Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Wundersame Wesen

St.Gallen — Rotkäppchen als Wolfshirtin, ein Bäreichhörnchen, ein gestiefelter Vogelkater – Marlies Pekarek sortiert die Tierwelt neu. Die Künstlerin hat eigens für die Winterausstellung in der Stiftsbibliothek St.Gallen eine künstlerische Intervention entwickelt. Unter dem Motto «Tiere» sind im Barocksaal der Bibliothek ausgewählte Bände zu sehen. In Vitrinen offenbaren die Bücher ihr bildreiches Innenleben und ihre mitunter merkwürdigen Inhalte. Die Spannbreite reicht von Arzneien mit Hundewelpen zu Enzyklopädien, in denen sich Fabelwesen verstecken, von Empfehlungen zur Nutztierhaltung bis zu Heiligenattributen oder zu Ratschlägen, wie eine Löwengebärmutter zur Empfängnisverhütung eingesetzt werden kann.
Marlies Pekarek knüpft formal insbesondere an die Bordüren an, die als Schmuckranken die Seitenränder der Bücher zieren und zwischen deren Blättern und Blüten sich einzelne Tiere tummeln oder sogar ganze Jagdszenen integriert wurden. Die St.Gallerin hat auf umlaufender Höhe die Regalbretter leergeräumt und nun dort ihre Tierplastiken verteilt. Einer Bordüre gleich ziehen sie sich nun auf der Höhenlinie knapp unter Augenhöhe durch den ganzen Saal. Es ist eine seltsame Parade: Vogelkörper mit Säugetierköpfen, Menschenhäupter auf gefiedertem Leib, Chimärengottheiten blicken einander verwundert an, reihen sich auf oder verschwunden zuhinterst im Dunkel des Bücherkastens. Sie versammeln sich in kleinen Herden oder werden wie Solitäre einer Wunderkammer präsentiert.
Die Mischwesen basieren auf der Sammlung der Künstlerin. Insbesondere bei ihren Auslandsatelieraufenthalten erwarb sie Nippes- und Kunsthandwerkfiguren. Eigens angefertigte Abgüsse davon kombinierte sie neu: Diese schwarzen und weissen Gips- und Wachsrepliken formieren sich nun zu einer Prozession, die mit dem gealterten Holz und den braunen Buchrücken auf den anderen Regalbrettern kontrastiert. Als seien sie aus den Büchern gestiegen, erinnern sie an die Gedankenwelten, die sich zwischen den vielen geschlossenen Buchdeckeln verbergen, aber auch daran, dass der Wunderglaube keinesfalls immer nur in historischer Ferne liegt.

Anna Diehl, Signs of Being Alive, 2021

Die Landschaft ist weit, die Horizontlinie tief. Die Vogelperspektive lässt alles in die Ferne treten. Die Strassen, die Siedlungen, die Häuser, die Menschen darin – alles ist weit weg gerückt. Und doch bleibt es nahe: Jeder Mensch, der aus dem Flugzeugfenster auf die Erde blickt, hat auch ein Leben dort unten, hat Nachbarinnen und Nachbarn, ein Umfeld, in dem er sich bewegt, fühlt und denkt. Jede Aufnahme, die aus dem Bullauge einer Flugzeugkabine gemacht wird, schlägt eine Brücke zwischen diesen beiden Welten. Sie erzählt von dem Moment, in der Luft und woanders zu sein, aber zugleich um die unlösbare Verbindung zur eigenen irdischen Existenz zu wissen.
«Signs of Being Alive» steht in geschwungenen grossen Buchstaben über den Fotografien von Himmel, Wolken und der darunter liegenden Landschaft. Vier Einzelbilder sind es, aneinander gefügt zu einem langen Querformat oder einem schmalen Hochformat. Poster oder Umschlag? Hoch oder quer? Anna Diehl untersucht in ihrer künstlerischen Arbeit, wie sich persönliche Erfahrungen, Gefühle und Fragen so ausdrücken lassen, dass auch gesellschaftliche und politische Phänomene damit thematisiert werden. So verknüpft die in Teufen geborene und in Basel lebende Künstlerin ihren eigenen Bilderkosmos mit selbst geschriebener Poesie und Prosatexten. Zusammengeführt wird beides in einer Publikation für ihre Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen im Rahmen vom alle drei Jahre stattfindenden «Heimspiel». Anna Diehls zeitgleicher Auftritt im aktuellen Obacht kann einerseits für diese Publikation als Buchumschlag verwendet werden. Andererseits ist «Signs of Being Alive» ein eigenständiges Objekt und kann als Poster aufgehängt werden. Anna Diehl spielt mit Format, Zweck, Schrift, Text und Bildmaterial. Die Künstlerin spannt damit einen Denkraum auf: die Weite des Bildraumes lässt die Blicke schweifen, die markante, leuchtend rote Schrift fängt sie wieder ein, um durch den Inhalt des Textes die Gedanken auf eine erneute Reise zu schicken. Was sind die Zeichen des Daseins? Sind sie für jeden anders? Oder können sie aus dem individuellen Raum heraustreten und eine Empfindung beschreiben, die nicht mehr an eine Person gebunden ist? Eine geschlossene Wolkendecke, darüber der blaue Himmel, darunter das Leben – individuell und doch stets in einem gesellschaftlichen Kontext.

Kulturmagazon «Obacht Kultur» N° 41, 2021/3

Dafür? Dagegen? Im Dialog!

Malerei und Plastik – lange Zeit und fast ausschliesslich bewegte sich die Kunst innerhalb dieser beiden Felder, auch dann, wenn sie an Bauten eingesetzt wurde. Fresken oder Bauplastik erfüllten in Kirchen und Profanbauwerken einen repräsentativen oder didaktischen Auftrag: Wer nicht lesen konnte, erfasste die Botschaft der Bilder und Skulpturen. Wer lesen konnte, ebenfalls. Der Auftrag an die Kunst hat sich gewandelt und damit auch ihre Verbindung zur Architektur. Beide Gattungen sind weniger eng und nicht mehr selbstverständlich verflochten. Wichtig sind sie füreinander dennoch, die Gründe sind auf beiden Seiten vielfältig.

