Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Künstlerische Innovationen – TaDa-Residents erfinden Textiles neu

Einst war die Textilindustrie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Ostschweiz. Noch im frühen 20. Jahrhundert war Spitze aus St.Gallen das wichtigste Schweizer Exportgut. Die danach folgende Wirtschaftskrise ist noch immer im regionalen Bewusstsein verankert, aber dank Qualität und Innovationsgeist behaupten sich einige Ostschweizer Textilunternehmen auch heute im globalen Markt. Hier setzt TaDa an. Das Residenzprogramm bringt Künstlerinnen, Künstler und Personen aus verwandten Kreativbereichen mit Firmen zusammen und sorgt für wertvolle Impulse auf beiden Seiten.

Arbon — Ein Teppich ist ein Teppich, ein Küchentuch ein Küchentuch und Karkassen sind nicht zum Anziehen da, sondern um Autoreifen zu stabilisieren. Kommt die Kunst ins Spiel oder zeitgenössisches Textildesign, ist plötzlich alles ganz anders. Benjamin Mengistu Navet beispielsweise seziert maschinell gefertigtes Gewebe, indem er gezielt Fäden aus Tuchbahnen entfernt. Das entstandene Textilgerippe mit dem losem Fadenmaterial entpuppt sich als eigenständiger fragiler Stoff. Sein Ausgangsmaterial hat der belgische Modedesigner mit äthiopischen Wurzeln in einer Gastro- und Heimtextilienweberei in Bütschwil im Toggenburg gefunden – als Resident von TaDa. Hinter dem schwungvollen Namen verbirgt sich die Textile and Design Alliance. Als Kulturförderprogramm vor drei Jahren gestartet will TaDa die traditionsreiche Ostschweizer Textil- und Designkultur um künstlerische Auseinandersetzungen bereichern. Insgesamt dreizehn Unternehmen und Institutionen stellen für das Programm ihre Technologie, ihr Wissen, ihre Infrastruktur zur Verfügung, oder wie es Programmleiterin Marianne Burki kurz und bündig zusammenfasst: «Zeit, Personal, Maschinen, Material.» Es ist ein Austausch auf Augenhöhe. Benjamin Mengistu Navet betont: «Die Unternehmen sprechen von Produkten, aber die Kunst liefert eine neue Qualität: Es ist wichtig, die Diskussion zwischen Industrie, Handwerk und Kunst zu führen. Ich arbeite mit hier mit fünf Unternehmen zusammen und wir kreieren einen Dialog.»

Auswahl und Organisation

Jährlich sechs bis acht Kreative aus den Bereichen Kunst, Design, Architektur, Literatur oder den Bereichen der performative Künste können für jeweils drei Monate diese ergiebigen Schnittstellen zur Industrie, aber auch zu Institutionen wie dem Sitterwerk und dem St.Galler Textilmuseum nutzen. Bei Marianne Burki laufen die Fäden zusammen: «Wir bieten den Residents ein Netzwerk an, verbinden sie möglichst optimal mit den Unternehmen und ermöglichen Kontakte ins Design- und Kunstumfeld.»
Drei Monate sind keine allzulange Zeit, wenn es darum geht, innovative Projekte umzusetzen und neben der praktisch-künstlerischen Arbeit auch zu forschen. Um so wichtiger ist eine gute Organisation: Die Gäste bekommen eine Tour durch alle dreizehn Firmen, sie erhalten eine zehntägige Einführung, danach werden die eingegebenen Projekte revidiert. Genauso wichtig ist die Auslese im Vorfeld. Das Bewerbungsverfahren ist aufwendig und durchdacht: «Wir schreiben das Stipendium aus und ein achtköpfiges Kuratorium entscheidet. Beteiligt sind Personen aus der Wirtschaft, Künstler und Künstlerinnen, die Kulturförderer des Kantons und Personen aus dem Textilbereich. Die Bewerberinnen und Bewerber müssen nicht zwingend Erfahrungen im Textilbereich aufweisen, aber sie müssen begründen, warum sie für ihr aktuelles Projekt diesen Zugang benötigen und wie sie ihn fruchtbar machen wollen: Wir wünschen uns Personen, die das Maximum aus der Situation herausziehen können.»

Hochqualifizierte Bewerberinnen und Bewerber

Im ersten Jahr gab es 300 Bewerbungen, dann wurden die Eingabemodalitäten etwas konkretisiert uns es gab im zweiten Jahr 150 Bewerbungen für sechs Plätze auf hohem Niveau: «Es bewerben sich sehr qualifizierte Leute.» Zu diesen gehörten 2021 neben Benjamin Mengistu Navet beispielsweise der in Zürich und Riga ansässige Tobias Kaspar, der die Ergebnisse seines Atelieraufenthaltes in «INFORMATION (Today)» 2021 in der Kunsthalle Basel einfliessen lassen konnte, oder Andrea Winkler, die sich insbesondere für hochfunktionelle Textilien aus den Bereichen Sport, Arbeit, Schutz, Medizin und Technik interessiert. Sie hat Visuelle Kommunikation in Hamburg und Fine Art Media in London studiert und transferiert Industriegewebe in Kleidung. Ob Ellbogenschoner oder Karkassen oder Neopren – alles kann auch angezogen werden: «Ich arbeite ohne Schnittmuster und stelle mir bei der Arbeit kein Kleidungsstück vor, sondern eine Person.» Aus dem Modellieren der Materialien entstehen Textilobjekte, die zunächst wenig an tragbare Textilien erinnern, aber eine zusätzliche Funktion übernehmen: «Durch die wehrhafte Form können sich Menschen wappnen.»

