Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Gedehnt, gespannt, gefaltet

Arbon — Galerieausstellungen haben nicht den Ruf, besonders experimentell zu sein oder gern die Konventionen des Kommerziellen zu unterlaufen. In der Galerie Adrian Bleisch passiert genau das. Der Galerist hat Andrea Vogel eingeladen, vor Ort ihre Ausstellung zu erarbeiten; mit offenem Ausgang, aber auf guter Basis: Andrea Vogel hat Arbeitsaufenthalte im vergangenen Sommer im shed im Eisenwerk, Frauenfeld, und kürzlich im Projektraum Pool in St.Gallen genutzt, um ihr performatives, körperbezogenes Werk weiterzuentwickeln. Deutlich zeigt sich das grosse Potential solcher temporären Ateliers. Sie bieten viel Platz, aber auch räumliche Herausforderungen, an denen sich künstlerische Vorhaben reiben und an denen sie wachsen können.
Andrea Vogels bevorzugtes Material ist Tüll. Er ist leicht, durchscheinend und vor allem: dehnbar. Besonders die letztgenannte Eigenschaft wird von der Künstlerin intensiv genutzt. Wie verhalten sich die Elastizität des Stoffes und die Kraft des Körpers zueinander? Wie lässt sich die Spannung des Stoffes visuell festhalten? In welcher Form entfaltet der Stoff raumbildende Qualität? Andrea Vogel spannt den Stoff weit hinaus über Raumkanten und -ecken. Sie unterwandert die Funktion der Stellwände in der Galerie, nutzt sie als Widerstand und setzt sich bewusst über die Aufgaben des Mobiliars hinweg. Sie dehnt den Stoff, reizt seinen rechteckigen Zuschnitt aus, faltet lange Bahnen in kleinen Wellen oder legt sie in geometrischen Anordnungen aus. Wenn sie den gefalteten Stoff schliesslich mit schwarzer Farbe besprayt, verewigen sich darin die Faltenwürfe. Das Ereignis wird damit visuell festgehalten. Es kann aber auch zur Form werden. So beispielsweise dann, wenn die Künstlerin mit Papier die Struktur des Galeriebodens abformt. Das Körpergewicht wirkt auf das Papier ein, das damit eine räumliche Gestalt bekommt. Immer wieder ist die Verbindung von Körper und Material zentral. Das gilt auch für die Skulpturmassagen der Künstlerin, bei denen sie Skulpturen im öffentlichen Raum massiert, oder für die Arbeiten mit Frottiertüchern. Indem Andrea Vogel die Frotteetücher partiell – den Mustern folgend oder sie bewusst negierend – mit schwarzer Farbe bemalt, nimmt sie ihnen die Gebrauchseigenschaft, lenkt aber den Blick auf die Gestaltung und das Format. Letzteres ist körperbezogen und so fügt sich auch diese Arbeit nahtlos in die Untersuchungen der Künstlerin.

Von Schnecken und Musik

Wird es Musik noch geben, wenn es keine Menschen mehr gibt? Ist in den Rillen einer Schallplatte Musik, auch wenn niemand sie mehr hört? Anri Sala (*1974) versteht das Kunsthaus Bregenz und die Architektur Peter Zumthors als sinnlichen Resonanzkörper für seine Arbeit.

