Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Bilder finden, ohne zu suchen

Das Kunstmuseum Thurgau zeigt die Ausstellung «MONDIA» von Harald F. Müller. Der Künstler lädt zu einer Reise durch Farbräume und Bildwelten ein.

Harald F. Müller untersucht Farben und Bilder – das mutet zunächst einmal wenig aufregend an. Farben und Bilder gibt es schliesslich überall. Aber genau da beginnt Müllers Arbeit. Der in Singen lebende Künstler analysiert beides umfassend: Wo und wie bewusst wird Farbe eingesetzt? Wie präsent sind Farbe und Bilder? Welche Wechselwirkungen treten auf und wodurch werden sie beeinflusst? Müller beschäftigt sich sowohl mit Gemälden grosser Meister wie Tizian, Cézanne oder Matisse als auch mit Farben und Bildern im Alltag: Ein Rücklicht, ein Hoftor, Autokennzeichen, ein Gabelstapler – alles ist farbig, man muss nur hinschauen.

Farbe überall

Harald F. Müller schaut hin. In seiner aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau in der Karthause Ittingen zeigt er auf drei Monitoren Videoaufnahmen von Brachen, Industriegebieten und Hafenanlagen. Gefilmt sind sie aus einem Auto heraus, untermalt mit der Musik aus dem Autoradio: ebenso beiläufig und doch passend. Ein roter Lastkraftwagen kommt ins Bild, ein blauer, dann der blaue Himmel über grauem Beton. Mal übernimmt der Himmel die Rolle der Farbe, mal der Sonnenschutzstreifen an der Frontscheibe. Durch die Kamera des Künstlers wird die Rückseite eines blauen Überseecontainers ebenso zum Gemälde wie die Streifen einer Flagge. Die Dinge sind weniger Gegenstand als Farbe. Der Alltag zeigt seine gestalterische Qualität. Auch die Schrift gehört dazu. «Asmobax» und «Attrans» steht auf vorbeifahrenden Transportern. Diese abstrakten Wörter leiten über zu dem riesigen Schriftzug «AICNOM» an der Eingangswand der Ausstellung. Die sechs Buchstaben prangen massiv, blau, schwebend vor einer orange-roten Wand und verweisen fast exakt spiegelbildlich auf den Ausstellungstitel «MONDIA». Harald F. Müller entdeckte das Wort bei Recherchen im Archiv der Aluminium-Walzwerke Singen auf einer Fotografie. Es ist Firmen- und Markenname, lässt aber auch als «Mon Dia», also «meine Fotografie» lesen und bedeutet auf Rumänisch «Welt». Und nichts weniger als die Welt findet sich Müllers Arbeit.

Fülle der Bilder

Der Künstler sichtet tausende Abbildungen in Magazinen, Prospekten und Büchern. Die massenhaft publizierten Druckerzeugnisse bieten ebenso wie die digitalen Medien ein unerschöpfliches wie unübersichtliches Bilderreservoir. Künstlerinnen und Künstler suchen immer wieder Strategien, um diese Bilderflut zu kanalisieren, sie sich anzueignen oder sie zu überwinden. Harald F. Müller geht einen radikalen Weg: Aus der grossen Fülle hat er zwei Bilder ausgewählt. Diese beiden installiert er in hundertfacher Vergrösserung vor der Wand schwebend im Ausstellungsraum. Auf dem einen ist ein seltsam stiller Moment im Wiener Prater zu sehen und auf dem anderen ein Handgemenge unter Anzugträgern. Die Bildlegenden «Prater» und «Japan II» verraten wenig. Warum diese beiden Bilder? Wie hängen sie zusammen? Die Antwort gibt die Kunst: Der Künstler wählt aus, bestimmt die Vergrösserung und Anordnung. Er stellt den Zusammenhang her und zeigt seine persönliche Sicht in einem räumlichen und farblichen Zusammenhang.

Architektur und Farbe

Die Wände des Ausstellungsraumes nehmen die Farben der Kunst auf und gehören bei Harald F. Müller zu einem künstlerischen Gesamtkonzept. Dies zeigt sich in der Kartause Ittingen besonders schlüssig, hat der Künstler doch hier das Untere Gästehaus gestaltet. Es ist in der Ausstellung in Fotografien des Konstanzers Guido Kasper zu sehen und auch unabhängig von der Ausstellung zugänglich.