Funktionale Kunst

Elisabeth Steger Vogt, seit dem vergangenen Jahr Rektorin der Kantonsschule Trogen, hält ein flammendes Plädoyer aus der Sicht der Nutzerin: «Bei uns hat Kunst einen hohen Stellenwert, sie gehört zur Grundbildung und ist ein gleichwertiges Fach wie andere. Wenn wir Kunstwerke an Ort und Stelle haben, ist das Teil unseres Selbstverständnisses als Bildungsinstitution. Die Kunst löst Fragen aus, die Jugendlichen sollen ihre kritischen Stimmen äussern». Schulbauten, Kirchen, Verwaltungsgebäude – Künstler und Künstlerinnen denken den Zweck der Bauten in ihren Entwürfen mit. Harlis Schweizer in Bühler hat beispielsweise für die Wohnüberbauung «Rosenaupark» in Herisau ein fünfteiliges Wandgemälde konzipiert: «Das Bauprojekt ermöglicht Wohnen im Alter. Viele Menschen vom Land leben dort. Dieses Publikum habe ich mitgedacht, denn das Wandbild ist dauerhaft. Du kannst es nicht einfach abhängen oder ein Tuch drüberbreiten.» Entstanden ist eine Arbeit, die sowohl farblich als auch inhaltlich den strengen Betonkörper akzentuiert.
Der in Teufen geborene Künstler Markus Müller hat für die Primarschule Teufen einen Tisch entworfen: «Er steht auf dem Pausenhof und bezieht sich auf das geschindelte Haus. Er kommentiert die Architektur und knüpft an die Vorstellung an von Kindern, die unter dem Tisch spielen.» Der Tisch ist Spielort, Pavillon, gestaltet den Aussenraum und verändert den Blick auf das Gebäude. Sowohl die Bestimmung des Baus als auch seine Architektursprache sind Müller wichtig: «Kunst hat die Chance, einen Kommentar zu Architektur abzugeben. Aber auch Funktionalität ist nicht ausgeschlossen.» Ein anderes konkretes Beispiel liefert der Heidener Rolf Graf: «Beim Neubau für das Zentralschulhaus in Speicher gab es ein akustisches Problem. Ich habe Wildlederhäute von Kühen auf die Wand gebracht, nun funktionieren Singsaal und Aula. Im Idealfall komme ich mit dem Blick von aussen auf eine Idee, die dem Bau zuträglich ist oder etwas verbessert.» So ein Blick von aussen bereichert auch das Zeughaus Teufen und die Grubenmann-Sammlung, so Kurator Ueli Vogt: «Christian Kathriner hat die Architektur verstanden. Er sucht keine originelle Lösung, sondern denkt in baupraktischen Zusammenhängen. Seine Arbeit erklärt das Haus und zeigt es vertiefter: Die Trajektionslinien lassen als geometrisches Muster lesen – so werden sie sogar von der Fahrschule genutzt; sie funktionieren als ornamental gestalteter Vorleger des Hauses oder als Zeichnung, an der man Inhalt und Statik des Gebäudes erklären kann. Ideal ist es, wenn Kunst und Baukunst auf Augenhöhe funktionieren und in einen Dialog treten.»

Künstlerische und architektonische Lösungen

Von der Architektenseite her klingt das ähnlich: «Als Architekt will man etwas Spezifisches erreichen; auch im Werk des Künstlers ist das so. Gute Kunst kann mit dem Bau eine Synthese bewirken und so einen spezifischen Zweck erfüllen; Architektur basiert auf einem funktionalen Nutzwert. Die Kunst kann sich besser ins Leben integrieren, wenn sie funktionale Aspekte aufnimmt», sagt der Herisauer Architekt Peter Hubacher. Gemeinsam mit Eva Keller restauriert er derzeit die Kirche Herisau: «Wir konnten alleine mit architektonischen Massnahmen den Durchgang zur Seitenkapelle nicht befriedigend gestalten. Deshalb haben wir der Gemeinde Herisau vorgeschlagen, den Künstler Markus Müller einzuladen». Entstehen wird eine verglaste Metalltüre mit einer Schwarzlot-Spray-Schablonen-Technik. Das Motiv wird sich zwischen Abstraktion und illusionistischer Architekturmotivik einpendeln.
Einbezogen wurde ausserdem Fredi Altherr mit seiner denkmalpflegerischen Sicht: «Wenn ein Bau 200 Jahre alt ist, umgebaut oder renoviert wird und eine neue Nutzung erhält, ruft dies nach neuen Bauteilen. Das kann ein neuer Beleuchtungskörper sein, ein Abendmahlstisch oder die Tür zu einer Nebenkapelle wie jetzt in der Kirche Herisau.»
Der Vorraum zur Kirche wurde neu strukturiert – eine Wand aufgeschnitten – dafür brauchte es zwei Betonsäulen. Die Architekten haben hier mit Markus Müller einen gesprayten Farbverlauf für die Säulen entwickelt. Ein Direktauftrag wie bei diesem anspruchsvollen Projekt, ist allerdings die Ausnahme, wie Hubacher erklärt: «Ich habe lieber eine Bandbreite von Ideen, statt direkt einzuladen».

Das beste Vergabeverfahren

Der eingeladene Wettbewerb ist für beide Seiten das ideale Verfahren, so Markus Müller: «Für die Debatte zur Kunst am Bau ist das grossartig. Auch die Juryberichte braucht es unbedingt. Ich studiere sie, um zu sehen, wie andere an die Sache herangegangen sind.» Auch die Künstlerin Vera Marke in Herisau schätzt Wettbewerbe mit drei bis fünf Eingeladenen, und «am Schluss interessieren mich alle Dossiers». Rolf Graf hebt noch einen anderen Aspekt dieses Verfahrens hervor: «Der Idealfall ist: Du wirst eingeladen und weisst, es gibt eine Fachjury und eine Live-Präsentation, bei der Fragen vor Ort und gegenseitig geklärt werden können; und der Entwurf wird bezahlt. Dann kannst du einen Monat oder zwei investieren.» Tanja Scartazzini ist seit Sommer 2021 neue Leiterin des Amtes für Kultur des Kantons St.Gallen und war davor über 20 Jahre als Leiterin der Fachstelle Kunstsammlung des Hochbauamts Kanton Zürich verantwortlich für dessen sämtliche Kunst am Bau Verfahren. Sie bevorzugt statt offener Wettbewerbe ebenfalls Studienaufträge mit eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern, kennt allerdings auch die juristischen Einwände: «Submissionsrechtlich ist das nicht ganz korrekt. Ab einem gewissen Schwellenwert sollten eigentlich offene Verfahren durchgeführt werden. Das Submissionsrecht geht aber von vergleichbaren Produkten aus: Braucht ein Bau zweitausend Fenster, sollen alle interessierten Fensterbauer Offerten einreichen können, zu welchen Bedingungen sie liefern können. Kunst hingegen ist unvergleichbar. Gesucht wird ja eben das Individuelle und Einzigartige.» Auch die Ausschreibung ist für die Resultate entscheidend: «Bereits bei der Ausschreibung muss das Programm so formuliert werden, dass das Beurteilungsgremium über Werke diskutieren kann und über Inhalte. Dazu gehören auch die Werte des Auftraggebers, wie beispielsweise die Ökologie. Ausserdem hat die Fachstelle Kunstsammlung Kanton Zürich in vielen Fällen aufgehört Perimeter zu setzen. Definiert werden muss eigentlich nur, wo Kunst nicht möglich ist: Wo müssen Fahrzeuge durch? Wo sind Leitungen? Welche Bodentiefe ist möglich? Was gilt denkmalpflegerisch? Mit dieser Offenheit entstehen die besten Lösungen durch gute Ideen,» betont Scartazzini. Auch Kurt Knöpfel, stellvertretender Ausserrhoder Kantonsbaumeister, berichtet gerne von seinen Erfahrungen mit Ausschreibungen und Jurys, die sind durchwegs positiv: «Je nach Grösse der Bauprojekte werden Künstlerinnen und Künstler zu einem Wettbewerb eingeladen und mit einer Pauschale entschädigt. In der Jury vertreten sind jeweils das Amt für Immobilien, die Nutzerseite und die beauftragten Architektinnen oder Architekten. Für uns als Bauherrenvertretung ist die Kunst im gesamten Bauprozess ein kleiner Teil. Wichtig ist aber, möglichst frühzeitig zu wissen, welche baulichen Massnahmen sie erfordert wie beispielsweise Elektroanschlüsse.» Aber nicht überall läuft es so reibungslos wie ein aktuelles Beispiel aus der Gemeinde Teufen zeigt.