Bregenz — Langsam, schwerelos schwebt ein Plattenspieler in einer Raumstation. Er dreht sich um seine Längsachse. Der Tonabnehmer bewegt sich, senkt die Nadel auf die Rille, schwenkt wieder weg. Die Nadel verliert den Kontakt zur Platte, berührt sie wieder. Im Raum dröhnt es und leuchtet blitzartig auf. Über allem erklingt das «Quartett für das Ende der Zeit», 1940 geschrieben von Olivier Messiaen in deutscher Kriegsgefangenschaft. Ihm zur Seite steht die Erinnerung an den Astronauten Ronald McNair, der im All ein Saxophon-Solo spielen wollte, aber beim Absturz des Spaceshuttle Challenger ums Leben kam: Anri Sala legt in «Time No Longer», 2021 viele Bedeutungsebenen übereinander. Ihr zentrales und verbindendes Element ist die Musik, verknüpft mit starken, klaren Bildern.
Das computergenerierte Dreikanal-Video entfaltet im obersten Stockwerk des Kunsthauses eine grosse Präsenz, unterstützt von einer Lichtinstallation hinter der fast raumbreiten Projektionswand und vorbereitet von einer Bildinstallation im Stockwerk darunter: Sala hat die Betonwände des Hauses abfotografiert und projiziert diese Fotos wandgross wieder zurück auf die Wände. Im Gleichklang mit der Musik von «Time No Longer» werden die Bilder unscharf und wieder scharf gestellt. Dadurch lösen sich die Wände gleichsam auf, die Architektur wird zur Haut, zur Landschaft und wieder zu Beton. Obgleich der Raum leer bleibt, beginnt er zu atmen und mit der Musik zu korrespondieren. Aber auch die Musik selbst bleibt beweglich. So kriecht in «If and Only If», 2018 eine Weinbergschnecke einen Bratschenbogen hinauf, während der Musiker Strawinskys «Elegie für Viola Solo» spielt. Das Tempo der Schnecke bestimmt das Spiel – ein einfaches, aber wirkungsvolles Konzept und ein Video wie ein Road Movie, aber mit einer sehr gelassenen Protagonistin.
Anri Sala lenkt den Blick auf grundsätzliche menschliche und gesellschaftliche Fragen. Aber nicht immer transportiert er sie in riesigen Videoprojektionen: In der Serie «Untitled (maps/species)», 2018/2019 versammelt er Stiche aus dem 18. Jahrhundert mit Tierabbildungen. Weil die Tiere nicht ins Format passten, wurden sie damals bildnerisch zurechtgebogen: Neues naturkundliches Wissen wurde notfalls passend gemacht. Indem Sala diesen Bildern eigene Zeichnungen verzerrter Ländergrundrisse zur Seite stellt, verdoppelt er die Schönheit der Darstellungen und thematisiert zugleich die Anmassung darin.

Im Spannungsfeld der Künste

Performance ist alles: Sprache, Musik, Körperarbeit. Sie kann Malerei sein oder Skulptur. Sie kann unterhalten oder provozieren. Der Performancepreis Schweiz 2021 bot all das.

Swiss Art Awards, Swiss Performing Arts Awards, Performancepreis Schweiz – die Preise spiegeln die Vielfalt der Gattungen. Doch gerade diese Gattungen werden von den Künstlerinnen und Künstlern unterwandert, die Grenzen aufgelöst und das lustvolle Spiel zwischen den Sparten vorangetrieben. Das zeigte sich am Samstag in der Lokremise St.Gallen beim Performancepreis Schweiz 2021 und machte es der Jury nicht leicht. Am Ende wurden zwei Gewinnerinnen gekürt: Den Preis teilen sich die Waadtländerin Léa Katharina Meier und das Basler Duo Dorota Gawęda & Eglė Kulbokaitė. Die anderen Finalistinnen und Finalisten waren Alpina Huus (BS, GE, VD), das St.Galler Duo Lika Nüssli & Marc Jenny, der Basler Pavel Aguilar, Monica Klingler sowie Lara Dâmaso aus Zürich.
Die Lokremise bot den idealen Rahmen für die Grenzüberschreitungen und die grosse Spannbreite an Ausdrucksformen. Allerdings wählten die meisten Performerinnen und Performer die klassische Konstellation von Bühne auf der einen und Publikum auf der anderen Seite. Dabei gäbe die Lokremise so viel mehr her. Nur zwei der Performances griffen in den weiteren Raum hinaus oder brachten das Publikum innerhalb des Raumes in Bewegung – mit Diskokugel, elektrischem Gitarrensound und einem virtuos agierenden, divers besetzten Performanceteam.
Das inhaltliche Spektrum reichte von handfesten Auseinandersetzungen mit weiblichen Rollenzuschreibungen über poetische Klangkunst mit Bezügen zur afro-indigenen, karibischen Kultur bis zu den grossen Existenzfragen. Der menschliche Körper wurde als Living Sculpture inszeniert oder verschmolz mit der Malerei. Sprache und Inhalte waren mal hochintellektuell, mal an- und übergriffig oder von Humor geprägt und zugleich mit drastischen Inhalten versetzt. Die letztgenannte Mischung war es dann auch, die Léa Katharina Meier den Publikumspreis bescherte. Die Künstlerin agierte mit ihrem tragisch-clownesken Spiel in einem ebenso durchdachten, wie stets ins Chaos kippenden Bühnenraum, sie sprach das Publikum direkt an und setzte ihm ihre Figur schonungslos aus. Diese Performance hatte die grösste Schnittmenge mit Ausdrucksformen des Theaters und erreichte wohl auch deshalb die Zuschauerinnen und Zuschauer besonders intensiv.

