. Die Vaduzerin Martina Morger (1989) hat vor dem Haus eine Ausgrabungsstätte eröffnet und zeigt im Museum kleine gefundene Artefakte: Geschichte findet nicht nur in grossen Zeiträumen statt, sondern auch auf wenigen Quadratmetern; und mitunter kann ein Ohrring genausoviel erzählen wie ein ganzes Buch, wenn er nur genügend Aufmerksamkeit erhält. So zeigt es die gesamte Ausstellung: Nicht unbedingt die Lautesten liefern die hörenswertesten Kommentare zu den grossen Themen.

Das Unbewusste ist des Pudels Kern

Stefan Inauen hat die Seite gewechselt, zumindest teilweise. Der Künstler hat eine Ausstellung kuratiert. In einer sehr persönlichen Auswahl präsentiert er Kraftvolles in kleinen Räumen.

Schösse der Fussball aus dem Trichter, träfe er einen halben Meter weiter auf die Zimmerdecke und prallte zurück in den Trichter. Oder nicht? Roman Signer hat den Ball im Stahlrichter versenkt, Stefan Inauen hat den Trichter im ehemaligen Restaurant Eintracht platziert. Alles weitere bleibt offen. Signers Arbeit wartet mit unheimlich grosser Energie auf, potentieller Energie, deren Kraft unterstrichen wird, indem der Raum ansonsten kahl und leer bleibt. Umso mehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf den nicht sehr grossen Abstand zwischen Trichterrand und Zimmerdecke. Was wäre wenn?
Raum für Spekulation, für eigene Gedanken, für einen direkten, unmittelbaren Dialog mit der Kunst: Das funktioniert in «Night Collection» in jedem Raum aufs Neue. Stefan Inauen zeigt diese nächtliche Sammlung im ehemaligen Restaurant Eintracht in Appenzell, das freilich seit fast 25 Jahren nicht mehr als solches betrieben wird. Zwar ist das verwinkelte Haus mit den typischen niedrigen Deckenhöhen nicht der Anlass für die Ausstellung, aber der passende Ort. Im Erdgeschoss haben Michael Bodenmann und Barbara Signer zum vierten Mal ihre Bar «el gato muerto» aufgebaut. Noch nie war dafür so wenig Platz wie hier; denn selbst wenn der Grundriss gleich bleibt, wirkt die niedrige Deckenhöhe als Verdichter. Schon deshalb ist beim neuerlichen Baraufbau ist also keine Langeweile aufgekommen. Ausserdem wurden Flyer durch Fotos ersetzt, Manch Altes ist geblieben, Neues hinzugekommen. Geschichten schreiben sich so fast von selber ein, auch die Atmosphäre wird mühelos durch die Zeit transportiert. Dieses Zusammenspiel ist es auch, das die kleine, aber reich ausgestattete Bar zu einem wichtigen Stück der «Night Collection» macht.
Stefan Inauen trägt das Thema schon länger mit sich herum: Wo zeigt sich das Unbewusste in der Kunst? Wann ist der Draht zu sich am unmittelbarsten? Wie äussern sich die unverfälschten kreativen Momente auf der Leinwand, in der Plastik und im Film? Die Nacht im Ausstellungstitel ist dabei nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, sondern als Verweis auf jene Zeit, in der das kritische Ich keinen Zugriff auf das Unbewusste hat, in der das begriffliche, logische Denken einem anderen, unbeeinflussten Strom des Denkens weicht. In Schlaf und Traum ist das Bewusstsein zurückgedrängt, hier bricht sich Bahn, was sonst nur kanalisiert zutage tritt. Dieser besondere Zustand ist für Künstlerinnen und Künstler schon länger interessant. So versuchten etwa die Surrealisten das Bewusstsein abzuschalten oder zumindest im Rausch auszublenden. Schlaf und Traum sollten in einen ungesteuerten, unzensierten Schaffensprozess übergehen.
Gar nicht so leicht und auch nicht unbedingt mit den surrealistischen Methoden zu erreichen. Stefan Inauen setzt deshalb auf etwas ganz Anderes. Seine Auswahl zeigt Werke, die eine grosse künstlerische Energie transportieren, die unverfälscht und autonom daherkommen und daher sehr direkt wirken. So schielt die hier gezeigte Malerei von Vittorio Brodmann, Armen Eloyan oder die von Inauen selbst nicht auf Aussenwirkung oder Verkaufserfolge. Sie kommt roh und wild daher, auf kleinen Kartonstücken und grossen Leinwänden, gegenständlich oder als pure Lust an der Malerei. Ebenso unverblümt und sogar untransportabel steht Armen Eloyans Pool aus ungebrannten Tonziegeln auf den alten Dielen. Hier im Eintracht ist er am richtigen Ort. Immer wieder gehen die Arbeiten eine ästhetische Symbiose ein mit der Farbe der Wände, dem besonderen Licht der kleinen Räume, ihren Dimensionen oder ihren Alterserscheinungen. Bodenmanns kleine Zeichnungsserie liest sich plötzlich wie ein Kommentar auf die Grundrisse, Barbara Signers Frauenfigur im Video «Golden Cage» hockt genau richtig unter dem Dachspitz und der verrostete Pudel von Fabian Marti kommt zwischen Tür und Fenster genau richtig zur Geltung. Mit eiserner Hand wurde das Tier gepackt, was hat es nur angestellt? War es genauso eigensinnig, unangepasst wie es dieses Ausstellungsprojekt ist? Letzterem jedenfalls ist kein Rauswurf zu wünschen, sondern eine Fortsetzung.

So ein Käse!