Grosse Formate in der Lok

St.Gallen — Alles trifft mit allem zusammen. Landschaft, Interieur, Kitsch, Renaissance, Prestigeobjekte, Gekrakel – Michael Williams (*1978) macht keine Unterschiede. Er sucht sich fotografische, illustrative, künstlerische Motive, kombiniert sie mit eigenen Zeichnungen oder Malereien und setzt alles am Bildschirm zusammen. Manchmal konstruiert er aus dem Material einen Bildraum. Ein anderes Mal verwebt er es zu einem Teppich gleichwertiger Motive. Ausgedruckt auf Leinwand werden diese Bildentwürfe zum Anlass für neue Malerei: Der US-amerikanische Künstler kittet mit Farbe Schnittstellen, schafft neue Übergänge zwischen den Motiven, legt Farblasuren darüber, so dass die reale Malerei und die ausgedruckten Gemälde symbiotisch ineinander fliessen. Zweifelsohne, diese Bilder können verführen. Sie passen perfekt zur aktuellen Art Bilder anzusehen, indem von einem Motiv zum nächsten geklickt oder gewischt wird. Sie sind dicht, reich an Anspielungen, spannungsvoll arrangiert und farblich reizvoll. Aber sind sie auch sie richtigen Arbeiten für die Lokremise? Der industrielle Raum mit seinem aussergewöhnlichen Grundriss, seiner Höhe und seiner durchgehenden halbrunden Fensterfront braucht grosse Gesten, damit Reibung stattfinden kann. Williams´ Gemälde wirken trotz ihrer vier Meter Breite darin etwas brav.

Spielpaare – Porträts

BigZis – die Rapperin

Sprache hat ein dichtes Regelwerk. Sprache eignet sich zum Spielen. Grammatik und Phonetik können ad absurdum geführt, ignoriert oder repetitiv angewendet werden. Werden Freiheit und Regeln neu und spielerisch ausbalanciert, kann Sprache eine neue Qualität entfalten – so wie in den Songs von BigZis. Die Rapperin mit ausserrhodischen Wurzeln hat keine Kurse besucht und keine Bücher gelesen, sie hat vor dreissig Jahren einfach angefangen zu texten und kann sich auf ihre Erfahrung verlassen: «Ich arbeite mit meiner Sprache. Sie ist wie Musik, wie ein Instrument. Sprache und Klang müssen eins werden, das ist das Allerwichtigste.» Virtuos mischt sie Mundart und Fremdwörter bis Rhythmus und Ton stimmen. Aber auch der Inhalt kommt bei BigZis nicht zu kurz. Sie dreht die sexistische Attitüde des Rap radikal um und transportiert ihre eigene Sicht auf Rollen- und Geschlechterklischees – drastisch und unverblümt: «Ich bringe mit meinen Songs meine pointierte Meinung an die Öffentlichkeit.» Das ist auch deshalb so wirkungsvoll, weil BigZis als Künstlerin von sich selbst ausgeht: «Ich stecke immer drin. Ich trenne Kunst und Leben nicht.» Offensichtlich wird dies auch auf der Bühne: «Als ich meine drei Kinder bekam, hatte ich keine Zeit mehr für Proben. Also haben wir nur noch improvisierte Konzerte gespielt. Das hat meine Idee von Musik ebenso beeinflusst wie mein Schreiben. Es hat mich gelassener und selbstbewusster gemacht. Wenn es funktioniert, weil alles zusammenpasst, weil es einen gemeinsamen Bogen gibt, auf den wir uns verlassen können, und zugleich die Freiheit da ist, alles anders zu machen, dann ist alles ein Riesenspass, ein Spiel.»

Michel Kaufmann – der E-Sportler

Sport oder Spiel? Schliesst das einander aus? Nicht bei den olympischen Spielen. Beim Ballspielen auch nicht, ebenso wenig beim E-Sport. E-Sport ist jedoch jünger als Olympiaden oder Ballspiele, viel jünger. Und doch hat er inzwischen weltweite Präsenz. Die Basis des E-Sports sind Computerspiele. Aber an welchem Punkt wird aus dem Computerspiel ein Sport? Michel Kaufmann kennt die Kriterien und die Szene: «Wenn live Spieler gegen Spieler oder Teams gegen Teams antreten und es competitiv wird, dann ist es E-Sport.» Die Spieler – Männer dominieren hier eindeutig das Geschehen – nehmen an Turnieren teil, kämpfen um die Preisgelder und investieren viel Zeit in das Training: «Mindestens vier Stunden trainieren wir am Tag. Ein Spiel zieht sich oft über Jahre hin und wer seit zehn Jahren dasselbe Spiel spielt, wechselt nicht einfach zu einem anderen Titel.» Kaufmann vergleicht dies mit einem Fussballer, der auch nicht plötzlich Leichtathlet wird. Und wie beim Leistungssport geht es nicht mehr primär darum, Spass zu haben, sondern zu gewinnen: «Ein Spieler muss zu 100% fokussiert sein. Es gibt Ranglisten, auf denen man sich konzentriert hocharbeitet.» Kaufmann hat in Wald die E-Sport-Organisation Let´s Carry This gegründet. Ziel ist es, gute Spieler dem Team anzuschliessen und mit einem guten Team Sponsoren anzusprechen, welche die Reisen, Trikots oder die Turnierteilnahme finanziell unterstützen. Ein bis zwei Mal pro Monat nehmen Michel Kaufmann und seine Teamkollegen an einem Turnier teil. Derzeit noch von zu Hause aus. Aber in der oberen Liga locken dann Wettkämpfe vor Ort: «Das Publikum, die Atmosphäre, das Ambiente – das ist für Spieler sehr motivierend und viel emotionaler als alleine am Computer zu sitzen.»