So viel Geld

Pascale Sigg, Vizepräsidentin im Gemeinderat und Leiterin des Ressorts Bau, setzt sich sehr für Kunst am Bau ein, kennt aber auch die Schwierigkeiten: «Das Budget ist der Stolperstein. Wir werden mit Aussagen konfrontiert wie ‹Das Schulhausprojekt ist schon ein Kunstprojekt.› Normalerweise wäre die Kunst im Projektierungskredit enthalten, aber für den Schulhausneubau wurde sie vor der Abstimmung aus Spardruck aus dem Budget gestrichen.» Die Kulturkommission der Gemeinde Teufen nimmt das nicht so einfach hin und hat laut Kathrin Dörig, seit zweieinhalb Jahren Präsidentin der Kommission, «einen Antrag formuliert und einen Sonderkredit beim Gemeinderat eingefordert. Wir haben als Kompromiss 0,5% der Bausumme für die Kunst beantragt. Das hat Chancen im Gemeinderat.» Laut Kathrin Dörig hat Kunst in diesem Umfeld nach wie vor einen schweren Stand und mitunter wird gefragt, «wie kann man das viele Geld rechtfertigen?» Tanja Scartazzini plädiert für neue Lesarten: «Seit den 1950er Jahren ist die Kunst am Bau Mittel und Teil der Kulturförderung. Künstler und Künstlerinnen werden mit substanziellen Beträgen unterstützt, investieren aber auch viel Zeit und Engagement. Ich habe auch schon Sätze gehört wie ‹Zahlt denen doch einfach die 20‘000 Franken aus und Schluss.› Aber viel wesentlicher als das Honorar sind die Sichtbarkeit der Arbeit, das Renommee, die Niederschwelligkeit, die Langlebigkeit.» Letztere sei jedoch im Wandel begriffen: «Zwar hat die Auftraggeberschaft mitunter noch herkömmliche Vorstellungen. Aber Wandmalerei und Bronze sind selten geworden, Künstlerinnen und Künstler arbeiten heute anders und stärker partizipativ.»

Neue Materialien, neue Werkformen

HR Fricker beispielsweise: «Ich ziehe es vor, Kunst mit dem Bau zu machen, statt Kunst am Bau», sagt der in Trogen lebende Künstler. «Ich gebe dem ganzen Gebäude eine zusätzliche Funktion. So habe ich zwanzig Berggasthäuser im Alpstein-Museum-Projekt in Alpine Museen umfunktioniert, habe ein Alters- und Pflegezentrum zum Museum für Lebensgeschichten erweitert und einem gemeindeeigenen Gruppenhaus für Seminare und Lager eine zusätzliche Funktion als Kunsthaus gegeben. Es zeigt nun Kunstwerke von Menschen mit Behinderung.» Vera Marke hat im Zusammenhang mit den Renovierungsarbeiten in der Kirche St.Mauritius in Appenzell einen Schatz gehoben: «Ich entdeckte den Dachboden der Kirche, die sogenannte ‹Himmleze›, und dort ein unübersichtliches Sammelsurium ausgemusterter religiöser Objekte und Dinge. Sie waren weder museumswürdig noch fanden sie im Kult Gebrauch, drum waren sie gefährdet». Ihre Arbeit «Der Himmel hängt voller Geigen» transformiert die «Himmleze» zum Schaulager ausgehend vom Konzept der Wunderkammer. Marke fasst dabei ihre künstlerischen Erfahrungen zusammen: «Ich arbeitete mit einem offenen Konzept und bündelte meine Seherfahrungen, das Wissen zu Ikonographie, Kunstgeschichte und Maltechniken». Auch der in Rehetobel lebende Künstler Frank Keller hatte die Idee, sein Arbeitsprinzip mit einem Projekt integral zu verbinden: «Ich arbeitete unter anderem mit Pixelstrukturen. Als die neue Fussballarena in St.Gallen in Planung war, habe ich vorgeschlagen, die ohnehin notwendigen Sitzplätze zu einem Gesamtbild mit Pixelcharakter umzugestalten.» Als die Idee einer stadiongrossen Gänseblümchenwiese im Tagblatt besprochen wurde, diskutierten die Fans das Sujet sehr kontrovers. Das Projekt scheiterte jedoch aus anderen Gründen: «Es handelt sich nicht um einen öffentlichen Bau, für die Kosten hätte ich selber aufkommen müssen.»

Wie frei muss die Kunst sein?