Zu Gast im Garten

Was geht vorüber? Wer geht vorüber? Geht es vorüber? Eindrücke, Zustände, Menschen – alles ist endlich. Das Wenigste überdauert die Zeit. Auch in der Kunst sind Ewigkeitsansprüche seltener geworden. Das Bronzedenkmal ist ein Auslaufmodell, ebenso wie die mit der Architektur verwachsene Bauplastik; auch das Gebaute selbst ist schnelleren Abrisszyklen unterworfen. Der Verzicht auf dauerhafte Zeiträume eröffnet neue Freiheiten. Das zeigt die Biennale Weiertal. Seit 2009 werden in diesem idyllischen Flecken am Rande von Winterthur im Zweijahresrhythmus thematische Ausstellungen kuratiert. Die Werke bleiben einen Sommer lang, suchen den Dialog mit der Natur, der Landschaft und den Menschen. Danach ist der Garten wieder Garten. In diesem Jahr ist diese temporäre Existenz der Kunst sogar das Motto der Biennale: «VORÜBER_GEHEND, Idylle und Künstlichkeit» nennt Kurator Luciano Fasciati seine Ausstellung. Die eingeladenen 20 Künstlerinnen und Künstler haben Arbeiten entwickelt, die mal mehr, mal weniger auf den Ort reagieren, aber immer eine weitere Bedeutungsebene in die Landschaft setzen. Die Kunstwerke recken sich in die Luft, tauchen unter die Erde, schwimmen im Weiher oder nisten auf der Wiese zwischen den alten Obstbäumen: Die goldene Leiter von Remo Albert Alig und Marionna Fontana ragt weit über einen Apfelbaum hinaus, zu Füssen hat sie bereits Wurzeln geschlagen. Marianne Engels gläserne Halbkugeln sind wie Seifenblasen im Gras gelandet und nicht zerplatzt, sondern zur Heimat für kleine Zwischenwelten geworden. Isabelle Krieg hat den Gartenpavillon komplett schwarz angestrichen. Nun wirkt er wie ein verwunschenes Tor in ein Paralleluniversum. Auch Reto Bollers kunterbunte Ansammlung kleiner Campingzelte hinterlässt einen ambivalenten Eindruck: Ferien oder Notunterkunft? Festivalübrigbleibsel oder Käferfest? Die Antwort ist bewusst offen gelassen. Roman Signers «Windfahne» balanciert einen Feuerwehrhandschuh und ein Paddel – auch die kleinen Verschiebungen wecken die Entdeckerlust. So entpuppen sich die verpackten Heuballen nahe des Feldes als eine Arbeit von Not Vital und die Mondreise hinterm geöffneten Fenster als poetische Installation von Zilla Leutenegger.
Auch in diesem Jahr wieder ist die Biennale Weiertal eine Reise wert. Und sei es nur, um zu sehen, welche Reibungsflächen die ländliche Idylle bietet oder wie breit die Spannbreite dessen ist, was als Skulptur funktioniert.

