Lecken statt Kaufen – Gestalten statt Verharren
by Kristin Schmidt
Martina Morger hat den Manor-Kunstpreis erhalten, dank oder trotz ihrer Konsumkritik. Die Performance- und Installationskünstlerin setzt sich mit der Leistungsgesellschaft und ihren Kaufanreizen auseinander. Oft arbeitet sie dafür mit Vorhandenem: Sie transformiert ihre Ausgangsmaterialien nur minimal, setzt aber wirkungsvoll Assoziationsketten in Gang.
Schaufenster sind Vitrinen des Konsums. Die Dinge sind darin ausgestellt, aber dem Zugriff entzogen. Anders als im Museum sind sie jedoch zu haben. Theoretisch – wenn das nötige Geld vorhanden ist und wenn nicht gerade ein Ausnahmezustand herrscht. So wie im vergangenen Jahr im Frühling. Martina Morger war kaum in Paris angekommen für das Auslandsatelier der Visarte, als in Frankreich Geschäfte, Kultur- und Sportinstitutionen schliessen mussten und das gesamte öffentliche Leben stark eingeschränkt wurde. Die maximal erlaubte tägliche Aufenthaltsdauer ausserhalb der eigenen Wohnung war auf eine Stunde begrenzt, die Entfernung vom Wohnort auf 500 Meter. Den Aufenthalt deswegen abbrechen? Martina Morger ist in Paris geblieben. Die völlig unerwartete, nie dagewesene Situation bedeutete auch für sie einen starken Einschnitt, dem sie sich jedoch nicht tatenlos ergab. Morger reflektierte Umstände und Auswirkungen des Ausnahmezustandes und entwickelte daraus unter anderem jene Arbeit, für die sie mit dem Manor-Kunstpreis ausgezeichnet worden ist: Das Video «Lèche Vitrines», 2020 zeigt die Künstlerin durch die Pariser Strassen streifend, hie und da vor einem Schaufenster stehenbleibend und die Scheibe ableckend.
Infrastrukturen des Kaufens
Morger hat sich Geschäfte ausgesucht, deren Sortiment ebenso begehrenswert wie unerreichbar war: «Da lagen Windbeutel, Süssigkeiten, Austern, vergängliche Dinge, aber die Degustation war nicht möglich». Alles blieb Verheissung hinter der grossen Glasscheibe. Auch bei Schmuck- und Uhrengeschäften, Buchläden, Reise- und Immobilienbüros hielt die Künstlerin an und zeichnete den Umriss eines begehrenswerten Objektes oder einer Anzeige mit der Zunge nach: «Ich verknüpfe damit zwei Bedeutungsebenen und hinterfrage das Heilen durch Konsum: Das Lecken ist eine Geste des Verlangens, aber auch des Heilens. Elterntiere heilen und pflegen auf diese Weise ihre Jungen.» Zugleich kann die Scheibe als die sprichwörtliche gläserne Decke interpretiert werden: Das Ziel ist klar zu sehen, aber dennoch nicht so einfach zu erreichen oder gar zu haben.
Themen rund um Leistung, Konsum, Kaufanreize und die entsprechenden Infrastrukturen stehen im Zentrum der Ausstellung. Einmal mehr entpuppt sich die postmoderne Architektur im Untergeschoss des Kunstmuseum St.Gallen als trefflich geeignet für die zeitgenössische Kunst. Kuratorin Nadia Veronese hatte Martina Morger eingeladen selbst zu entscheiden, ob sie im Obergeschoss mit dem repräsentativen Oberlichtsaal, im Erdgeschoss mit seinen gut proportionierten Räumen oder im postmodernen Untergeschoss ausstellen wolle. Für Martina Morger war klar, «es zieht mich zur brutalistischen Form hin. Und der räumliche Kontext ist wichtig bei einer situativen Arbeit». So deklarierte sie den Durchgang neben der 1987 brachial ins Museum gebauten Rampe zur «Passage», 2021. Nicht irgendeiner Passage, sondern einer Einkaufspassage oder dem, was davon übriggeblieben ist. Drei leere, aus der Zeit gefallene Vitrinen flackern hier vor sich hin. Sie sind fast leer. Zumindest Konsumartikel, nach denen sich die Finger oder wie im Falle von «Leches Vitrines» die Scheibe abschlecken liesse, gibt es hier nicht mehr. Stattdessen hängen Leuchtstoffröhren schief herunter, die Glastablare sind verstaubt und übriggebliebene Reklamezettel zerknittert.