Schnittstellen zu Industrie und Produktion

Winklers Jacken mit ihren Polstern, ihrer Asymmetrie und ihren Materialien muten ungewöhnlich an, funktionieren aber durchaus als Kleidung. Dank solcher Experimente werden die Grenzen zwischen Kunst, Angewandter Kunst und Handwerk fliessend. Birgt die Nähe zu Mode oder Produkt ein Risiko? Edit Oderbolz verneint. Die Basler Künstlerin hat ihren Atelieraufenthalt gemeinsam mit Laura Deschl, die in Holland und Deutschland arbeitet, und dem in Nigeria geborenen Olaniyi Rasheed Akindiya vor wenigen Wochen angetreten und sieht einen grossen Gewinn in der Nähe zu den produzierenden Unternehmen: «Wir können Erfahrungen und Wissen austauschen.» Und zwar auf Augenhöhe, wie auch Marianne Burki betont, denn die Residents sind hochqualifiziert und liefern den Unternehmen wertvolle Anregungen, die Dinge anders und neu zu denken: «Für uns ist es kein Thema, ob ein Projekt aus der angewandten Kunst stammt oder ob der Status Bildende Kunst ist. Hier arbeiten Kreative und es gibt keine Hierarchien. Viel wichtiger ist die Frage, wie wir der Gesellschaft nützlich sein können. Die Objekte können zwar Produkte sein, aber wir fördern nicht das Geschäft, sondern das Experiment. So müssen sich die Residents an diesem Punkt ihrer Arbeit noch nicht dem Markt beugen.»

Gebrauchsobjekte anders interpretiert
Edit Oderbolz beispielsweise befasst sich aus künstlerischer Sicht mit einem Gebrauchsgegenstand: «Der Vorhang ist ein Objekt, das zwar räumlich, aber auf einer Linie funktioniert. Er ist eine dünne, unterteilende Membran: privat – öffentlich, innen – aussen. Diese Einteilungen können umgedreht werden, die Frage ist, was geschützt werden soll.» Oderbolz versucht, die Attribute von Vorhängen neu zu denken, zu strapazieren und zu erweitern. Ihre Forschungsergebnisse werden bald öffentlich zugänglich sein, denn «TaDa bietet keinen Atelieraufenthalt zum Zurückziehen. Wir erwarten dass die Künstlerinnen und Künstler über ihre Arbeit öffentlich reden.», so Marianne Burki. Regelmässig finden die TaDa-Talks statt im Textilmuseum, es werden Besuche am Atelierstandort in Arbon angeboten sowie Performances und Präsentationen. Die drei Monate in der Ostschweiz sind also nicht nur sehr kurz, sondern auch sehr intensiv. Mitunter werden Projekte auch über die Residenz hinaus gezogen, wenn alle einverstanden sind: «Dies ist immer eine Ressourcenfrage und muss ausgehandelt werden.» Nun steht aber erst einmal der nächste Schritt für TaDa selbst an, wie Marianne Burki berichtet: «Die Absichtserklärung der Kantone liegt vor, den Pilot ab 2023 in die Übergangsphase zu begleiten. Wir können positiv in die Zukunft schauen.»

Baustoff im Schaukasten

Farben knallen, Muster wirbeln, auf oben und unten kommt es längst nicht mehr an. Wo andere sich noch an Malereitraditionen abarbeiten oder Neubewertungen versuchen, hat Andreas Slominski längst alles hinter sich gelassen und zeigt einen Kessel Buntes im Kunstmuseum St.Gallen.

St. Gallen — Wer denkt schon bei jedem schrankenlosen Bahnübergang an den Heiligen Andreas? Ist das rotweisse Kreuz aus zwei diagonal verlaufenden Balken nur ein universales Gefahrensymbol? Oder steckt in jedem Andreaskreuz noch ein bisschen Martyrium? Wenn Andreas Slominski (*1959) seinem eigenen Vornamen ein Sankt hinzufügt, holt er nicht nur den Apostel ins Bewusstsein, sondern auch die Vieldeutigkeit: Die Dinge sind kaum nur das, wonach sie zunächst aussehen, erst recht nicht mit «St. Andreas Slominski». Der Künstler unterläuft Annahmen und Erwartungen: Die Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen beginnt im oberen Foyer mit grossen, scharf gestellten Fallen – und dies ganz ohne Gefahrenhinweis – danach schliesst eine Bilderausstellung an, die fast klassisch ist, aber eben nur fast.
Slominski ist längst als künstlerischer Fallensteller bekannt. Als «Fallen» können aber nicht nur die ohnehin so deklarierten Installationen und Objekte gelten, sondern auch jene Werke, mit denen er jetzt im gesamten Obergeschoss des Museums präsent ist. Slominskis bevorzugter Bildträger ist weder Holz noch Leinwand, sondern Polystyrol. Der Kunststoff ist kostengünstig und weit verbreitet, grossen Einsatz findet er vor allem als Dämmstoff in der Bauindustrie. Auch Slominski baut damit: Auf rechteckige Platten klebt er weitere Kunststoffteile und konstruiert auf diese Weise Reliefs. Oder er schnitzt: Aus Polystyrol entstehen halbierte Früchte, merkwürdig geformte Handtaschen, eine Schraubzwinge oder ein Sägebock. Das industriell gefertigte Material wird dabei sowohl in der industriellen Einfärbung verwendet oder der Künstler besprüht es mit Acrylfarben in leuchtenden Bonbontönen, mal mit wolkigen Formen mal mit exakten, schablonengeformten Konturen. Die Bilder kokettieren mit der Nähe zum Dekorativen, lassen im Sinne der Gegenständlichkeit Lokalfarbe anklingen oder zitieren Muster und Allover-Effekte. Sie führen nirgendwo hin und überall – Hauptsache schrill.
Besonders schlüssig ist Slominskis Verwirrspiel angesichts Richard Serras «Thelma, is that you? (For Lena Horne)», 1983: Die Walzstahlplatten aus der Museumssammlung lehnen permanent im ersten Raum auf der Südseite des Hauses. Slominski umgibt Serras rostige Platten mit Polystyrolreliefs, die mit Rostfarbe gestrichen sind. So geht das also heute: weniger gewichtig, weniger ewig, weniger erhaben, dafür keck, ironisch und angriffslustig – wider die Bedeutungsschwere, für den Aberwitz.

Mit Mut und Rasierapparat

Manon zieht mit 15 Jahren nach St.Gallen, um die Kunstgewerbeschule zu besuchen. Damit war der erste Schritt in Richtung einer langen künstlerischen Laufbahn getan. Die 1940 in Bern geborene Künstlerin gehörte bereits in den 1970er Jahren zu den wichtigen Figuren im Kunstbetrieb und ist es dank ihrer Themen immer geblieben.