Käsen ohne Sensoren und andere technische Hilfsmittel? Das funktioniert auch heute noch. Sepp Schmid käst in der Alphütte im Appenzeller Volkskundemuseum Stein. Hier ist fast alles so, wie er es als Schulbub auf der Alp beim Käsen kennengelernt hat, abgesehen vom Thermometer und den Gästen. Das erstgenannte hat es früher nicht gebraucht: «Die Sennen hatten Routine. Auf der Alp haben sie nach Gefühl gearbeitet – aber sie haben auch jeden Tag gekäst.» Sepp Schmid hingegen käst als Pensionierter nur etwa zwanzig Mal pro Jahr im Museum. Der gelernte Koch kann dabei an die frühen Erfahrungen auf der Alp anknüpfen. Bei der Arbeit vor und mit Gästen hingegen hilft ihm die Berufsvergangenheit: «Wenn Leute zuschauen, ist das kein Problem für mich, ich habe als Koch auch als Kursleiter und Prüfungsexperte in der Ausbildung gearbeitet.» Auch ein Haus weiter wird den Käsern auf die Finger geguckt, wenngleich durch grosse Fenster: In der Appenzeller Schaukäserei in Stein braucht es die Käser und ihre Handwerkskunst trotz moderner Technik. Dabei ist es gar nicht so leicht, welche zu finden, erklärt Geschäftsführer Ralph Böse: «Die heutige Ausbildung zum/r Milchtechnologen/in EFZ ist eine extrem breit gefächerte Ausbildung. Hier in der Käserei ist die Arbeit jedoch etwas einseitiger als in Betrieben, die auch viele weitere Milchprodukte produzieren.» Die Appenzeller Schaukäserei ist besonders. Das liegt nicht allein am Geheimnis – Appenzeller® Käse! –, sondern auch am Auftrag: «Die Schaukäserei ist Partnerin von Switzerland Cheese Marketing und die Leistungsvereinbarung zur Bewerbung von Schweizer Käse regelt den Betrieb mit Shop, Schaubereich und Gastronomie. Der Schaubereich muss ein informatives Erlebnis bieten und die Gastronomie ganztags warme Küche. Das eigene Produkt und weitere Schweizer Käse müssen erhältlich sein. Und dies an 364 Tagen im Jahr. Schliesstag ist einzig der erste Weihnachtsfeiertag.» Das sind einige Herausforderungen in einem dezentralen Ort wie Stein – dafür spiegelt der Standort eindeutig die Struktur des Appenzellerlandes. Zudem hat sich die Freizeitkultur verändert. In den 1970ern wurde die Idee der Schaukäserei geboren, um die Milchwirtschaft wieder mehr ins Bewusstsein der Konsumentinnen und Konsumenten zu rücken und zu zeigen, dass die Milch eben nicht einfach aus dem Tetrapak kommt sondern auch hochwertige Produkte daraus hergestellt werden. Die Strategie hatte Erfolg. In den 1980er Jahren war die Schaukäserei ein beliebtes Ausflugsziel für Städterinnen und Städter. Inzwischen gibt es aber viel und starke Konkurrenz im Freizeitgeschäft und das potentielle Publikum ist mobiler. Ralph Böse und sein Team müssen sich also immer wieder etwas einfallen lassen. Der Rundgang ist zum Erlebnis für alle Sinne geworden, im Restaurant ist ein Panoramafenster direkt zur Küche angedacht und im Shop gibt es mehr als Appenzeller Käse: Böse schwärmt von den hauseigenen «Frisch-Fix-Fertig-Fondues» und und baut als Ergänzung zum hauseigenen Appenzeller das Sortiment an Weichkäse und Spezialkäse wie beispielsweise Gin-Käse aus Urnäsch weiter aus. Letzteren hat sich Paul Koller ausgedacht. Der Betriebsleiter der Käserei Urnäsch probiert gerne Neues aus, schliesslich ist er nicht an eine Sortenorganisation gebunden. Urnäscher Käse gibt es deshalb nicht nur mit Gin, sondern auch in einer Gouda-Version, als Tannenchäs oder – der Beliebteste – als Hornkuhkäse. Aber Melanie Bischof, Marketing- und Verkaufsleiterin verrät: «Eigentlich ist jeder unserer Käse ein Hornkuhkäse.» Genauso wie die Milch eines jeden Urnäscher Käses zu 100% von Urnäscher und Hundwiler Kühen stammt. Im Ort produziert, im Ort verarbeitet – das ist gelebte Nachhaltigkeit. Die Wege hin zum Käse sind kurz, die Wege zu den Kundinnen und Kunden länger: Bestellungen kommen aus der ganzen Schweiz, aus Deutschland und Österreich. Als Glücksfall hat sich die Nähe zum Urnäscher Reka-Dorf erwiesen, so Melanie Bischof: «Die Gäste aus der ganzen Schweiz schätzen unseren Käse und sie kaufen gerne am Produktionsstandort. Wir könnten auch einen 24-Stunden-Automaten aufstellen, aber da ginge der Kontakt verloren.» Denn die ausgezeichnete Beratung gehört dazu: Soll es ein milder, ein würziger, ein rezenter Käse sein? Ein Halbhartkäse oder ein Hartkäse? Welcher eignet sich als Dessertkäse? Martina Koller, die Leiterin des Chäslädelis der Urnäscher Käserei hat für jeden Anlass und für jeden Geschmack etwas Gutes parat. Gibt es auch etwas, dass nicht geht? Melanie Bischof überlegt kurz: «Beim Konsum ist alles erlaubt, die einzige Ausnahme: Beim Raclettekäse die Rinde abzuschneiden, das macht man nicht.»

«Obacht Kultur» N° 42, 2022/1