Für einen privaten Auftraggeber konnte Frank Keller trotzdem ein Kunst-Projekt im Pixelprinzip realisieren: «Ich wurde angefragt, ob ich Interesse hätte, ein Badezimmer zu gestalten. ‹Narziss›, ein Internet-Selfie-Fundstück, liess sich als Bild sehr gut mit dem Thema Badezimmer verbinden, mit der Nasszelle, dem Wasser, der Hygiene. Die Farbpalette war vorgegeben, ich konnte sie jedoch erweitern. Auch Art und Grösse der Plättli und das Gesamtformat waren bestimmt, aber ich habe das nicht als Korsett empfunden. Alles, was vorgegeben ist, gibt einen Rahmen.» Vera Marke klingt ebenfalls pragmatisch: «Auch wenn Du frei bist, bist du eingeschränkt: Es gibt immer Bedingungen. Bei freien Arbeiten sind das der Blattrand oder die Lichtverhältnisse.» Francisco Sierra, aufgewachsen in Herisau, realisiert für eine Tagesbetreuung in St.Gallen derzeit sein allererstes Kunstprojekt im Baukontext und sieht sich ebenfalls nicht in seiner Freiheit eingeschränkt: «Es reizt mich, im baulichen Kontext etwas Sinnvolles zu entwickeln. Über drei Stockwerke hin wird sich eine Wandmalerei erstrecken, ich verwende dafür Elemente meiner bisherigen Arbeiten. Für mich ist es interessant wegzugehen von der Leinwand, vom Papier und zu sehen, wie das funktioniert.» Andere Künstler nehmen die Einschränkungen stärker wahr, kennen aber auch die Wege, damit umzugehen. So hält Markus Müller fest, die Kunst müsse viel Rücksicht nehmen auf den Kontext, auf die Öffentlichkeit: «Man ist weniger frei als bei den eigenen freien Arbeiten». Wisse man jedoch, wie vor allem halbprofessionelle Jurys arbeiten, haben geschickt konzipierte Vorschläge grössere Chancen: «Der Perimeter wird oft als ‹frei› definiert, aber wenn die Architekten ‹überall› sagen, meinen sie das nicht unbedingt. Die Erfahrung zeigt wo es gut funktioniert, etwa bei Restflächen oder Problemstrukturen.» Aber auch dort dürfe sich ein Künstler nicht korrumpieren lassen: «Ich will mich nicht für Projekte schämen müssen, denn sie sind fester Teil meiner Praxis.» Rolf Graf sieht das ähnlich: «Bei Kunst am Bau ist man immer in Kompromisse eingebunden. Sie muss innerhalb bestimmter Parameter entwickelt werden – anders als die freien Arbeiten. Eine gute Idee entwickeln kann ich, weil ich die freien, die Atelierarbeiten mache. Sie stehen für mich vor der Kunst am Bau. Letztere ist immer von Bedingungen und Möglichkeiten abhängig. Ist jedoch eine gute Fachjury involviert, kann es interessante Diskussionen geben. Ich denke da an Fussball: Ich schaue mir gerne Fünftligaspiele an, würde aber über Fussball trotzdem lieber mit Murat Yakin sprechen.»

Kunst für Generationen – oder für ein Jahr

Ist die Kunst installiert, ist die Arbeit nicht in jedem Falle getan. Francisco Sierra stellt sich die Frage, wie Kunst altert: «Eine gewisse Patina ist durchaus mitgedacht.» Sind Arbeiten jedoch reparaturbedürftig, gibt es kaum Standardlösungen. Kurt Knöpfel berichtet von Roman Signers rotem Kanu auf dem Sportplatz der Kantonsschule Trogen: «Es bewegt sich über ein Drahtseil und Umlenkrollen parallel zur 100-m-Rennbahn genau 27 cm pro Tag und braucht so für die Strecke ein Jahr. Es musste saniert werden, weil es Risse im Beton hatte – es ist stets der Witterung ausgesetzt. Uns war es wichtig, den Künstler für die Restaurierung miteinzubeziehen. Diese Zusammenarbeit war eine sehr gute Erfahrung für mich.» Aber was passiert mit der Kunst, wenn Bauten weichen müssen? Kurt Knöpfel rechnet damit, mit solchen Themen künftig konfrontiert zu werden: «Bei einigen kantonalen Bauten kommt irgendwann die Phase der Umnutzung. Wenn dann ein Kunstwerk nicht mehr am richtigen Ort ist, müssen wir mit den Künstlern und Künstlerinnen Lösungen finden. Auch über Umplatzierungen oder einen Abbau muss dann diskutiert werden können.» Peter Hubacher kennt das Problem: «Zum dauerhaften Anspruch von Kunst am Bau gibt es immer Diskussionen. Üblicherweise gelten die Urheberrechte bis 70 Jahre nach dem Tod des Künstlers oder der Künstlerin. Deshalb beginnt die Sorgfaltspflicht beginnt bereits beim Auswählen. Ich durfte für das Hochbauamt der Stadt St.Gallen zwei Verträge entwerfen, die im voraus regeln können, ob zum Beispiel ein Kabelkanal oder eine Steckdose ohne Rücksprache neu eingebaut werden kann oder wie lange das Werk Bestand haben soll». Rolf Graf kennt die Standards der Visarte über den zeitlichen Anspruch: «Aber dieser Ewigkeitsanspruch ist mir egal. Gute Kunst kann auch sein, die nur einen Monat hält und dann nur noch Spuren zeigt.» Vera Marke erwartet ebenfalls nicht, «dass die Kunst länger lebt als der Bau. Die Kunstgeschichte lehrt uns den Wandel: Es wurde immer gebaut, übermalt, erweitert, angepasst. Mich interessieren die Transformationen und Prozesse.» Die Kunst im öffentlichen Raum steht in einem sich ständig verändernden Spannungsfeld. Wenn sie sich gut positioniert, kann sie darauf selbst Einfluss nehmen.

Kulturmagazin Obacht, No. 41 | 2021/3

Von Schweinen und Menschen

Rhona Mühlebach erhält den Adolf-Dietrich Förderpreis 2021. Im Kunstraum Kreuzlingen zeigt sie eine neue Videoinstallation. Zusätzlich sind Arbeiten ihrer schottischen Studienkollegin Holly McLean zu sehen.

«Sollen wir uns mit den wilden Schweinen zusammentun?» fragt sich die Beobachterin mit dem Feldstecher. Aus der sicheren Distanz kann sie den robusten Vierbeinern durchaus etwas abgewinnen. Auch die Tiere selbst weisen gerne auf ihre Qualitäten hin. Mit kehligen Stimmen preisen sie ihre wunderschönen Borsten und ihr Dasein als Überlebenskünstler. Sie können sogar zweimal im Jahr Junge bekommen, wenn es ihnen gut geht. Und es geht ihnen so gut, dass sie in Grossstädten als Problem gelten, wie die zitierten Schlagzeilen beweisen: Wildschweine überfallen Spielplätze, lassen sich in Siedlungen nieder, erfreuen sich am Hausmüll.
Die Künstlerin Rhona Mühlebach hat recherchiert in der Wildschweinszene und lässt die Schwarzkittel ausführlich zu Wort kommen. Mit einem schiefen Grinsen zwischen den kräftigen Hauern verraten sie einiges an Lebensweisheit.