«Beim nächsten Ton ist es fünfzehn Uhr, einundvierzig Minuten und zwanzig Sekunden.» Die Frauenstimme hallt durch den Ausstellungsraum. Alle paar Sekunden erinnert sie an die Vergänglichkeit. Sekunde für Sekunde, Minute für Minute, Stunde für Stunde, Jahr für Jahr. Achtzig ist die Künstlerin Manon vor zwei Jahren geworden. Zeit also für eine gross angelegte, dreiteilige Schau über ein international wichtiges Werk, dessen Aktualität und Bedeutung heute wieder neu zutage tritt. Das Kunsthaus Zofingen, das Centre culturel suisse in Paris konnten ihren Ausstellungsteil noch vor der Pandemie und im vergangenen Jahr zeigen, die Fotostiftung Winterthur holt dies jetzt nach. Sie legt den Schwerpunkt auf Manons fotografisches Werk als bedeutende Position der Schweizer Fotogeschichte. Das ist schlüssig, wenngleich die Ausstellungsfläche der Fotostiftung eine Konzentration auf eine überschaubare Zahl von Werken bedingt, die obendrein räumlich dicht gehängt werden.
«Beim nächsten Ton ist es fünfzehn Uhr, siebenundvierzig Minuten und zwanzig Sekunden.» Der alte Wählscheibenapparat bildet den Auftakt zur Ausstellung, und die automatische Ansagestimme scheppert unerbittlich, immer wieder aufs Neue. Die Zeit rinnt. Auch für Manon. Aber war es wirklich nötig, den Ausstellungstitel so auf die Vergangenheit auszurichten? Nur um auf zwei Werktitel gleichzeitig anspielen zu können? Ja, Manon war einst «La dame au crâne rasé», doch diese Arbeit ist nach wie vor gültig. Genauso wie Manons gesamtes Oeuvre. Sie hat bereits über soziale Konditionierung von Identität nachgedacht als dies noch nicht ein breit vorgetragenes Anliegen war. Sie hat Geschlechterrollen thematisiert in einer Zeit als die Gesellschaft noch viel stärker patriarchal geprägt war. Sie hat sich selbst dieser Gesellschaft ausgesetzt, hat ihr Hadern ebenso gezeigt wie ihre Stärke.
Als Manon 1977 nach Paris aufbricht, rasiert sie sich den Kopf. Das war vor über vierzig Jahren eine ungleich radikalere Geste, als heute, da der Buzzcut als Trendfrisur gehandelt wird. Nicht geändert haben sich jedoch die möglichen historischen Bezüge: Frauen, denen man Hexerei nachsagte, wurden die Köpfe rasiert, ebenso wie Französinnen, denen «horizontale Kollaborationen» unterstellt wurden. Es ging darum zu demütigen, Macht auszuüben, die Kraft der Frauen zu brechen. Manon verkehrt die Geste ins Gegenteil. Sie rasiert sich selbst und inszeniert sich für eine 158-teilige Fotoserie. Die Schwarzweissfotografien zeigen eine geheimnisvolle, selbstbewusste Frau, unnahbar und cool.
Der Blick auf sich selbst, die Inszenierung für die Kamera bleiben Konstanten in Manons Werk. Die Fotostiftung zeigt die mehrteilige Werkgruppe «Doppelzimmer», in der sich Manon gemeinsam mit ihrem Partner Sikander von Bhicknapahari zeigt. Wenige Schritte weiter ist «Elektrokardiogramm» zu sehen: Schwarzweisse geometrische Muster dominieren die Rauminstallation. In der dazugehörigen Bildserie posiert die Künstlerin in einer engen Nische, nackt oder angezogen, eingeklemmt, hineingespreizt oder sich herausstemmend. Die Körpersprache ist ein wichtiger Teil der Inszenierung. Ebensowichtig sind die Räume. So verwendet Manon für ihr Langzeitprojekt «Hotel Dolores» – 2017 im «Kulturraum S4» im Kloster Magdenau ausgestellt – heruntergekommene Hotelinterieurs als Kulisse für vieldeutige Arrangements, in denen sie auch selbst auftritt. Vorhänge, hochhackige Lackstiefeletten, alte Gitterbetten, aber auch der Staub und Dreck verbinden sich auf suggestive Weise.
Eine von Manons bekanntesten Serien ist «Einst war sie Miss Rimini». Nur ungefähr zwei Dutzend Blätter sind aus dieser 90-teiligen Folge ausgestellt, doch dies genügt immerhin um die unermessliche Spannbreite und Virtuosität von Manons Maskeraden erahnen zu können. Manon konstruiert die Geschichte einer ehemaligen Schönheitskönigin und entwirft deren 60jähriges Ich. Obdachlos oder reich geworden, mausgrau oder glamourös, krank oder alterslos – Manon kann alles sein und ist doch nichts davon. Das Spiel mit den Identitäten hört nicht auf, die eigene Persönlichkeit ist dafür Folie, aber auch Bedingung.

Analogien, Additionen, Konfrontationen

Birgit Werres transformiert Alltags- und Industrieobjekte mit gekonnten Eingriffen und Platzierungen und arbeitet die ästhetischen Qualitäten der Materialien heraus. In der aktuellen Ausstellung in der Kunstzone der Lokremise St.Gallen nehmen ihre Werke den Dialog mit anderen Arbeiten aus der Sammlung Rolf Ricke auf.

St. Gallen — Der Coup war gelungen: 2006 erwarben das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main, das Kunstmuseum Liechtenstein und das Kunstmuseum St.Gallen gemeinsam die Sammlung Rolf Ricke und begannen auf dieser Basis eine neue kontinuierliche Zusammenarbeit. Die Werke von Bill Bollinger, Gary Kuehn, Steven Parrino und Zeitgenossinnen und -genossen wurden auf die drei Häuser verteilt; gegenseitig besteht ein unkomplizierter und reger Leihverkehr. Dadurch wird die Sammlung immer wieder zur Quelle umfangreicher Themen- oder Einzelausstellungen wie etwa «Primary Structures» 2017 in Frankfurt, «Steven Parrino – Nihilism Is Love» 2020 in Vaduz oder jetzt «Birgit Werres – Let´s play it, Rolf!» in der Lokremise St.Gallen. 