Qualitäten ausgedienter Dinge
Der Konsum ist aus- und die Tristesse eingezogen. Aber nicht nur, denn die leeren Vitrinen entfalten eine neue Präsenz als Körper im Raum. Plötzlich wird ihre Formensprache interessant. Tatsächlich sind die Vitrinen ein Objet Trouvé aus der Provinz. Die Künstlerin verleiht ihnen mit dem eigens installierten, flackernden Licht ein zweites, vom Konsum unabhängiges Leben.
Morger hat eine grosse Affinität zu ausgemusterten, aus der Zeit gefallenen Dingen. Schon in Paris sind ihr besonders jene Geschäfte ins Auge gestochen, «in deren Schaufenstern die Zeit stehen geblieben ist, die wie vergessen anmuten». Für «Prospects: Sugar Beach», 2021 hat sie hellblaues und gelbes Silikon in ein ausgedientes Behältnis für Reiseprospekte gegossen. Es bedeckt kaum mehr als den Boden der einzelnen Fächer und weckt mühelos die Erinnerung an ein Schlückchen Meer, ein Quadratzentimeterchen Sand oder ein Quentchen Sonnenuntergang. Oder doch nur an Plastik, das Strand und Meer verschmutzt? Die zurückhaltende Schönheit der Arbeit ist ebenso doppeldeutig wie ihr Titel, ist doch Prospekt unter anderem die Bezeichnung für ein Druckerzeugnis, eine Aussicht oder einen Theaterhintergrund.
Platz für Performances
Auch im Kunstmuseum St.Gallen selbst ist Morger auf Ausrangiertes gestossen: Ein nicht mehr benutztes Geländer rückt sie neu ins Blickfeld: Der Handlauf führt schräg an der Wand entlang, wie die meisten Handläufe neben Treppen. Aber hier ist keine Treppe. Martina Morger lenkt mit dem funktionslos gewordenen Geländer die Aufmerksamkeit auf die Geschichte des Museums: «Was war vorher im Gebäude? Was hat sich getan?» Zugleich ist das Geländer verbleibender Teil der Performance «So Long», 2021, die noch vor der eigentlichen Ausstellungseröffnung aufgeführt wurde und nun nur noch als Nennung im Saaltext existiert – als rätselhafter Auftritt des Schondagewesenen, für immer Verpassten. Ebenso abwesend und dauerhaft zugleich manifestiert sich die Performancekunst in «On Curating», 2018. Mit Absperrungen des Museums ist ein leerer Platz freigehalten für eine künftige Performance. Die Daseinsberechtigung der ephemeren Kunst ist Morger ein wichtiges Anliegen: «Performances finden zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort statt. Das verlangt Kapazität des Publikums.» Es muss sich einlassen und muss diese Möglichkeit aber zuerst einmal erhalten. Dafür sorgt der abgegrenzte und damit reservierte Platz. Ausserhalb der Performance, die meiste Zeit also, ist er als Raum im Raum zu sehen.
Leistung als Zuwendung
«Cleaning Her», 2021 wiederum weist Parallelen auf zu «Lèche Vitrines»: Die Künstlerin bewegt sich für diese Performance zu verschiedenen Stationen im Aussenraum; die Handlung konzentriert sich vollständig zwischen Künstlerin und Objekt. In diesem Falle putzt sie sieben Werke im öffentlichen Raum. Säubern als Geste der Zuwendung, Pflege als Aufmerksamkeit und Wertschätzung, Dienstleistung mehr als Dienst, denn als Leistung – Martina Morger schreibt die Kontexte neu und definiert einen grossen Auftrag: «Ein Vorschlag, wie wir unser Zusammenleben gestalten: Das sollte Kunst sein.»
Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit der Künstlerin am 10. September 2021 im Kunstmuseum St.Gallen.