bis 12. September
www.skulpturen-biennale.ch

Zwischen Hügeln und Insel

Er ist wieder unterwegs: der Streunende Hund. Vor reichlich zwei Jahren in Bühler als Kollektiv gegründet, hat sich der Streunende Hund bisher vor allem in der ausserrhodischen Gemeinde sehen lassen. Aber nun hat er sich vom Festland aus bis zu den britischen Inseln aufgemacht: zwischen seinem Heimatort Bühler und Schottland ist er hin- und hergestromert und hat Künstlerinnen und Künstler in Kontakt gebracht. Wie kam es zu diesem Sprung über den Kanal? Wassili Widmer, eines der Gründungsmitglieder des Kollektivs und für sein Studium zwischen Gais und Glasgow unterwegs, hat die Begegnungen initiiert. Kein leichtes Unterfangen mit den aktuellen Reisebeschränkungen, aber ein fruchtbares: 16 Künstlerinnen und Künstler aus den beiden Appenzell und von der schottischen Insel Shetland haben sich zu Dialogen zusammengefunden, haben sich im Duo ausgetauscht über ihre aktuelle und grundsätzliche Arbeitssituation, über das jeweilige kulturelle Umfeld, über die gesellschaftliche Relevanz der Kunst. Gemeinsam ist den Beteiligten, dass sie abseits der grossen Kunstzentren arbeiten, was sowohl ein Hemmnis wie auch eine Chance sein kann. Gibt es vielleicht sogar einen Trend zur Abkehr von den Metropolen? Der Ausstellungstitel jedenfalls verkündet die positiven Seiten einer künstlerischen Existenz weit weg von New York, London oder Berlin: «Verborgene Blumen blühen am schönsten/Hidden Flowers bloom most beautifully».
Ein immer wiederkehrendes Thema in den Arbeiten ist das Verhältnis von Mensch und Natur. So haben sich Aimee Labourne und die Ausserrhoderin Caroline Ann Baur über Nachhaltigkeit und Landschaft verständigt. Während die eine der Allgegenwart der Flechten nachgeht, interessiert sich die andere für die Wiederkehr der Natur in Bauruinen. Die Zürcherin Dorothea Rust ist in Schottland die Ränder der Landschaft abgelaufen und hat den Menschen in ihr verortet, ihre Dialogpartnerin Roxane Permar hat den Blick auf die Nutzung der Landschaft gerichtet: Wie brauchen wir das Land und wie brauchen wir es auf… Paul Bloomer und die Ausserrhoderin Harlis Schweizer sind der Idee des «Deplatzierten Hauses» gefolgt und haben Natur-, Arbeits- und Lebensräume zeichnerisch erkundet, vertauscht und neu erfunden.
Alle entstandenen Arbeiten sind in Lerwick in Schottland und in zwei Lokalen an der Dorfstrasse in Bühler zu sehen. Begleitend erscheint ein Buch mit allen Dialogen.

Festival für alle und für Zimmerpflanzen

Ein Rathaus haben alle Städte. Ein Rathaus für Kultur hat nur Lichtensteig. Die Stadtverwaltung ist um- und die Kultur 2019 eingezogen. Seither ist das alte Rathausgebäude die kulturelle Denk- und Arbeitszentrale des kleinen Ortes im Toggenburg. Erdacht und programmiert wurde dort nun auch «Kultur verrussen»: ein Festival, das nicht auf Innenräume angewiesen ist, das Künstlerinnen und Künstlern verschiedener Sparten eine lange vermisste Plattform bietet und das mit Vielfalt lockt. Konzerte, Zirkusaufführungen und Spoken Word-Anlässe sind geplant. Das Duo Mischgewebe ist ebenso gebucht wie die in Zürich lebende Singer-Songwriterin Lynn Aineo oder die 2018er BandXOst Gewinnerin Riana. Der Baselländer Zirkus FahrAwaY – Motto: «Der Himmel ist das Zelt» – gastiert und das Duo Künzi & Frei wird auftreten und andere mehr. Auf dem Rathausplatz ist die Sommerbar installiert. Ausserdem wird das ganze Städtchen zur Kunstzone. Künstlerinnen und Künstler aus der Ostschweiz und von weiter weg haben an den verschiedensten Stellen Kunst installiert. Kilian Rüthemann beispielsweise verwandelt ein unscheinbares Postfach zur Videokoje: In diesem halböffentlichen Raum zeigt der für seine präzisen, ortsspezifischen Plastiken bekannte Künstler eine frühe Arbeit. Silke kleine Kalvelage ist fasziniert von den Kugelbahnqualitäten einer Tiefgarageneinfahrt. An einem der Giebelausleger, an denen früher die Waren bis unter die mittelalterlichen Dächer gezogen wurden, hängen dank Johanna Gschwend jetzt Turnringe. Fridolin Schoch, Domingo Chaves und Edmée Laurin, zusammen als Attic-collective unterwegs, hatten mit Putzlumpen und Schwamm bereits die Einkaufszone in Wil verwandelt und lassen jetzt einen Tumor an einer Hauswand wachsen – gewarnt sei, wer sich in den letzten Monaten einen Reinlichkeitsfimmel zugelegt hat. Aber auch für die Zimmerpflanzen war das vergangene Jahr kein leichtes, mussten sie doch Tag für Tag die gestressten Home Office-Gspänli ertragen. Deshalb organisiert Jan Georg Glöckner für sie ein kleines Festival im Festival. Treffpunkt dafür ist die historische Bleisatzdruckerei in Lichtensteig.
Brunnen, Hausecken, Durchfahrten – die Kunst findet Schlupflöcher. Mal sind die Arbeiten der knapp zwei Dutzend Künstlerinnen und Künstler versteckt, mal stellen sie sich in den Weg. Ein Spaziergang durch den ganzen Ort ist also ein Muss.