Aufwendige Videoarbeiten

Einen Wildschweinfilm hat Mühlebach dennoch nicht geschaffen, sondern ein dichtes Erzählkino mit einer Geschichte übers Aussterben, übers Bleiben, über neue Kontakte und alte Lebensformen. Die 1990 geborene und in Dettighofen aufgewachsene Künstlerin wird jetzt als 19. Preisträgerin mit dem Adolf Dietrich-Förderpreis der Thurgauischen Kunstgesellschaft ausgezeichnet. Die Jury würdigt damit Mühlebachs aufwendig komponierte Videoarbeiten, mit denen die Künstlerin seit einigen Jahren aufgefallen ist. Gekonnt verknüpft sie Bild-, Gefühls- und Wissensebenen, verflicht reale Bilder mit computeranimierten, richtet den Blick in die Vergangenheit, um daraus aktuelle Aussagen ableiten zu können. Bei all dem stellt sie den Menschen ins Zentrum der Betrachtung, selbst dann, wenn die Wildschweine sprechen.
Wer sich in den tiefen Polstersesseln im Kunstraum Kreuzlingen niederlässt, wird rasch in Bann gezogen von der seltsamen Welt auf dem grossformatigen Bildschirm. Da sucht eine Neandertalerin den Anschluss zur heutigen Welt. Eine Kommissarin berichtet von ihrem harten Berufsalltag, aus dem sie mit der Wildschweinbeobachtung zu entfliehen versucht. Und ein Arzt berichtet, wie er seine Frau getötet hat. Hat er sie von einer Krankheit erlöst? Hat er sie kaltblütig ermordet?

Wildschweine als Lebensratgeber

Mühlebach erzählt in ihrer Videoinstallation «Excitement is not part of my feeling repertoire» vom Sterben und Aussterben. Das ist erwartungsgemäss keine eindimensionale Geschichte. Es könnte so sein, aber auch ganz anders. Viel wichtiger als die gezeigten Ereignisse sind die Gefühle: Wie empfindet eine Neandertalerin? Wie glaubwürdig sind die Tränen des Frauenmörders? Beweint er nicht vielmehr sich selbst?
Rhona Mühlebach bettet die Szenen in sorgfältig ausgewählte Landschaftsaufnahmen: Aufgeforstete Wälder in Schottland, eine Nachtidylle mit blinkendem Windrad im Hintergrund oder eine künstliche Höhlenumgebung dienen als Kulisse. Diese Orte eint, dass der Mensch sie sich angeeignet oder sie geformt hat. Schön sind sie trotzdem und still – wenn nicht plötzlich wieder die Wildschweine auftauchen und gute Tips für alles und jeden bereit halten.

Künstlerinnen im Dialog

Die Präsenz des Menschen und seine Rolle in der Welt ist ein verbindendes Element zwischen der Arbeit Rhona Mühlebachs und jener von Holly McLean. Die Schottin zeigt zwei Videoarbeiten im Untergeschoss des Kunstraumes. Eingeladen wurde sie von der Adolf Dietrich-Förderpreisträgerin. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen beim Kunststudium in Glasgow.
Holly McLean arbeitet ebenfalls mit der Videokamera, anders als Mühlebach überschreitet sie dabei die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation. Die agierenden Frauengestalten sind reale Charaktere. Sie berichten über ihren Alltag, der aber ganz unalltäglich sein kann wie im Beispiel der Astrophysikerin. Wie Mühlebach thematisiert auch McLean das Verhältnis des Menschen zur Natur. Deren Nähe wird einerseits ersehnt, andererseits versucht der Mensch, sich von natürlichen Prozessen zu lösen. Gelingt die Befreiung? Oder bleibt sie eine feministische Utopie? Die Ausstellung gibt keine Antworten, aber vielleicht wissen die Wildschweine, wie es weitergeht.

Kann die Kunst der Natur helfen?

Steigende Meeresspiegel, Waldbrände, Korallenbleiche, verödete Landstriche aufgrund von Rohstoffabbau, Monokulturen, Abholzung – Fotografien davon bleiben auf Distanz: Sie sind schnell verdrängt und vergessen. Die Kunst hingegen kann eine eindringlichere Sprache finden.

Die Kubatur, die zu klimatisierende Fläche, der Wärmeverlust alter Gebäudehüllen – Museen und Kunsthäuser halten einem strengen ökologischen Blick nicht immer stand. Einen gültigen Kommentar zur Klimadiskussion können sie trotzdem liefern. Neben der Wissenschaft und deren breiter medialer Präsenz ist die Kunst eine weitere notwendige Stimmen im aktuellen Diskurs. Wie bei gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen setzt die Kunst auch in der ökologischen Debatte einen eigenständigen Akzent. Künstlerinnen und Künstler operieren mit starken visuellen und inhaltlichen Argumenten. Dies funktioniert umso schlüssiger, wenn es mit wissenschaftlichen Kenntnissen einhergeht und von echtem Verständnis und Interesse getragen wird. So gibt sich Otobong Nkanga nicht der weit verbreiteten Illusion hin, Energie könne erneuert werden. Stattdessen arbeitet sie die Realität heraus: Energie kann weder entstehen, noch verschwinden. Der Mensch ist Teil eines grossen energetischen Kreislaufs. Greift er in natürliche Abläufe ein, so bleibt dies nicht folgenlos. Ressourcen wie Bodenschätze und intakte Biotope sind Teil eines komplexen Systems. Ihr potenzieller Wert ist nicht isoliert zu bemessen, sondern nur abhängig von vielen anderen Faktoren.
Otobong Nkanga lebt in Antwerpen. Geboren ist die Künstlerin 1974 in Kano in Nigeria. Sie studierte Kunst zuerst in Ife in Nigeria und anschliessend an der Akademie in Paris. Seither sind ihre Arbeiten in international renommierten Institutionen und Grossausstellungen zu sehen, darunter in der Tate Modern in London, dem Stedelijk Museum in Amsterdam, den KW in Berlin, an der Biennale Venedig, der Biennale Sydney und an der vergangenen Documenta in Athen und Kassel. Es ist fast schon folgerichtig, dass Nkangas Arbeiten nun im Kunsthaus Bregenz zu sehen sind, hat das Haus sich doch den Ruf erarbeitet, international bedeutende Positionen zu präsentieren und nicht nur das: Immer wieder ermöglicht es die Vorarlberger Institution den Künstlerinnen und Künstlern, neue, eigens für das Haus entwickelte Installationen zu realisieren. Das hat sich einerseits zum Markenzeichen etabliert, ist aber andererseits der Architektur des Kunsthauses geschuldet.
Der formalen Strenge, Kraft und Klarheit von Peter Zumthors Gebäude lässt sich nur bedingt mit Standardausstellungen antworten. Stattdessen fordert es heraus, mit der Sprache des Baus in einen Dialog zu treten, sie neu zu interpretieren oder sie für die eigene Arbeit fruchtbar zu nutzen. Otobong Nkanga hat sich für letztgenanntes entschieden. Die Künstlerin fasst alle vier Stockwerke des Hauses mit grosser Geste zusammen. Die Menge der Materialien dafür ist gewaltig und wird, so versichert das Kunsthaus Bregenz, nach dem Ende der Ausstellung weiterverwendet oder in die Natur zurückgebracht: über 50 Tonnen Lehm, Sand, Erde und eine abgestorbene Weisstanne von 33 Metern Länge. Da sind die insgesamt 14 Meter langen Stücke eines 6 Meter breiten Wandteppichs mit 140 Farbtönen beinahe schon Beiwerk. Tatsächlich aber sind sie der Schlüssel dieser Ausstellung. Sie wurden eigens für die gewaltigen Betonwände des Kunsthauses angefertigt in Zusammenarbeit mit dem TextielMuseum im niederländischen Tilburg. Sie sind aufwendig hergestellt, prachtvoll, reich an Farben und Materialien. Das Sujet jedoch unterläuft die Schönheit.
Die Tapisserien zeigen über die vier Etagen hin einen Schnitt durch die Welt vom Grund des Ozeans bis hinauf zum brennenden Wald. Ohne sich in Naturalismus zu verfangen, sondern in einer eigens entwickelten Ästhetik erzählen sie eine Geschichte der Ausbeutung: Bodenschätze werden heraufgeholt, Fischernetze durchschneiden das Blau, menschliche Körperteile sinken herunter oder verfangen sich in den Netzen. Dem Drama des Meeres antwortet zuoberst die Erdoberfläche in flammenden Rottönen. Den verbrannten Wipfel der Weisstanne hätte dieses Bild kaum noch gebraucht, um von der erhitzten Erde zu erzählen. Der Baumstamm ist so eingepasst in alle Stockwerke, dass er nicht aussieht wie zersägt, sondern als dringe er selbst durch Decken und Böden hindurch vom Erdgeschoss bis ins dritte Obergeschoss. Dort ist nicht nur die Baumtorso verkohlt, sondern zudem sind Erde und Lehm zu einer Kraterödnis aufgehäufelt – ein ebenso expliziter wie drastischer Verweis, was der Raubbau an den natürlichen Ressourcen anrichtet. Otobong Nkanga beherrscht jedoch auch die leiseren Töne: In Glaskugeln richtet sie kleine autonome Biotope ein. Hier sollen Keimlinge der Weisstanne gedeihen – gibt es also noch Hoffnung?