Birgit Werres (*1962) hat die Ausstellung mit Rolf Ricke zusammen konzipiert. Beide haben ältere und jüngste Arbeiten der deutschen Künstlerin solchen verschiedener Sammlungskünstler und einer -künstlerin zur Seite gestellt. Im grossen Raumvolumen sind zwar nicht die angekündigten «raumgreifenden Installationen» entstanden, sondern eher eine lockere Zusammenstellung von Einzelstücken. Doch gerade durch die in alle Richtungen ausbalancierte Präsentation sind vielfältige Bezüge möglich. Beispielsweise Werres´ zu einem einzigen Zylinder gepresste zehn Fässer «o.T., # 42/21» von 2021: Sie sind Einzelwerk attraktiv mit ihren abgeblätterten Industriefarben und den metallenen Falten, die sogar neben den spätgotischen Holzplastiken Veit Stoss´ oder Tilman Riemenschneiders bestehen würden. Formal nehmen sie sowohl einen Dialog auf zu drei Fässern von Jeffrey Wisniewski (*1964), in denen sich letzte analoge Handelsbelege der New Yorker Börse befinden als auch zu «Red Hook», 1970 von Bill Bollinger, das mit vier Stahltonnen, Wasser und drei Schläuchen ein materielles Spannungsfeld aufbaut. Auch farbliche Nachbarschaften fallen mehrfach ins Auge. 

Besonders markant stehen zwei 1´500 Liter Polyaethylen-Tanks im Raum. Birgitt Werres lässt in diesen beiden mannshohen Industrieprodukten ursprünglich «amtlich zugelassen für Heizöl und Dieselkraftstoffe» LEDs leuchten. Zwar prangen noch die Seriennummer und die amtliche Prägung auf diesen beiden Kanistern, aber ihre Dualität und das Licht sorgen für eine Transformation. Letztere ist ein häufiges Moment in Werres´ Arbeiten mit industriellen Materialien und Objekten und könnte sogar noch stärker ausfallen, wäre die Ausstellung nicht im ehemaligen Lokomotivdepot mit seinem Werkhallencharakter gezeigt worden, sondern in musealem Ambiente.

Auf und davon und wieder her

Paris, Toronto, Zürich, Berlin – Toggenburg, Herisau, St.Gallen, Strahlholz: Hans Schweizer war und ist unterwegs zwischen Gegensätzen. Er beobachtet, reflektiert, bringt zu Papier und auf die Leinwand. Das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zeigt Werk das Werk des 1942 geborenen Künstlers in einer gross angelegten Retrospektive.

Dort die Metropolen, hier die Provinz. Dort die grosse Welt, hier die Hügel, die Nähe, das Bekannte. Dort die Urbanität, hier der Überblick. Und dazwischen: Züge, Flugzeuge, Helikopter, Autos, Busse. Reisen heisst fahren oder fliegen, manchmal auch gehen; zu zweit und durch den Schnee. Oder in Gruppen auf dem Asphalt; den Koffer in der Hand; die Schuhe geschnürt. Insignien des Weiterziehens – immer wieder tauchen sie in Hans Schweizers Kunst auf.

Es beginnt mit den Turnschuhen. Fast schon liebevoll porträtiert sie der Künstler in den 1970er Jahren, zeichnet die Schnürsenkel, das Dekor, die Fasson der Treter. Die Schuhe haben Charakter. 

Aber auch ein Telefon kann starke Präsenz entfalten, wenn es von Hans Schweizer zu Papier gebracht wird. Gleich mehrmals ist es auf frühen Werken zu sehen. Inspiriert ist es von Walter De Marias Telefon in der ikonischen Berner Ausstellung «When Attitudes Become Form» von 1968. Dort hiess es, wenn der schwarze Apparat klingle, könne es sein, dass der Künstler anruft, also: Hörer abnehmen! Es klingelte nie, hinterliess aber einen bleibenden Eindruck. 

Überhaupt ist Hans Schweizer mittendrin in der Kunstwelt der damaligen Zeit: Als Anfang Zwanzigjähriger bewegt er sich im Umfeld der École des Beaux Arts in Paris. Zehn Jahre später ist er dank eines Stipendiums in Kanada. Mitte der 1970er übersiedelt er für einige Zeit nach Westberlin. Die internationalen Einflüsse manifestieren sich in Schweizers Arbeiten an der Seite seiner eigenständigen, starken Formfindungen und Bildideen. Die Töffs auf der Pont de Saint-Cloud zeigt er beispielsweise nicht als Einzelobjekte, sondern blickt auf das dortige Getümmel aus der Vogelperspektive. Die von oben symmetrisch aussehenden Fahrzeuge sind beinahe symmetrisch angeordnet. Schon in dieser frühen Arbeit zeigt sich, was auch in Schweizers aktuellen Arbeiten immer wieder Thema ist: Struktur, Raster und Rhythmus des Gesehenen. 

Ein Maschendrahtzaun, die Fassade der Fachhochschule in St.Gallen oder das Geschäftsgebäude an der St.Galler Geltenwilenstrasse – nichts davon besticht mit Gestaltungswillen oder Schönheit, aber in Hans Schweizers Farbzeichnungen entfaltet genau diese Monotonie ihren Reichtum: Der Stift in der Hand des Künstlers macht den Unterschied. Durch die dicht gesetzten Linien wird das Raster lebendig. Abstufungen, Schattierungen und Unregelmässigkeiten prägen den Gesamteindruck. Zudem spielt der Künstler Varianten durch: In dreimal dem gleichen Format ist der Maschendraht dreimal ein anderes Bildelement: Mal ist der Maschendraht aus der Nahsicht wiedergegeben und in seiner dreidimensionalen Qualität plastisch erfasst. Mal rückt er etwas weiter weg und teilt das Bild: oben der durch Stacheldraht zerschnittene Himmel, unten der Maschendraht als Kontrast zum bewegten Wolkenstreifen. In einer dritten Zeichnung ist die Bildfläche dreigeteilt: Der Maschendrahtzaun ist eine Barriere in der Landschaft, zu seinem Raster kommt jenes der Metallpfosten, an denen er befestigt ist, und jenes der Architektur, die dahinter steht. 