Claudia Römmel und Moritz Wittensöldner – die Spieleerfinder

«Selber die Regeln zu bestimmen, ist Luxus.» Claudia Roemmel und Moritz Wittensöldner entwickeln Spiele: «Wir erfinden aus dem Nichts heraus Regeln und schauen, was passiert.» Getrieben sind die beiden von der Neugier, etwas zu gestalten, das Regeln hat und Freiheit bietet. Mit ihrem Spieleverlag Arte Ludens, ansässig in Trogen, haben sie bereits neun Spiele entworfen: «Wir sprechen kein Massenpublikum an, sondern Leute, die gern hirnen.» Erstaunt sind sie manchmal, wie gern die Menschen ein vorgegebenes Regelwerk haben: «Für viele ist die Anleitung wichtig, also fixieren wir die Regeln.» Nichtsdestotrotz sind ihre Spiele durchlässig: «Wir bekommen zwar regelmässig Rückfragen, ob unsere Spiele richtig gespielt werden. Aber die Regeln dürfen selbstverständlich ausgelegt oder neu verhandelt werden. Wichtig ist, dass alle einverstanden sind.» Das schliesst den Wettbewerb nicht aus: «Auch bei unseren Spielen geht es ums Gewinnen. Aber wir erfinden Mechanismen, damit diejenigen, die gut sind, auch mal ausgebremst werden, und die weniger Guten wieder aufholen können. Alles hat auch einen sozialen Aspekt.» – und einen Freude-Faktor: «Spiele für vier Personen kann man beispielsweise auch zu zehnt ausprobieren. Das gibt eine ganz neue Dynamik.» Manchmal gibt es in der Entwicklungsphase auch Haken, wenn etwa ein Spiel kein Ende findet. Dann wird getüftelt, bis es passt: «Unser längstes Spiel dauert eine Dreiviertelstunde, die meisten zwanzig bis dreissig Minuten.» Allen gemeinsam ist die Grösse der Schachtel und das Material: «Die Spielsteine sind stets aus Holz und nie in den klassischen Spielefarben rot, grün, gelb und blau.» Da stimmen Haptik und Ästhetik – auch so kommt Spielspass auf.

«Obacht Kultur», Ausgabe SPIEL, N° 40, 2021/2

Karin K. Bühler, Notizen einer Müssiggängerin, 2011

Laserprojektion im Foyer Stadttheater Lindau, umgesetzt im Rahmen der IBK 2011 in Lindau

Improvisation und Recherche – ein Widerspruch? Schliesslich erfordert das Eine, spontan zu agieren, sich einzulassen auf den Moment und auf die Idee. Das Andere hingegen erschliesst gezielt Inhalte, erweitert den individuellen oder kollektiven Wissens- und Bilderfundus. So sind auch für Karin K. Bühler Ausstellungen ein Anlass zur Auseinandersetzung mit den historischen und aktuellen Verflechtungen des Ortes. Die in Trogen lebende Künstlerin recherchiert, forscht, trägt Material zusammen – und entwickelt daraus Neues, Eigenes. Als Karin K. Bühler 2011 zur Künstlerbegegnung der Internationalen Bodensee Konferenz eingeladen wird ist dies nicht anders. Jedoch ist «Improvisation» das übergeordnete Thema. Wie also situativ interagieren mit Musik oder Darstellender Kunst? Ausgangspunkt ist für die 1974 geborene Künstlerin auch hier der Ort, das Stadttheater Lindau. Es war früher ein Salzlager, eine Turnhalle, ein Kloster. Vom inhaltlichen Reichtum ausgehend und simultan zur improvisierten Musik und Performance schreibt Karin K. Bühler mit dem Laserprojektor Wörter in den Raum. Leuchtende Textfragmente verflechten sich mit dem Klang und den schauspielerischen Darstellungen. Vorgegeben waren der Raum und die Typographie des Lasergerätes, frei sind die räumliche Setzung und der Inhalt. Projizierte Gedankensplitter, erzählerische Elemente fliessen über die Wände – der Raum verbindet sich spielerisch, spontan mit seiner Geschichte und einen gemeinsamen Moment lang mit Klang und Performance.