Hochkarätiges in kleinen Räumen

Die Sammlung der Schweizer Galeristin Wilma Lock im Kunstmuseum Appenzell

Kabinette statt Säle, Gutes statt vordergründig Auffälliges – die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Appenzell präsentiert Räume und Inhalte in stimmigem Verhältnis. Arbeiten von Erwin Wurm, Imi Knoebel, Bernard Frize, Franz Erhard Walther, Roman Signer und weiteren fünfundzwanzig Künstlerinnen und Künstlern sind zu sehen. Alles fügt sich aufs Beste zueinander, ohne eine Chronologie darzustellen, einzelne Höhepunkte zu inszenieren oder Gewichtungen vorzuschlagen. Das passt, denn so ist die gezeigte Auswahl auch entstanden: nicht spekulativ, nicht mit dem Blick auf einzelne spektakuläre Werke, sondern mit grosser Konstanz und einem untrüglichen Gespür für künstlerische Qualität. Hinter dem Titel «Unerkannt – Bekannt» verbirgt sich die private Sammlung der Galeristin Wilma Lock. Vierzig Jahre lang, von 1969 bis 2009, führte sie in St.Gallen ihre Programmgalerie und agierte als Förderin und Vermittlerin für die von ihr vertretenen Positionen. Manche hat sie als erste in die Schweiz geholt, vielen durch ihren andauernden Einsatz zur verdienten Aufmerksamkeit verholfen und anderen von der Schweiz aus den Aufbruch in die internationale Szene ermöglicht. Die Ausstellung ist die Summe einer kontinuierlichen Arbeit für die Kunst.

Heimspiel – Die Triennale der Ostschweiz

Das Heimspiel ist längst eine Konstante im Ostschweizer, Vorarlberger und Liechtensteiner Ausstellungsbetrieb – und erfindet sich doch jedes Mal neu. Der dreijährliche Rhythmus ist geblieben, geändert haben sich mit der dreizehnten Ausgabe einmal mehr die Ausstellungsorte und neu auch das kuratorische Konzept: In diesem Jahr wurden die über 400 eingereichten Bewerbungen nicht mehr von einem externen Gremium juriert, sondern von den Kuratorinnen und Kuratoren der beteiligten Häuser, die daraus für jedes Haus eine thematische Ausstellung entwickeln. Den ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern soll so die Möglichkeit geboten werden, aktuelle Werkgruppen zu realisieren, die sich in präzisen und fokussierten Präsentationen zusammenfügen. Zu sehen ist das «Heimspiel» vom 11. Dezember bis Ende Januar 2022 in der Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell, im Kunstraum Dornbirn, im Kunsthaus Glarus, in der Kunst Halle Sankt Gallen und im Kunstmuseum St.Gallen. Zudem können neu alle Künstlerinnen und Künstler, die sich beworben haben, ihr Atelier im Rahmen des Heimspiels an einem gemeinsamen Wochenende öffnen.

Kammer des Ephemeren

Lesen ist Arbeit. Lesen hinterlässt Spuren. Nicht nur im Hirn, sondern auch im Buch. Manfred Holtfrerichs Exemplar von Adornos «Ästhetische Theorie» zeugt von intensiver Lesearbeit. Handschriftliche Notizen, Unterstreichungen, farbliche Markierungen: wieder und wieder hat der Hamburger Künstler den umfangreichen Text durchpflügt, seinen Gehalt wieder und wieder seziert – bis daraus eine dichte, ästhetische Antwort auf Adornos Theorie entstanden ist. Digital vergrössert, bearbeitet und ausgedruckt sind nun 48 Seiten daraus in der Chambre Directe – Schubiger installiert. Der kleine OffSpace, neben Metzgerei, Änderungsschneiderei und Bäcker im St.Galler Osten, wird vom Künstler und Kurator Felix Boekamp betrieben. Er präsentiert hier seit anderthalb Jahren vorzugsweise Ephemera in sehenswerten Kontexten. So kombiniert er beispielsweise Holtfrerichs Arbeit mit Karin Sanders «Office Works». Die Künstlerin hat A4-Druckerpapier mit Karteireitern gespickt. Einzeln, zu zweit, zu dritt und in erstaunlich vielen Farben tauchen die kleinen Bürokratiehelferlein an den Papierrändern auf. Während bei Holtfrerich die Markierungen auf den Inhalt reagieren, entsteht der Rhythmus hier auf dem leeren Blatt. Gemeinsam ist beiden der persönliche Code, der in ein ästhetisches Notationssystem mündet.