Die sorgfältige Hängung der Ausstellung erlaubt einerseits solche direkten Vergleiche, andererseits gibt sie einen schlüssigen Überblick über Hans Schweizers künstlerische Entwicklung. Den Einstieg machen Arbeiten aus den 1980er Jahren, die sich in der Sammlung des Kunst(Zeug)Haus befinden. Sie zeigen eine formale Nähe zur Malerei der «Jungen Wilden» und zugleich Schweizers Herkunft. Doch auch wenn der Künstler 1982 «Kühe auf der Alpsigel» malt, entsteht nicht etwa einen Sennenstreifen, sondern ein Bildquadrat mit lagernden Tieren überall. Damit verweist es bereits auf die späteren Werke mit übers ganze Format verteilten Helikoptern, Badenden oder nächtlich erleuchteten Fenstern. Schweizers jüngste Werke stehen räumlich im Zentrum der Ausstellung und sind einmal mehr vom Unterwegssein geprägt. Früheste Werke sind vor allem dank Leihgaben aus der Sammlung des Kunstmuseum St.Gallen sehr gut vertreten. Die Farbstiftzeichnungen bilden eine Sektion für sich und begeistern mit Schweizers subtilem Einsatz monochromer oder zart nuancierter Farbigkeit. Insgesamt ist eine Ausstellung entstanden, die Hans Schweizers achtzigsten Geburtstag würdig feiert.

Irena Haiduk — Ökonomie trifft Ästhetik

Etwas entgegensetzen – Irena Haiduk ergreift die Initiative: für mehr Vorstellungskraft, für eine Produktion, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ästhetisch ist, für langlebige Produktions- und Kunstzyklen. Vor mehr als einem Jahr startete ihre ‹Initiative for Trade Aesthetics (ITA)›, eine Zusammenarbeit zwischen der Kunst Halle Sankt Gallen und der mündlichen Korporation Yugoexport: Ausgehend von den Schriftensammlungen ‹Studio Feelings› und ‹All Classifications Will Lose Their Grip› werden Objekte, Kulissen, Stücke oder Performances produziert. Einiges davon ist aktuell in der Kunst Halle Sankt Gallen ausgestellt.

Ein aus der Dunkelheit aufglühendes Rot in einem Gemälde, ein golden glimmender Spiegel, die in eine schummrige Nische gebettete Reliquie oder ein schwach beleuchtetes Antlitz in der Loge – diese Sinneseindrücke sind nahezu verloren gegangen, seit Paläste, Kirchen oder Opernhäuser mit elektrischem Licht ausgestattet worden sind. Dank Yugoexport ist nun eine Ahnung jenes visuellen Erlebnisses wieder möglich: Die Kunst Halle Sankt Gallen ist für ‹All Classifications Will Lose Their Grip› ausschliesslich mit natürlichem Licht und mit Kerzen erleuchtet. Wer die Ausstellung betritt, ist angehalten, eine Kerze am Eingang zu entzünden. Sie kündet dann von Anwesenheit wie die Royal-Standard-Flagge über dem Dach des Buckingham Palastes und schafft zugleich eine atmosphärische Stimmung für das nun Folgende.

Die Firma übernimmt
Der erste Ausstellungsraum ist als offene Bühne konzipiert. Matt spiegelnde Laufstege geben die Bewegung im Raum vor. Sie werden mehrmals während der Ausstellungsdauer neu ausgerichtet und ermöglichen es dadurch, bei jedem Besuch andere der sparsam im Raum verteilten Objekte aus der Nähe zu sehen oder eine der sechs Kerzen anzuzünden, die vor spiegelnden Ovalen an der Wand hängen. Damit wird die Schau zum Experimentierraum für die Produktion von Bildern und demonstriert die Philosophie von Yugoexport, so Irena Haiduk. Die Künstlerin hat Yugoexport gegründet und verfolgt damit unterschiedliche Ziele: «Yugoexport ist eine kollektive Schnittstelle. Die Firma produziert Werke für mich und mit mir. Es gibt sowohl ökonomische als auch konzeptuelle Gründe für die Firma.» So agiert die Firma beispielsweise anstelle der Künstlerin: «Künstlerinnen und Künstler sind vergleichsweise wenig abgesichert. Mit Yugoexport setzte ich etwas zwischen mich und die Institution.»
Es gibt im Internet publizierte Regeln, einen Trust, ein jährliches Treffen und einen Jahresbericht. Aber auch die Verbindung von Ökonomie und Ästhetik wird angestrebt. Dies war auf andere Art und Weise bereits bei Jugoeksport der Fall: Diese Firma wurde 1953 im damaligen Jugoslawien gegründet, war zunächst Waffenproduzentin und -exporteurin und stellte bald auch Uniformen für Arbeiterinnen und Arbeiter und für das Militär her. In den 1980er-Jahren kam Mode auf hohem Niveau dazu, und man eröffnete Boutiquen auf der ganzen Welt. Produziert wurde nach wie vor in Jugoslawien, bis in den frühen 1990ern der Niedergang der Firma kam und sie folglich in den 2010er-Jahren zerschlagen wurde.

Elegante Choreografien
Irena Haiduk hat diese Entwicklung eng verfolgt und schliesslich den Namen in veränderter Form übernommen: «Ich mag den Namen der Firma. Auf Serbisch bedeutet ‹jug› der Süden.» Yugoexport produziert wieder: Anlässlich der documenta 14 wurden beispielsweise Schuhe nach früheren Entwürfen hergestellt. Diese ergonomisch durchdachten Schuhe standen dem Documenta-Personal zur Verfügung und wurden bei der Performance ‹Spinal Discipline› getragen: Frauen liefen lautlos durch den Stadtraum und balancierten Marcel-Proust-Ausgaben auf dem Kopf. ­Diese ­«Army of Beautiful Women» war mit einfachen Kleidern in Pastelltönen ausgestattet. Sie bewegte sich beinahe lautlos schwebend und mit grossem Ernst. Die im Titel angedeutete Schönheit entsteht für lrena Haiduk aus der Freiheit dank bequemer Kleidung und dank uneingeschränkter Wege durch die Stadt.
Auch für die aktuelle Ausstellung in St. Gallen sind Performances geplant. Elegante und doch einfache Choreografien sollen genau wie die Requisiten und die sich verändernde Ausstellung Fragen und Gespräche provozieren und dienen gleichzeitig einem weiteren Grundgedanken von Yugoexport: Nicht das Ausstellen und damit das Zeigen steht im Mittelpunkt, sondern das Initiieren von Gesprächen und Gedanken. Da sich die Ausstellung ständig verändert, sieht niemand einen endgültigen Zustand. Irena Haiduk betont: «Die Menschen müssen einander kontaktieren und sich über die unterschiedlichen Zustände austauschen.» So können sie sich auch über die Objekte verständigen. Und mit ihren Berichten fügen sie der Ausstellung eine neue Ebene hinzu, schreiben sie auf mündliche Weise weiter.