«Obacht Kultur», Ausgabe SPIEL, N° 40, 2021/2

Regula Engeler

Sichtbare Welt und unsichtbare Welt sind nicht scharf voneinander getrennt. Die Grenze ist fliessend, Konturen lösen sich langsam auf, Umrisse treten allmählich schärfer hervor. Diese Zone des Überganges ist nicht statisch – lässt sie sich überhaupt festhalten? Regula Engeler findet für diese unbestimmten Räume einen bildnerischen Ausdruck. Die 1973 geborene, in Bühler lebende Künstlerin arbeitet mit der Lochkamera. Diese analoge Technik nutzt ein einfallendes Lichtbündel und erlaubt es, ein gewähltes Motiv direkt und ohne Umwege wiederzugeben. Kombiniert mit Fotopapier kann das Objekt oder die Szenerie aufgenommen und festgehalten werden. Jedes Bild ist dabei einzigartig. Regula Engeler richtet ihren Blick auf Blumen und Pflanzen – zu Sträussen gebunden oder in der Natur; sie porträtiert Landschaftsausschnitte oder Innenräume, lässt die menschliche Figur in dieser Umgebung auftreten, ohne das Individuum herauszuheben. Die besondere Aufnahmeart enthebt die abgelichteten Motive einem profanen Wiedergabeanspruch. Sie leben von Unschärfen, verlieren sich in Überblendungen, vereinen sich mit dem Hintergrund, sind farblich nicht klar zu fassen. Regula Engelers Werke transportieren damit viel mehr als nur ihr eigenes Abbild. Die Bilder führen in eine Sphäre des Ungewissen und erweitern den Gedankenraum. Verborgenes, Stimmungen, Unaussprechliches kann Teil der Fotografie werden.

«Obacht Kultur», Sondernummer Kulturlandsgemeinde 2021

Christian Hörler, Steinbrüche, 2021

Installation mit Steinen, Holz, Recherchematerial, Zeichnungen

Der Mensch gestaltet die Erde um. Flüsse werden begradigt und wieder renaturiert. Berge werden durchbohrt und Felsen ausgehöhlt. Stück für Stück, Stein für Stein sprengt der Mensch Material aus der Erdkruste. Die Steinbrüche als drastische, oberirdische Zeichen des Eingriffes interessieren Christian Hörler besonders. Der in Wald, AR lebende Künstler sammelt Informationen über die Geschichte der Ostschweizer Steinbrüche und trägt übrig gebliebene Steinfragmente zusammen. Auch diese wiederum liefern ihm Informationen. Zugleich ist jeder der Steine ein Solitär, individuell in Gestalt, Oberflächenstruktur und Farbe.
Hörler, 1982 in Meistersrüte AI geboren, bewegt sich als Künstler zwischen einem ästhetischen und enzyklopädischen Anspruch. Einerseits zeichnet er die im Keller des Zeughauses Teufen ausgelegten Steine mit freiem, schnellen Strich. Andererseits hat er zwei Stockwerke darüber einen Handapparat eingerichtet mit Büchern, Fotografien und Broschüren zu den Steinbrüchen wie auch zu den daraus erstellten Bauten und der Bauplastik. Als Beispiel für letztere fungiert ein Sandsteinfundstück aus der Kirche in Trogen. Bindeglied zwischen beiden Stationen sind 650 Holzstäbe im Lichtschacht vor dem Zeughaus. Ein Grossteil der Stäbe steht auf dem Kellerboden und zeigt sich auch am oberen Ende der Stäbe als Fläche, ein kleinerer Teil steht auf einem der gefundenen Steine und ragt dementsprechend oben weiter heraus. Damit zeugt die Installation nicht nur von Hörlers Interesse an der Typologie der Steinbrüche, sondern auch von seinem bildhauerischem Gespür für Positiv- und Negativform.