1. bis 18. Juli
https://rathausfuerkultur.ch/

Warum? Darum!

St. Gallen — Ein Kinderbuchreim ohne Sinn und doch auf seine Weise sinnvoll, rhythmisch, strukturiert; Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge ohne wörtliche Bedeutung, aber nicht bedeutungslos: Der italienische Kinderreim «Ambarabà Ciccì Coccò» dient Alfredo Aceto (*1991) und Denis Savary (*1981) als Ausstellungsmotto und transportiert perfekt, was die beiden in der Romandie lebenden Künstler antreibt. Sie spielen mit Versatzstücken der heutigen Lebenswelt, verformen sie, kombinieren sie miteinander. Sie nehmen dem Konjunktiv II seine Unmöglichkeit und zeigen, was sein könnte, wenn alles ein bisschen anders wäre, ein bisschen weniger gewohnt, ein bisschen weniger starr. Deshalb sehen Sonnenschirme plötzlich aus wie Schleckstängel, Münder halten Stifte und eine Aubergine verschlingt eine Schaufensterpuppe, begleitet von surrenden Motorgeräuschen – die Welt gibt vieles her und Dada und Surrealismus haben es vorgemacht: Frei von produktiven oder logischen Zwängen lässt es sich gut denken, erst recht im Kollektiv. Aceto und Savary arbeiten nicht nur zusammen, sondern sind offen für die Eingriffe des jeweils anderen in den eigenen künstlerischen Prozess. Dank dieser Arbeitsweise gelingt es ihnen, gemeinsam neue Erzählungen anzustossen. Da werden billig produzierte Bettgestelle von amöbenhaften Glasobjekten umgarnt und finden ihren Widerpart in einer Steinskulptur. Spiegelnde Glasplatten werden zur Wasseroberfläche, eine gebogene Form ist Hydrant, Brunnenrohr und Wasserspeier zugleich. Die unter dem Glas platzierten Bilder verweisen wie der Werktitel auf den «Finger Lake» im US-Bundesstaat New York. In jenem See, nahe der Stadt Ithaca, einem früheren Zentrum der Filmindustrie, werden alte Filmrollen vermutet. Wahrheit oder Legende? Wie schön, wenn das nicht entschieden werden muss. Das gilt auch für die norwegischen Stare, die seit Kurt Schwitters’ Aufenthalt im Norden die Ursonate zwitschern können und sie bis heute ihren Nachkommen lehren – vielleicht. Jedenfalls wurde Schwitters’ Lautgedicht für die Ausstellung von zwei Vogelimitatoren mit entsprechenden Notationen für Eule, Kolibri und andere Vögel versehen – auf dass sie den Rhythmus und den dadaistischen Geist in die Welt hinaustragen.

Kunst zwischen Bäumen

Eschlikon — Wer von Zürich oder Winterthur nach St.Gallen fährt, nimmt am besten den Zug ohne Zwischenhalt. Wer stattdessen die S-Bahn wählt, kann in Eschlikon aussteigen. Der Ort ist klein und bietet doch Grund für einen Ausflug: Einen Sommer lang legt sich eine lose bestückte Kette aus Kunstwerken um die Gemeinde. «Orbit» ist eine Mischung aus Standortförderung und Kunstweg. So werden auf dem Flyer – es ist trotz integrierter Landkarte etwas Spürsinn notwendig, um keine der Freiluftinstallationen zu verpassen – nicht nur die Arbeiten beschrieben, sondern auch gleich die Feuerplätze, und die zugehörige Website preist die Ausblicke zu Säntis und Alpstein. Vom Bahnhof aus geht es hügelauf und -ab auf schmalen und breiteren Pfaden zu eigens installierten Werken mit stärkerem oder losem Ortsbezug. Manches ist gelungen und anderes wirkt bemüht, zu den Höhepunkten zählen ein blattgoldener Anstrich eines Baumstammes von Joëlle Aillet und die Stahlrahmen von ckö. Ersterer erstrahlt im Sonnenuntergang und schenkt einen poetischen Moment innerhalb der Infrastruktur des Ausflugsgasthofes. Zweitgenannte rücken Landschaftsdetails in den Blick, bevor dieser wieder von den Auswüchsen der Hüslischweiz gebannt wird.

Universell und sinnlich

Eine Bildsprache, die universell verständlich ist und sich für grosse Ideen eignet – Paul Neagu setzte sich ein grosses Ziel. In der ersten internationalen Museumsretrospektive wird sein ganzheitlicher Anspruch ebenso deutlich wie seine komplexe künstlerische Praxis.