Das Schwinden der Vorstellungskraft
Die mögliche Vielfalt der Geschichten, die Vorstellungskraft und besonders deren Verarmung in der aktuellen Zeit beschäftigen Irena Haiduk sehr und sie muss das Beispiel nicht weit herholen: Ein Konsumobjekt wird im Internet gesehen, bestellt und zu Hause ausgepackt. Aber Bild und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Plötzlich ist das Ersehnte nicht mehr wünschenswert. Der Gegenstand und dessen Bild sind nicht dasselbe oder, wie es Irena Haiduk formuliert: «Die Bilder sind optisch aufgeladen und doch ein flacher Abklatsch der Welt. Zudem können wir kaum noch selbst imaginieren, weil uns ständig bereits Bilder vorgeschlagen werden. In der oralen Kultur konnten Dinge mit verschiedenen Bildern aufgeladen werden. So wurden über eine längere Zeit hinweg eigene Bilder im Hirn gesammelt. Heute ist die Verflachung der Welt eine zugleich komplexe und gefährliche Situation. Die Fähigkeit zur Imagination verschwindet. Die Kunst muss dem entgegenwirken.» Exemplarisch funktioniert dies mit ‹Dream State of Conduct›. Haiduk entwirft hier die Zukunft im Jahr 2135. Die Arbeit wird nicht durch aufwendige Auf- und Umbauten konstruiert, sondern entsteht dank der Imagination. Hinter einem, in einem schmalen Rechteck hängenden raumhohen Vorhang liest eine Stimme, wie der Höhlenkomplex von Altamira genutzt wird: Der Zugang ist streng geregelt und kann nur in einem nicht näher beschriebenen Traumzustand erreicht werden. Im Inneren begegnen sich westliche Meisterwerke, Höhlenmalereien und die Träumenden in einer zugleich technoiden wie archaischen Umgebung.

Räume verbergen und öffnen
Der Vorhang als Objekt, das einerseits für sich selbst steht und andererseits eine Funktion erfüllt, interessiert Haiduk spätestens seit ihrer Arbeit am Theater in Belgrad: «Ich hatte mit den Requisiten zu tun hinter der Bühne. Der Vorhang war eine Schwelle, auch für die Requisiten.» In der Kunst Halle Sankt Gallen wird er zum Mittel des Verbergens, bezogen auf das verhängte Raumvolumen und dadurch zugleich des Öffnens: Der aus dem Verborgenen erklingende Text offenbart einen unermesslichen Gedanken- und Assoziationsraum. Er stammt aus einer Sammlung von literarischen Texten, die ein Langzeitprojekt der Künstlerin darstellen und nun nach und nach auf der Website der Kunst Halle Sankt Gallen publiziert werden. Die Institution wird damit zur längerfristigen Plattform für die Künstlerin, was gemeinsam mit den häufigen Umbauten während der Ausstellungsdauer für die verhältnismässig kleine Institution eine Herausforderung ist. Bewusst soll am Status quo der Kunsthalle gerüttelt und das Maximum aus den vorhandenen Strukturen herausgeholt werden.
Die Ausstellung präsentiert sich als perfekte Inszenierung: Den kalten, glatten Metallflächen der Podeste und Objekte antworten Polstermöbel mit griffig angenehmen Stoffen. Den anthrazitfarbenen und silbernen Flächen steht eine Grünpflanze – eine der derzeit so beliebten Monsteras – gegenüber. Die metallenen Objekte sind poliert, die keramischen zeigen ihre lebendige, grüne Glasur. Die blanken Laufstege sind makellos und führen über den rohen Boden der Kunsthalle. Härte kontrastiert mit Weichheit, Kälte mit Komfort, Grau mit Grün und spiegelnde Flächen mit stumpfen. Irena Haiduk überlässt nichts dem Zufall und schreibt die Ausstellung in ihr Gesamtwerk ein: «Ich habe Requisiten früherer Ausstellungen integriert und werde Objekte aus dieser Ausstellung in künftige übernehmen.» Damit wird die Kunst Halle Sankt Gallen Teil der Geschichte von Yugoexport.

Die Zitate stammen aus einem Telefongespräch mit der Künstlerin am 18.2.2022.

Keine Angst zu klein – kein Wunsch zu gross

Auf der internationalen Kunstbühne ist Rivane Neuenschwander längst präsent. Nun zeigt das Kunstmuseum Liechtenstein ihre erste umfassende Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum. Die Themen der Brasilianerin sind die Ängste und Hoffnungen der Menschen – vor allem der Kinder.

Wo kommt die Angst her? Wie lässt sie sich besiegen? Oder wenigstens bannen? Lässt sie sich kleiner und handlicher machen? Rivane Neuenschwander näht Ängste zu Mänteln um. Die brasilianische Künstlerin fragt Kinder, wovor sie sich fürchten. Spritzen, der erste Schultag, Alleinsein in der Dunkelheit, der Bruder, Betrunkene, Kakerlaken, aber auch Tod, Ebola, Flugzeugabstürze oder Erderwärmung – die Ängste der Kinder sind gross oder klein, sie sind konkret oder unbestimmt, aber sie sind immer wichtig und immer ernst zu nehmen. Manche Ängste spiegeln globale Probleme, andere entstammen der direkten Lebenswelt der Kinder. 

Rivane Neuenschwander hat Kinder dort, wo sie als Künstlerin zu Ausstellungen eingeladen war, und in ihrer Heimatstadt São Paulo gebeten, Mäntel gegen die Angst zu zeichnen. Beschäftigen die Kinder in Brasilien der Dengue-Moskito oder Elektroschocks, sind es in Liechtenstein enge Räume, Schmutzwasser oder Überwachungskameras. Gegen diese Ängste zeichnen die Kinder bunte Mäntel und Capes. Die Entwürfe werden mit Nadel und Faden in Textilien übersetzt. Stacheln, grosse Kapuzen, dicker Filz, riesige Taschen, leuchtende Farben und Buchstaben – die Mäntel gleichen in ihrem schützenden Charakter den reich verzierten Ritterrüstungen in Mittelalter und Renaissance. Sie sind wunderschön und sie können im Kunstmuseum Liechtenstein anprobiert werden: Auf dass es gelinge, sich einzufühlen in kindliche Ängste und Bewältigungsstrategien gegen die ureigene Angst zu finden. 