«Obacht Kultur», Sondernummer Kulturlandsgemeinde 2021

Lucie Schenker, Ohne Titel, 1987

Im Jahre 1987 wurde das Regierungsgebäude des Kanton Appenzell Ausserrhoden in Herisau an die neuen Bedürfnisse der Verwaltung angepasst. Anlässlich des Umbaus wurde ein Kunst am Bau-Wettbewerb gestartet, zu dem eine Künstlerin und zwei Künstler eingeladen wurden. Lucie Schenker konnte den Wettbewerb für sich entscheiden mit einem eigens für den Eingangsbereich entwickelten Kunstwerk. Die räumliche Ausgangslage war eine Herausforderung, war die vorhandene Wand doch durch eine segmentierte Fensterwand in zwei Teile geteilt. Lucie Schenker entschied sich bei ihrem Entwurf, diese Teilung weder zu ignorieren noch dagegen zuarbeiten, sondern sie in ihr ortsspezifisches Werk aufzunehmen. Mit einer eigens entworfenen Arbeit ging sie auf den Raum ein und thematisierte Funktion und architektonische Gliederung.
Die Herisauer Arbeit der St.Galler Künstlerin funktionierte gleich einer Spiegelung. Die Glaswand bildete die Symmetrieachse, von der aus sich Teile der Arbeit nach rechts und nach links auf- bzw. absteigend fortsetzten. Andere Teile jedoch unterliefen diesen Gedanken der Spiegelung entlang der Symmetrieachse und sorgten im Rahmen der starken postmodernen Architekturelemente für neue Spannung. So lag das Bodenniveau auf den beiden Wandseiten unterschiedlich hoch. Die Glaswand sorgte einerseits für Transparenz und andererseits mit ihrer starken Gliederung für eine deutliche innenräumliche Trennung. Auf diese Zweiteiligkeit reagierte Lucie Schenker sowohl mit verbindenden als auch mit die Trennung akzentuierenden Elementen: Je 52 Drahtseile rechts und links antworteten einander. Diese Drahtseile entwickelten sich aus einem Drahtgeflecht, das beidseits den oberen Bereich des Kunst am Bau-Werkes bildete. Lucie Schenker arbeitete mit der Idee des Stahlgewebes auf der Basis ihrer eigenen professionellen Ausbildung: «Ich habe Textilentwerferin gelernt und habe Textilgestaltungen entworfen. Zu jenem Zeitpunkt meiner künstlerischen Arbeit habe ich mich stark mit dem Textilen auseinandergesetzt.» Zugleich thematisiert sie mit dem Verzicht auf einen herkömmlichen Webstoff die technische Anmutung der Architektur: «Das Drahtseil wirkt einerseits textil, bewahrt aber andererseits seinen technischen Charakter.»
Lucie Schenker arbeitete für das Drahtgewebe mit der Weberin Vreni Eckert zusammen, die zum Entstehungszeitpunkt des Kunstwerkes in St.Gallen tätig war. Eckert verwob die Drähte in Kette und Schuss miteinander, für die anspruchsvolle Arbeit musste sie Handschuhe tragen. Die senkrecht herabhängenden Kettdrähte wurden zu jeweils 52 Drahtseilen, die zunächst alle dieselbe Länge hatten. Diese gleich langen Drahtseile kürzte Lucie Schenker dann im Sinne ihres künstlerischen Gestaltungskonzeptes: Von der Eingangstür links herkommend verändert sie die Länge der einzelnen Drahtseile von sehr kurz zu lang – bis sie den Boden auf Höhe der Fensterwand erreichen. Im gegenläufigen Gestus verjüngten sich die Drahtseile auf der anderen Seite des Fensters von ebendieser Ebene aus nach oben hin.
Die Drahtseile sorgten für einen deutlichen Übergang von der Wandfläche zum Raum. Sie wirkten einerseits als flächige Gestaltung vor der Wand, waren jedoch andererseits selbst dreidimensional und mit einem deutlichen Abstand zur Wand montiert. Dieser Zwischenraum war dadurch ebenfalls Teil der Arbeit. Die Fläche löste sich auf und trat dank der gewebten Struktur und der jeweils 52 Schussfäden in den Raum über. Eine Betonung des Raumes erfolgte auch durch die farbigen Paneelen. Sie waren in türkis und grau gehalten und widersprachen dem Eindruck der Spiegelung: Auf der Seite der Glaswand dem Eingang zu waren die dreieckigen Formen leicht anders gesetzt als auf der Seite der Glaswand mit der Sitzgruppe. Diese war von vornherein hier vorgesehen und wurde von der Künstlerin beim Entwurf ihrer Arbeit mitbedacht. Lucie Schenker setzt mit den Paneelen sehr starke farbliche Akzente, die stilistisch aus der Entstehungszeit des Werkes heraus zu verstehen sind: «Ich habe die Farbigkeit ausprobiert und mit den Farbtönen auf die bauliche Situation reagiert.»
Aufgrund der Umbaumassnahmen im Jahr 2021 und der grundsätzlichen Umgestaltung des Eingangsbereiches des Regierungsgebäudes, wurde die Arbeit mit dem Einverständnis der Künstlerin entfernt und ihr wieder zurück gegeben.

Report, Kunst am Bau, Regierungsgebäude Appenzell Ausserrhoden, Herisau

Die Transformation im Galerieraum

Andrea Vogel zeigt aktuelle Werke in der Galerie Adrian Bleisch in Arbon. Sie sind teilweise für und in Arbon entstanden. Die performative und transformierende Arbeit der Künstlerin und ihre Auseinandersetzung mit textilen Materialien schreibt sich in ihnen weiter.

Ein Galerieraum muss vielen Ansprüchen genügen. Er dient der Kunst, dem Kunstmarkt, er ist Showroom und Gastraum. Andrea Vogel hat die Galerie Adrian Bleisch auf ihre räumlichen Qualitäten hin untersucht und sich künstlerisch mit ihnen auseinandergesetzt. Wände, Boden, Fenster, aber auch das Mobiliar und das Gesamtgefüge fliessen in ihre Arbeit ein. Zwei massive Stellwände sorgen in der grossflächig durchfensterten Galerie für zusätzliche Hängeflächen. Sie sind ganz ihrem Zweck untergeordnet und stehen frei im Raum. Andrea Vogel hat beide Wände mit einer Installation zusammengeführt. Das Ausgangsmaterial ist sind nicht nur die Wände, sondern auch eine Topfpflanze aus dem Galerieinventar und zusätzlich Stretch-Tüll – ein Material, das die Künstlerin seit einiger Zeit künstlerisch transformiert. Für die Ausstellung in der Galerie Adrian Bleisch spannt sie es diagonal zwischen die beiden Wände und legt die Pflanze samt Topf hinein. Wie in einer Hängematte schwebt die Grünpflanze frei im Raum. Die Spannung des dehnbaren textilen Materials überträgt sich in den Raum, verbindet die Wände und damit die gesamte Ausstellungsfläche wie eine grosse Klammer. 