Vaduz — Was ein Pflug ist, weiss jedes Kind. Er ist in der langen Geschichte der Agrargesellschaften zu einem starken Symbol geworden, das selbst in Grossstädten, weit entfernt von aller Landwirtschaft noch verstanden wird. Ein oder mehrere Haken, die sich in die Erde graben können, eine Querverbindung und ein Schaft – das hölzerne Gerät im Kunstmuseum Liechtenstein ist einem Pflug nicht unähnlich und doch ganz offensichtlich kein Ackergerät. Es ist grösser, formal reduziert und bezeichnet mit seinen äusseren Punkten einen Kreis. Was ist es also? Paul Neagu (1938–2004) betitelte seine Erfindung als «Hyphen», als einfaches, verbindendes Element. Die wandelbare Gestalt eines «Hyphen» ist hergeleitet aus den geometrischen Grundformen Dreieck, Quadrat und Kreis und deren Symbolik, die vom Irdischen bis weit ins Kosmische hinausreicht: Paul Neagu wollte nichts weniger als eine allumfassende energetische Quelle erschliessen. Sie entstand jedoch nicht aus esoterischen Gedankenspielen heraus. Der rumänische Künstler untersuchte bäuerliche Handwerke und Traditionen in verschiedenen Kulturen und entwickelte daraus ein Vokabular, das im Praktischen und Volkstümlichen verwurzelt ist und sich von dort aus ins Universelle entfaltet. Ein Zeichen dieser Verwurzelung ist beispielsweise sein Anspruch alle Sinne einzubeziehen. In seiner kollektiven Performance «Cake Man», 1971 in London inszeniert, waren alle eingeladen, die Zellen eines generischen Menschen aus Waffeln zu essen. Auch taktile Elemente waren ein fester Bestandteil seiner Arbeiten. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt das Werk in seiner grossen Vielfalt von Objekten, Zeichnungen, Malerei, Video und Fotografie. Zusätzlich wird ein Laboratorium der Ideen präsentiert. Hier finden sich ausgewählte Manifeste, Notizbücher und Künstlerbücher. Es ist der Versuch, nicht nur ein komplexes Gedankengebäude museal zu fassen und zu vermitteln, sondern zugleich die Künstlerpersönlichkeit zwischen zwei grossen Systemen zu zeigen. Neagu war in Bukarest geboren, pendelte ab den späten 1969er Jahren zwischen Rumänien und Westeuropa, wandte sich nie vollständig von Rumänien ab, lebte jedoch ab 1971 in London. Hier wurde er zum angesehenen Kunstprofessor – bei ihm studierten beispielsweise Antony Gormley, Anish Kapoor, Tony Cragg und Rachel Whiteread – und arbeitete unermüdlich an seinen grossen Ideen weiter, künstlerisch und philosophisch.

Zweimal Malerei

Diessenhofen — Carl Roeschs Kunst speist sich aus seiner grossen Begeisterung für einen Wegbereiter der Moderne: Der Grafiker, Kunsthandwerker und Künstler entdeckte 1912 Cézanne für sich. Nachdem er in Paris eine Ausstellung des wenige Jahre zuvor verstorbenen Franzosen gesehen hatte, begann er dessen Werk nicht nur zu kopieren, sondern auch in seinen eigenen Arbeiten zu adaptieren: beispielsweise in den «Badenden», von denen einige in der Dauerausstellung im museum kunst + wissen in Diessenhofen zu sehen sind.
Hier in Diessenhofen wuchs Roesch auf. Hier starb er 1979 im Alter von 95 Jahren. Hier haben seine Werke einen würdigen Platz. Aber wie lässt sich dieses künstlerische Oeuvre lebendig und aktuell halten? In Diessenhofen gelingt dies dank Nicola Gabriele (*1965). Der Künstler wurde eingeladen, in seiner eigenen Sprache auf die Gemälde Roeschs zu reagieren. Mit seiner Intervention «Aedicula» bezieht er sich auf Architekturen, die anderen Objekten einen Raum geben. Die kleinformatigen Gemälde sind von einem nahezu monochromen Farbfeld beherrscht, das an den Rändern von Farbstreifen gerahmt ist. Sie rücken einerseits die malerische Gestik der umsäumten Fläche und damit die Malerei als solche ins Zentrum und lassen sich andererseits als Dialogfeld für die Malerei Roeschs lesen.