Auch andere Arbeiten der Künstlerin regen zu intensiven und sehr unmittelbaren Auseinandersetzungen an. Im ersten Ausstellungsraum ist «Ich wünsche Dir einen Wunsch» installiert. Das Werk bezieht sich auf einen Brauch in Salvador, einem brasilianischen Pilgerort. Die Menschen dort binden sich farbige Bänder ums Handgelenk oder an die Kirchenpforte. Jedes Band ist einem Wunsch gewidmet. Fällt es dereinst von alleine ab, geht der still formulierte Wunsch in Erfüllung. In die Kunstwelt transferiert, ergibt sich eine Wand voller verschiedenfarbiger Bänder mit Wünschen in Deutsch und Englisch. Die Wunschbänder dürfen mitgenommen werden. Im Gegenzug sind alle gebeten eigene Wünsche zu platzieren, die dann bei einer nächsten Ausstellungsstation auf Reise gehen können. So breiten sich die Wünsche zeitlich und geografisch aus. Oberflächlich betrachtet ist die kunterbunte Installation eine heitere Arbeit, doch hinter jedem Wunsch steckt auch eine Sorge. Diese Ambivalenz zieht sich durch alle Werke Neuenschwanders. «O Alienista» (dt. Buchtitel: Der Irrenarzt) bezieht sich auf eine Geschichte des Schriftstellers Machado de Assis aus dem Jahre 1882, in der ein Arzt eine Nervenheilanstalt eröffnet. Zuerst interniert er dort alle Leute des Städtchens, die für psychisch beschädigt hält, dann stattdessen alle anderen. Dann lässt er wiederum diese frei, um sich selbst in seine Anstalt zu begeben – denn es lässt sich kaum feststellen, wer krank, wer geheilt und wer nur ein bisschen anders ist. Neuenschwander übersetzt die Erzählung in Typen aus Pappmaché: Der Richter, der Kreationist, der Guru, der Revolutionär und viele andere selbsternannte Weltverbesserer treten in einer dichten Installation als surreale Puppen auf und haben doch ganz reale Vorbilder. 

Die raumgreifenden Arbeiten Rivane Neuenschwanders erhalten in Vaduz zu recht viel Platz, aber auch andere Werke werden sorgfältig und schlüssig im Ausstellungsrundgang präsentiert. Dazu gehört beispielsweise das «Inventar kleiner Tode (Hauch)». Das Video zeigt Seifenblasen, die über eine Landschaft schweben. Jede geht in die nächste über, sie zerplatzen nie. Die Schönheit der zarten Formen täuscht nicht über ihre Fragilität hinweg und zeigt sehr unmittelbar, warum die Blase als Metapher so tauglich ist. 

Ob sie die Plattentektonik und zukünftige Kontinentalverschiebungen mit Carpaccio auf einem Teller darstellt oder Kinderzeichnungen voller Gewalt und Waffen animiert in einem schwarzen Kabinett versammelt – Rivane Neuenschwanders Sprache ist ebenso poetisch wie zugänglich. Ihre Arbeiten behandeln die grossen gesellschaftlichen Themen mit ebenso grosser Leichtigkeit und Empathie.

Steilwandkurven fürs Auge

Ausstellungsraum und ausgestelltes Kunstwerk gehen bei Marie Lund eine enge Symbiose ein. Die Dänin montiert im Kunstmuseum St.Gallen eigens entworfene Objekte und beeinflusst damit die Dynamik im Raum.

Räume haben Ränder. Die meisten jedenfalls, denn Kugelhäuser blieben bis heute geografische Besonderheiten oder existieren als gestalterische Nischenprodukte. In den meisten Räumen endet der Boden dort, wo die Wände anfangen, und die Wände hören auf, wo die Decke beginnt. Die Flächen stossen aneinander – überall Kanten und Winkel. Passt das zum Menschen? Zu seinen Bewegungen? Seinem Körper? Marie Lund (*1976) stellt diese Fragen nicht auf einer theoretischen Ebene, sondern gibt mit ihren installativen Arbeiten den Räumen einen Dreh. Dafür braucht die dänische Künstlerin keine massiven Einbauten, keine Materialschlachten oder dekonstruktivistischen Übergriffe. Im Gegenteil: Die wohlproportionierten klassizistischen Räume des Kunklerbaus behalten ihre Gestalt. Statt das Zusammenspiel der architektonischen Details wie der schlanken Säulen, der kassetierten Decken und der Fenster- und Türlaibungen zu stören, bringt Marie Lund es mit sparsamen, bildhauerischen Gesten erst recht zur Geltung. Dies gelingt einerseits aufgrund der Schönheit und Materialästhetik der plastischen Elemente und andererseits aufgrund ihrer sorgfältigen Platzierung. Im ersten Raum schmiegen sich vier «Sills», 2021 zwischen Boden und Wand, zwischen Wand und Decke. Die halbrund gedengelten Kupferbleche sind Steilwandkurven für das Auge: Sie fangen die Energie des Blickes auf, lenken ihn wieder in den Raum hinein und ziehen ihn aufs neue an. Diese Dynamik artikuliert Lund auch mit der Einladung an Cally Spooner (*1983), innerhalb der Ausstellung eine Performance zu zeigen. Spooner begreift den Raum als Bewegungsanregung, Lunds Bodenelemente dienen dafür als Verstärker. Sie bilden zugleich die Spange in den Aussenraum. Dort bilden piedestalartige Strukturen den Spannungskontrast zu einer eigens platzierten Figur von Hans Josephson (1920–2012).
Im zweiten Ausstellungssaal konzentriert sich Marie Lund auf die vier Säulen. Auf rechteckiger Grundfläche stehend formulieren sie ein eigenes Raumvolumen. An jeder Säule ist nun ein Flügel befestigt. Ähnlich wie die Spoiler aus dem Fahrzeugbau beeinflussen diese «Plies», 2021 die Strömungsenergie und lenken die Kräfte im Raum. Sie sind eigens für die Ausstellung entstanden und das Ergebnis einer bewährten Zusammenarbeit: Marie Lund verbrachte einen Monat als Gastkünstlerin in der Stiftung Sitterwerk in St.Gallen. Ihre Materialrecherchen im dortigen Werkstoffarchiv flossen in ihre neuen Arbeiten ein. So entschied sich die Künstlerin bei den «Plies» für eine emaillierte Innenfläche in sattem Dunkelrot. Ihrem Glanz antwortet auf der Rückseite eines jeden Flügels die raue Metallhaut mit vielen Zwischentönen. Auch hier wieder spielen Form und Oberfläche auf beste Art und Weise zusammen.