Stretch-Tüll dient Andrea Vogel als Material für Performances, für ephemere, physische Aktionen, die sich im textilen Werk manifestieren. So sprayt die Künstlerin schwarze Farbe auf den Tüll, während sie diesen in die Länge zieht, Falten gezielt hineinlegt oder zufällig entstehen lässt. Die performative Handlung wird in dem Moment fixiert, in dem sie entsteht: Die Farbspuren auf dem weissen Stoff sind einerseits Zeugnisse des Prozesses und andererseits eigenständige, malerische Untersuchungen. Diese Verschmelzung von Performance und Malerei, von Materialrecherche und ästhetischer Untersuchung sind Konstanten im Werk der Künstlerin. In der Ausstellung «Stretch Your Mind» manifestieren sie sich auch in den Arbeiten mit Frotteetüchern: Diesen Gebrauchsartikeln wohnt in ihrer Bestimmung eine performative Bedeutung inne. Sie dienen dem Abtrocknen des Körpers, zugleich sind sie mit zeit- und funktionstypischen Designs ausgestattet. Andrea Vogel orientiert sich an diesem Handtuchgestaltungen mit ihren floralen, geometrischen oder ornamentalen Mustern und überführt sie mit ihren Überarbeitungen in eine neue Qualität. Mit schwarzer Ölfarbe überstreicht sie die Muster, konterkariert sie mit Aussparungen und neuen Formerfindungen, die aus den bestehenden abgeleitet sind. Ein Kontrast entsteht zwischen dem Schwarz und der vorhandenen, meist üppigen Farbigkeit: Sie tritt durch das Schwarz noch stärker hervor. Zudem kontrastiert die glänzende, deckende Ölfarbe mit der offenen Frotteestruktur. Letztere besitzt in einigen Fällen durch eingewobene Ornamente sogar Reliefcharakter und führt einen Dialog mit der Malerei. Deutlich zeichnen sich in diesen Arbeiten die Resultate künstlerischer Entscheidungsprozesse ab: Wo hat Andrea Vogel interveniert? Wo hat sie neu kreiert? 

Die künstlerische Entscheidung findet jedoch auch dann statt, wenn Vogel nicht ins Material eingreift. In Arbon weckte das Gebäude des ehemaligen Hotel Metropol ihr Interesse. Auf Anfrage erhielt sie Gelegenheit, das Gebäude zu besichtigen und die Vorhänge des längst geschlossenen Hotels für ihre Arbeit zu nutzen. Lange verdunkelten sie die Zimmer. In breiten Falten hingen die schweren Stoffe vor den Fenstern. Die Sonne erreichte manche Stellen des Stoffes besser, andere blieben im Schatten. Auf diese Weise sind der rote und der blaue Stoff unterschiedlich stark und in langen Bahnen ausgebleicht. Für die Ausstellung transformierte die Künstlerin diese Vorhänge auf zweierlei Art, aber einzig durch Veränderungen der ursprünglich vorgesehenen Anordnung: Vier der roten Vorhänge sind nun glatt gespannt und um 90° gedreht an der Wand zu sehen. Dadurch werden die grossen Stoffrechtecke zum Bild. Die fliessenden Hell-Dunkel-Abstufungen des Rots wecken Assoziationen an Horizontlinien mit Sonnenuntergängen und sind technisch entfernt verwandt mit Langzeitbelichtungen, also auch mit Fotografien ebendieser Sonnenuntergänge. Anders die blauen Vorhänge: Auch hier hat sich die Sonne in einer Langzeitbelichtung eingeschrieben und den blauen Stoff über seine gesamte Länge hin ausgebleicht. Aber diese Bahnen werden von der Künstlerin auf dem Boden ausgebreitet. Damit werden sie nicht zum Bild sondern zu einer raumgreifenden Installation, die Erinnerungen an Wasser und Wellen weckt. Eindrücklich zeigt sich Andrea Vogels Gespür für das Ausgangsmaterial und seine Ausdruckskraft: Ein Gebrauchsgegenstand wird im Sinne eines Ready Mades auf ebenso geringfügige wie nachhaltige Weise verwandelt. Er erhält eine inhaltliche Qualität, die sich aus der vorhandenen Form speist, aus dem Verständnis der Künstlerin für das textile Material und sein Potential und aus dem neuen Kontext der Bildenden Kunst. So funktioniert dies auch bei der fast zehn Meter langen Frotteestoffbahn, die Andrea Vogel zusammengewickelt und aufgestellt hat – gleich einer Badetuchfaltung wie sie in Hotels mitunter üblich ist. Hier ist sofort die Verbindung zur plastischen beziehungsweise skulpturalen Gattung präsent. Dies gelingt auch durch die Farbigkeit. Das Grau ist neutral. Optisch ist es dem Beton des Bodens näher als einem Textil zum Abtrocknen. Einmal mehr sorgen Andrea Vogels Aufmerksamkeit, ihr Verständnis für eine dem Material innewohnende Qualität und ihre künstlerische Innovation für eine neue Sichtweise auf das Vorhandene wie auch auf die Kunst. Der Blick der Künstlerin für räumliche Konstellationen, die neue inhaltliche Ebenen öffnen, zeigt sich ausserhalb der Galerie noch einmal: Auf einem der grossen Fenster steht «Du bist schön». Die dahinter befindliche Stellwand der Galerie fängt die Schrift auf und spiegelt sie zurück. Wenn die Sonne auf die Schreiben fällt, zeichnet sich der Schatten der Schrift umso schärfer auf der Rückseite der Stellwand ab. Das Spiel mit Drinnen und draussen, mit Positivform und Spiegelschrift, mit der Transparenz der Scheibe und den gleichzeitigen Reflexionen, mit der Situation im Aussenraum, wo Vorübergehende sich in der Scheibe selbst sehen zeigt noch einmal die dichte Verflechtung von performativen und installativen Elementen. Auch hier verwandelt Andrea Vogel die Ausgangslage durch einen minimalen Eingriff und lenkt den Blick auf die Bewegungsenergie und das Spiel zwischen Licht, Raum und Material.