Lecken statt Kaufen – Gestalten statt Verharren

Martina Morger hat den Manor-Kunstpreis erhalten, dank oder trotz ihrer Konsumkritik. Die Performance- und Installationskünstlerin setzt sich mit der Leistungsgesellschaft und ihren Kaufanreizen auseinander. Oft arbeitet sie dafür mit Vorhandenem: Sie transformiert ihre Ausgangsmaterialien nur minimal, setzt aber wirkungsvoll Assoziationsketten in Gang.

Schaufenster sind Vitrinen des Konsums. Die Dinge sind darin ausgestellt, aber dem Zugriff entzogen. Anders als im Museum sind sie jedoch zu haben. Theoretisch – wenn das nötige Geld vorhanden ist und wenn nicht gerade ein Ausnahmezustand herrscht. So wie im vergangenen Jahr im Frühling. Martina Morger war kaum in Paris angekommen für das Auslandsatelier der Visarte, als in Frankreich Geschäfte, Kultur- und Sportinstitutionen schliessen mussten und das gesamte öffentliche Leben stark eingeschränkt wurde. Die maximal erlaubte tägliche Aufenthaltsdauer ausserhalb der eigenen Wohnung war auf eine Stunde begrenzt, die Entfernung vom Wohnort auf 500 Meter. Den Aufenthalt deswegen abbrechen? Martina Morger ist in Paris geblieben. Die völlig unerwartete, nie dagewesene Situation bedeutete auch für sie einen starken Einschnitt, dem sie sich jedoch nicht tatenlos ergab. Morger reflektierte Umstände und Auswirkungen des Ausnahmezustandes und entwickelte daraus unter anderem jene Arbeit, für die sie mit dem Manor-Kunstpreis ausgezeichnet worden ist: Das Video «Lèche Vitrines», 2020 zeigt die Künstlerin durch die Pariser Strassen streifend, hie und da vor einem Schaufenster stehenbleibend und die Scheibe ableckend.

Infrastrukturen des Kaufens

Morger hat sich Geschäfte ausgesucht, deren Sortiment ebenso begehrenswert wie unerreichbar war: «Da lagen Windbeutel, Süssigkeiten, Austern, vergängliche Dinge, aber die Degustation war nicht möglich». Alles blieb Verheissung hinter der grossen Glasscheibe. Auch bei Schmuck- und Uhrengeschäften, Buchläden, Reise- und Immobilienbüros hielt die Künstlerin an und zeichnete den Umriss eines begehrenswerten Objektes oder einer Anzeige mit der Zunge nach: «Ich verknüpfe damit zwei Bedeutungsebenen und hinterfrage das Heilen durch Konsum: Das Lecken ist eine Geste des Verlangens, aber auch des Heilens. Elterntiere heilen und pflegen auf diese Weise ihre Jungen.» Zugleich kann die Scheibe als die sprichwörtliche gläserne Decke interpretiert werden: Das Ziel ist klar zu sehen, aber dennoch nicht so einfach zu erreichen oder gar zu haben.
Themen rund um Leistung, Konsum, Kaufanreize und die entsprechenden Infrastrukturen stehen im Zentrum der Ausstellung. Einmal mehr entpuppt sich die postmoderne Architektur im Untergeschoss des Kunstmuseum St.Gallen als trefflich geeignet für die zeitgenössische Kunst. Kuratorin Nadia Veronese hatte Martina Morger eingeladen selbst zu entscheiden, ob sie im Obergeschoss mit dem repräsentativen Oberlichtsaal, im Erdgeschoss mit seinen gut proportionierten Räumen oder im postmodernen Untergeschoss ausstellen wolle. Für Martina Morger war klar, «es zieht mich zur brutalistischen Form hin. Und der räumliche Kontext ist wichtig bei einer situativen Arbeit». So deklarierte sie den Durchgang neben der 1987 brachial ins Museum gebauten Rampe zur «Passage», 2021. Nicht irgendeiner Passage, sondern einer Einkaufspassage oder dem, was davon übriggeblieben ist. Drei leere, aus der Zeit gefallene Vitrinen flackern hier vor sich hin. Sie sind fast leer. Zumindest Konsumartikel, nach denen sich die Finger oder wie im Falle von «Leches Vitrines» die Scheibe abschlecken liesse, gibt es hier nicht mehr. Stattdessen hängen Leuchtstoffröhren schief herunter, die Glastablare sind verstaubt und übriggebliebene Reklamezettel zerknittert.

Qualitäten ausgedienter Dinge

Der Konsum ist aus- und die Tristesse eingezogen. Aber nicht nur, denn die leeren Vitrinen entfalten eine neue Präsenz als Körper im Raum. Plötzlich wird ihre Formensprache interessant. Tatsächlich sind die Vitrinen ein Objet Trouvé aus der Provinz. Die Künstlerin verleiht ihnen mit dem eigens installierten, flackernden Licht ein zweites, vom Konsum unabhängiges Leben.
Morger hat eine grosse Affinität zu ausgemusterten, aus der Zeit gefallenen Dingen. Schon in Paris sind ihr besonders jene Geschäfte ins Auge gestochen, «in deren Schaufenstern die Zeit stehen geblieben ist, die wie vergessen anmuten». Für «Prospects: Sugar Beach», 2021 hat sie hellblaues und gelbes Silikon in ein ausgedientes Behältnis für Reiseprospekte gegossen. Es bedeckt kaum mehr als den Boden der einzelnen Fächer und weckt mühelos die Erinnerung an ein Schlückchen Meer, ein Quadratzentimeterchen Sand oder ein Quentchen Sonnenuntergang. Oder doch nur an Plastik, das Strand und Meer verschmutzt? Die zurückhaltende Schönheit der Arbeit ist ebenso doppeldeutig wie ihr Titel, ist doch Prospekt unter anderem die Bezeichnung für ein Druckerzeugnis, eine Aussicht oder einen Theaterhintergrund.