Kleine und grosse und keine BIlder

Albert Oehlen zeigt seine Kunstsammlung und eigene Werke im MASI Lugano.

Lugano — Ob es auf die Grösse ankommt, ist Ansichtssache. Das weiss auch Albert Oehlen. Seine fast vier Meter hohen Gemälde sagen das eine, seine eigene Kunstsammlung erzählt das andere. Der im ausserrhodischen Gais lebende Künstler präsentiert im MASI Lugano «grosse Bilder von mir mit kleinen Bildern von anderen». Der Ausstellungstitel funktioniert so gut, weil er von Oehlen ist und weil er sich spätestens angesichts der Arbeiten als Spiel mit Werten, Kategorien und Zuordnungen erweist: Was heisst schon «Bilder», wenn einem eine der selten gezeigten, hyperrealistischen Figuren von Duane Hanson begegnet? Was heisst schon «von mir», wenn ein besonders prominent platziertes Bild das von Julian Schnabel gemalte Porträt Albert Oehlens ist? Was heisst schon «klein», wenn es ein Gemälde des grossen Willem de Kooning ist? Überhaupt sind die Amerikaner stark vertreten in Oehlens Sammlung, auch Richard Artschwager, Mike Kelley oder Paul McCarthy gehören dazu. Neben deren einzigartigen künstlerischen Gesten und ihrer gesellschaftlichen Relevanz ist die Malerei ein verbindendes Element in der Ausstellung. Das Spektrum reicht von Konrad Klapheck über Martha Jungwirth bis zu Daniel Richter und zeigt ausschnitthaft die grossen Heterogenität des Genres. Und mittendrin: Albert Oehlen. Konsequenterweise hängt der Künstler Werke aus seiner Hand den anderen zur Seite, denn seine eigene Arbeit, sein künstlerisches Interesse ist die Basis dieser Sammlung. Sie muss keinem äusseren Anspruch gerecht werden, sondern ist von seinem individuellen Interesse geprägt. Wenn sich inhaltliche oder formale Linien zu offenbaren scheinen wie etwa eine Vorliebe fürs Bunte, Knallige, so unterlaufen andere Werke diesen Eindruck umgehend. Die Präsentation bricht mit gewohnten kunsthistorischen Ausstellungsprinzipien, sie braucht keine chronologischen und thematischen Ordnungen oder eine ästhetische Logik. Die Sammlung Albert Oehlen ist wie der Künstler Albert Oehlen: eigenständig, sich den Kategorisierungen entziehend und immer stilsicher.

Eine Tanne als Umweltmonument

Erde und Wasser, leben und überleben, Natur und Mensch – Otobong Nkanga erzählt von tiefgreifenden Veränderungen. Dafür verbindet sie die vier Stockwerke des Kunsthaus Bregenz mit einer eindrucksvollen Installation.

Ökologische Anliegen sind hoch im Kurs, auch in der Kunst. Mal leuchtet die Verbindung von Kunst und Ökologie mehr ein, mal weniger. Manches bleibt ein zwar medienwirksames, aber wenig reflektiertes Lippenbekenntnis, anderes zeugt von fundiertem Anspruch. Wenn etwa Otobong Nkanga Umweltfragen thematisiert, wird deutlich: Die 1974 in Nigeria geborene Künstlerin weiss, wovon sie spricht. Energie ist nicht erneuerbar, sie kann nur von einer Form in eine andere übergehen. Alles ist ein grosser Kreislauf, der Mensch ist Teil desselben. Diese Verbindung ist unauflöslich: Wenn der Mensch etwas tut, hat dies Auswirkungen auf den Kreislauf, in positivem wie in negativem Sinne.
Lässt sich dies schlüssig in einem Ausstellungshaus darstellen? Fernab der Natur, in einer hochartifiziellen Umgebung, unterhalten dank dem Zugriff auf Ressourcen? Otobong Nkanga verbindet Natur und Kunst, Natur und Architektur. Sie liess eine 33 Meter hohe Weisstanne ins Kunsthaus Bregenz einpassen. Sie war im nahen Bregenzer Wald gestorben und verbindet nun alle vier Stockwerke miteinander. Auch die Erde stammt aus der Region: Aufgehäuft und ausgebreitet im Erdgeschoss und in der obersten Etage, erdet sie sprichwörtlich das ganze Haus. Zu Beginn der Ausstellung ist sie noch mit Wasser benetzt, kleine Tümpel spiegeln das Licht, doch sie werden austrocknen und so rissig werden wie der Terrazzoboden an manchen Stellen im Kunsthaus. Alterungsprozesse als Teil des Kreislaufes spielen eine ebenso grosse Rolle in Otobong Nkangas Werk wie irreversible Eingriffe: Eigens für die Ausstellung und in Kooperation mit dem Textilmuseum Tilburg hat sie vier Tapisserien weben lassen. Sie verstehen sich als Teile eines riesigen Wandteppichs, der wie die Tanne über alle vier Stockwerke des Kunsthauses reicht. Das Gewebe zeigt mit grosser Farb-, Material- und Formvielfalt einen Querschnitt der Welt vom Meeresboden bis hinauf zu den Baumwipfeln. Auch hier sind die menschlichen Einflüsse präsent: Bodenschätze werden heraufgeholt, Fischernetze zerschneiden das Blau. Arme liegen verstreut, verfangen sich in den Netzen. Auch diese Körperteile vereinen das Künstliche und das Natürliche, denn sie besitzen Scharniere. Waren die Ertrunkenen Marionetten im ökonomischen oder politischen Spiel? Otobong Nkanga verstrickt sich nicht in kleinteilige Interpretationsangebote. Der Mensch und seine Handlungen stehen niemals isoliert, sondern sind Teil des energetischen Weltgefüges.