Text für Andrea Vogel (www.frauvogel.ch)

Leinen los!

Der Dachstock ein Schiffsrumpf, die Dielen knarzende Planken, die Fenster ein Ausguck – die Propstei St.Peterzell hat sich verwandelt. Massive Um- und Einbauten waren dafür nicht notwendig, sondern gut ausgewählte und eigens entworfene Ausstellungsstücke sowie ein altes Thema: die Sehnsucht nach der hohen See.

«Sonne, Meer und Sterne – Von Toggenburger Matrosen und Brandungsgeräuschen in den Alpen» nimmt die Reisenden, denn eigens angereist sind wohl die meisten Gäste dieser Ausstellung, mit aufs grosse weite Wasser. Auf den Spuren Toggenburger Seefahrer geht es in der Propstei hinaus in die weite Welt, die mitunter erstaunlich klein ist. Wochenlang spielen sich Leben und Arbeit auf und unter Deck ab. «Schaffe, esse, suufe», fasst es Erich Näf zusammen. Von 1981 bis 1983 fuhr er als Seemann Häfen auf der ganzen Welt an. Freilich nicht auf hölzernen Planken und unter Segel, aber abenteuerlich klingen seine Berichte in den Ohren von Landratten durchaus. Zu hören sind sie in Interviewform inmitten der Ausstellung. Anschaulich erzählt Näf über das Leben an Bord, über Arbeitsbedingungen, Landgänge, Exzesse und die Mannschaft. Persönliche Gegenstände wie Seesack, Weltkarte und Nähzeug ergänzen den anekdotischen Zugang zum Matrosenleben. Sehr gelungen ist auch die Präsentation der Fotografien von Bruno Näf, Bruder von Erich, auch er fuhr zur See: Aufnahmen von ihm wurden abgezogen und können nun in der Ausstellung in die Hand genommen werden – in Zeiten omnipräsenter Digitalfotografie ein ebenso sinnliches wie nachhaltiges Erlebnis und ein Zeugnis eines grossen persönlichen Aufbruchs.

Daneben gibt es individuelle Berichte anderer Seeleute, aber auch Bekanntes und weniger Bekanntes über den grossen Kontext. Publikationen liegen aus zu Themen wie dem Sklavenhandel, der überaus eng mit der Seefahrt verknüpft ist, zum Mittelmeer als Flüchtlingsroute oder zur grossen Sehnsucht der Schweiz nach einem direkten Seezugang. So waren Ansätze für einen Transhelvetischen Kanal bereits im 17. Jahrhundert gebaut und weiterführende Pläne recht weit gediehen. Sie versandeten nicht zuletzt durch den Ausbau der Transitstrassen, wurden aber erst 2006 endgültig begraben. Bücher, Objekte und Begleitinformationen werden auf eigens gebauten Holzregalen präsentiert. Maritimes Ambiente klingt ebenso zurückhaltend wie poetisch an, etwa wenn der Maserung des Holzes eine grüne Lasur wellenförmig antwortet.

Zwiegespräche gibt es auch zwischen den dokumentarischen und den künstlerischen Ausstellungsteilen. Letztere illustrieren nicht einfach das Thema, sondern sind assoziativ gesetzt, öffnen einen grossen Gedankenraum und ermöglichen neue Sichtweisen. Monika Sennhauser hat beispielsweise eine präzise Installation eigens für den Dachraum entwickelt. An hauchdünnen Schnüren hängen rechteckige Spiegel horizontal im Raum. Wie Fenster öffnen sie Blicke in die hölzerne Dachkonstruktion. Der hölzernen Dachstock scheint unterhalb der reflektierenden Oberflächen zu liegen und wird durch das leichte Schwingen der Spiegel, in Bewegung gesetzt durch die Vorübergehenden, zum schaukelnden Schiffsrumpf. Die St.Galler Künstlerin setzt sich seit langem mit den Horizonten und Sonnenbahnen auseinander. Auch zwei ihrer umfangreichen Videorecherchen sind in der Ausstellung zu sehen.