Platz für Performances

Auch im Kunstmuseum St.Gallen selbst ist Morger auf Ausrangiertes gestossen: Ein nicht mehr benutztes Geländer rückt sie neu ins Blickfeld: Der Handlauf führt schräg an der Wand entlang, wie die meisten Handläufe neben Treppen. Aber hier ist keine Treppe. Martina Morger lenkt mit dem funktionslos gewordenen Geländer die Aufmerksamkeit auf die Geschichte des Museums: «Was war vorher im Gebäude? Was hat sich getan?» Zugleich ist das Geländer verbleibender Teil der Performance «So Long», 2021, die noch vor der eigentlichen Ausstellungseröffnung aufgeführt wurde und nun nur noch als Nennung im Saaltext existiert – als rätselhafter Auftritt des Schondagewesenen, für immer Verpassten. Ebenso abwesend und dauerhaft zugleich manifestiert sich die Performancekunst in «On Curating», 2018. Mit Absperrungen des Museums ist ein leerer Platz freigehalten für eine künftige Performance. Die Daseinsberechtigung der ephemeren Kunst ist Morger ein wichtiges Anliegen: «Performances finden zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort statt. Das verlangt Kapazität des Publikums.» Es muss sich einlassen und muss diese Möglichkeit aber zuerst einmal erhalten. Dafür sorgt der abgegrenzte und damit reservierte Platz. Ausserhalb der Performance, die meiste Zeit also, ist er als Raum im Raum zu sehen.

Leistung als Zuwendung

«Cleaning Her», 2021 wiederum weist Parallelen auf zu «Lèche Vitrines»: Die Künstlerin bewegt sich für diese Performance zu verschiedenen Stationen im Aussenraum; die Handlung konzentriert sich vollständig zwischen Künstlerin und Objekt. In diesem Falle putzt sie sieben Werke im öffentlichen Raum. Säubern als Geste der Zuwendung, Pflege als Aufmerksamkeit und Wertschätzung, Dienstleistung mehr als Dienst, denn als Leistung – Martina Morger schreibt die Kontexte neu und definiert einen grossen Auftrag: «Ein Vorschlag, wie wir unser Zusammenleben gestalten: Das sollte Kunst sein.»

Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit der Künstlerin am 10. September 2021 im Kunstmuseum St.Gallen.

Hochkarätiges ebenbürtig

«Unerkannt – Bekannt. Zeitgenössische Kunst aus einer Ostschweizer Sammlung» verwandelt das Kunstmuseum Appenzell in ein Museum für internationale Gegenwartskunst. Die Werke wurden in vier Jahrzehnten von einer Sammlerin und Galeristin zusammengetragen.

Eine Kabinettsausstellung, und was für eine! Die Namen sind hochkarätig. Erwin Wurm ist vertreten und Imi Knoebel, Bernard Frize ebenso wie Roman Signer, Franz Erhard Walther genauso wie Franz West. Aber ums Namedropping geht es bei dieser Ausstellung nicht. Es geht um die Kunst. Um sie ging es immer in dieser Sammlung, die jetzt im Kunstmuseum Appenzell zu sehen ist. Um die Kunst, die Künstlerinnen und noch etwas mehr um die Künstler, ihre Kraft, ihre Innovation und ihren Gestaltungswillen. Deshalb ist das Kunstmuseum Appenzell für diese Sammlung der beste Ort. Diese Architektur dient der Kunst. Sie bietet die idealen Räume, die richtigen Dimensionen und Proportionen. In der Abfolge der zehn Kabinette werden keine Höhepunkte oder Hierarchien inszeniert; der Sammlung wird keine Dramaturgie übergestülpt. Alles ist gleich gut, sehr gut sogar.

Schlingen im Quadrat

Dass die Ausstellung mit Bernard Frize bereits im Foyer des Hauses beginnt, widerspricht keinesfalls dem Gedanken Ebenbürtiges ebenbürtig zu zeigen. Stattdessen ist das Gemälde von Frize ein symbolischer Auftakt, für alles Folgende: Eine breite, nahezu monochrome Farbbahn verschlingt sich auf der quadratischen, schwarzen Fläche. Keine Spur gewinnt die Oberhand, alle sind gleichwertig, aber niemals langweilig. Die Farbbahn verwebt sich zu einem Spannungsfeld, zu einem Bildraum, dem ein Zeitraum entspricht: Ein Verlauf zeichnet sich ab, ohne dass Anfangs- oder Endpunkt zu sehen sind. Stattdessen sind Annäherung und Abstand wichtig, auch Kreuzungspunkte und Schlaufen. Der Künstler konstruiert mit der Farbbahn ein Kontinuum, in dem Stabilität genauso bedeutsam ist wie Abwechslung und in dem jedes Element am richtigen Platz ist. Damit entspricht Frizes Gemälde dem Charakter der Ausstellung und diese wiederum ihrer Ausgangslage: Die gezeigte Sammlung ist die der Galeristin Wilma Lock. Mit 24 Jahren zog die gebürtige Appenzellerin aus, um ihre Berufung zu finden: die internationale zeitgenössische Kunst.

Vermittlerin und Galeristin

Sie gründete in St.Gallen ihre Galerie und führte sie bis 2009. Vielen galt sie als eine der besten Programmgalerien der Schweiz, in ihr waren künstlerische Entdeckungen möglich. Lock holte internationale Künstler in die Schweiz, forderte und förderte die von ihr vertretenen Positionen. So verstand sie die Arbeit einer Galeristin auch als diejenige einer Vermittlerin, die ihre Kunstbegeisterung weiterträgt und anderen zugänglich werden lässt. Genau das passiert nun auch mit dieser Ausstellung. Sie spiegelt Wilma Locks Kennerauge für die Kunst und ihre Beharrlichkeit: Diese Sammlung ist erarbeitet. Die gezeigten Stücke wurden über einen langen Zeitraum zusammengetragen und die künstlerische Qualität war dabei stets das wichtigste Kriterium. Deshalb passen diese Werke nun auch so gut zusammen; in den meisten Räumen treffen mehrere Positionen aufeinander, andere sind einem Künstler und seinen Arbeiten vorbehalten.

Blicke aus dem Museum

Malerei hat ein starkes Gewicht, aber auch die dreidimensionale Kunst hat ihren Platz. Fotografie bekommt ihren Platz durch Kelly Wood und Liddy Scheffknecht, die zugleich die einzigen Frauen in der Ausstellung sind. Wood vertritt die konzeptuelle Fotografie mit ihrer Serie der fotografieren Abfallsäcke als Abbild einer Lebenszeit, und Scheffknecht reduziert eingerüstete Architektur auf das Gerüst – die Struktur wird zur eigentlichen Konstruktion im Bild. Anderen Positionen gelingt dank der Architektur eine unerwartete Symbiose: Xavier Noiret-Thomés Arbeiten wurden so platziert, dass der Blick von den üppigen Bildern unwillkürlich zum Fenster hinaus schweift, zur reich geschmückten Hausfassade, zur bunt zusammengewürfelten Infrastruktur. So eröffnet Kunst neue Sichtweisen auf das Bekannte. Wenn letzteres auf diese Weise neue Erkenntnisse vermittelt, erfüllt sich das Ausstellungsmotto einmal mehr.