Wasser hat keine Balken und vielen ist das Meer schon zum Verhängnis geworden. Der in Teufen lebende Künstler Thomas Stüssi erinnert mit seiner Installation an den holländischen Künstler Bas Jan Ader, der 1975 mit einem kleinen Segelboot den Atlantik überqueren wollte, aber niemals ankam: Stüssi baute einen Sperrholzkörper und legte einen Mantel aus Salz darum. Letzterer ist teilweise abgefallen, zerbrochen wie nach einer unsanften Landung. Damit bezieht sich Stüssi zugleich auf Astronautenkapseln, die in den 1960ern und 1970ern auf abenteuerliche Weise getestet wurden. Auch die Reise durch die Luft erwies sich dabei mitunter als verhängnisvoll. Aber auch die Tiefe hat es in sich, lauern doch dort die unbekannten Wesen. Zumindest beh“errschten sie lange Zeit die Vorstellungen vom Meer. Nicht Riesenkraken, Monsterfischen oder Klabautermännern errichtete «Blue My Mind» ein filmisches Denkmal, sondern einer Meerjungfrau. In der Propstei sind die Zeichnungen der Kostümdesignerin Laura Locher für diesen Film zu sehen. Zudem hat sie gemeinsam mit ihrer Schwester Joana die Installation «Horizont sieben» entworfen: Wer möchte, wird dank ihr zur Galeonsfigur, um die durchs Toggenburg segelnde Propstei vor Unglück zu bewahren.

Hat es ihr geschadet? Mitnichten!

Fünfmal drohte ihr Ungemach, fünfmal ging sie erneuert und vital aus der Krise heraus: Die Malerei ist nicht unterzukriegen. Sie vereinnahmt, was sie bedroht, und lebt danach munter weiter. Wer dafür noch einen Beweis braucht, erhält ihn von Peter Fischli in der Fondazione Prada.

Venedig — Klick! Auslöser gedrückt, Szenerie verewigt – warum noch malen? Zeitungsseiten, Billetts, Bild im Bild? Kleben statt malen! Künstlerische Handschrift als Geste des Genius? Längst ein Mythos. Fort mit bürgerlichen Attitüden; fort mit kommerziell verwertbarer Flachware!
Technik, Fortschritt oder Kritik – die Malerei wurde heftig attackiert: Fünf «Ruptures» erkennt und benennt Peter Fischli. Von ihnen ausgehend hat der Künstler eine Ausstellung kuratiert, die ebenso persönlich angelegt wie allgemeingültig ist; und die dank des Ortes noch einmal mehr zeigt, wie gültig die These von der andauernden Vitalität der Malerei ist. Könnte sich die zeitgenössische Malerei sonst durchsetzen gegen die üppigen Wand- und Deckengemälde in der Ca´ Corner della Regina? Der Palazzo ist ein barockes Prachtstück, alles andere also als ein White Cube. Aber selbst hier, selbst noch in der Horizontale entfaltet die Malerei ihre Kraft: Mitten im Piano nobile liegt Jean-Frédéric Schnyders «Hudel», 1983–2004, jener aus Pinsellumpen zusammengeflickte Malereiteppich. Die unabsichtlich entstandenen Farbfetzen, absichtlich kombiniert, zeugen von zwanzig Jahren Arbeit im Atelier: so viel Energie, so viel Malerei, so viel Bildgewalt. Das liess sich anderthalb Jahrhunderte früher freilich noch nicht erahnen. Damals entwarf Honoré Daumier einen Abgesang auf die Malerei: In «Marche funèbre!!/N°2», 1855, wird sie zu Grabe betragen, lange bevor Kubismus und Dadaismus sie erneut niederstrecken. Schwitters oder Duchamp; Broodthaers oder Sturtevant, Rauschenberg oder Fraser – viele haben mit der Malerei gebrochen und sie zugleich erneuert. Ein Schiessbild von Niki de Saint Phalle ist genauso schlüssig in der Ausstellung wie die bildgewordenen Herdplatten von Rosemarie Trockel.
Der Gang durch «Stop Painting» ist aber kein trockener Gang durch die jüngere Kunstgeschichte. Peter Fischli setzt auf ungewohnte Nachbarschaften, holt hervor, was wieder einmal anzusehen lohnt, und schlägt den Bogen bis heute, bis zu Auseinandersetzungen mit der Digitalisierung bei der Schottin Morag Keil (*1985) oder grundsätzlichen Identitätsfragen bei Puppies Puppies (*1989) – die Vielfalt ist immens, aber nie beliebig, denn alles wird vom Blick des Künstlers zusammengehalten: Peter Fischlis «Modellone», 2021 im Erdgeschoss des Hauses ist Modellausstellung, künstlerische Geste, dreidimensionales Ideengebäude und damit Kernstück der Präsentation.