Von Schnecken und Musik
by Kristin Schmidt
Wird es Musik noch geben, wenn es keine Menschen mehr gibt? Ist in den Rillen einer Schallplatte Musik, auch wenn niemand sie mehr hört? Anri Sala (*1974) versteht das Kunsthaus Bregenz und die Architektur Peter Zumthors als sinnlichen Resonanzkörper für seine Arbeit.
Bregenz — Langsam, schwerelos schwebt ein Plattenspieler in einer Raumstation. Er dreht sich um seine Längsachse. Der Tonabnehmer bewegt sich, senkt die Nadel auf die Rille, schwenkt wieder weg. Die Nadel verliert den Kontakt zur Platte, berührt sie wieder. Im Raum dröhnt es und leuchtet blitzartig auf. Über allem erklingt das «Quartett für das Ende der Zeit», 1940 geschrieben von Olivier Messiaen in deutscher Kriegsgefangenschaft. Ihm zur Seite steht die Erinnerung an den Astronauten Ronald McNair, der im All ein Saxophon-Solo spielen wollte, aber beim Absturz des Spaceshuttle Challenger ums Leben kam: Anri Sala legt in «Time No Longer», 2021 viele Bedeutungsebenen übereinander. Ihr zentrales und verbindendes Element ist die Musik, verknüpft mit starken, klaren Bildern.
Das computergenerierte Dreikanal-Video entfaltet im obersten Stockwerk des Kunsthauses eine grosse Präsenz, unterstützt von einer Lichtinstallation hinter der fast raumbreiten Projektionswand und vorbereitet von einer Bildinstallation im Stockwerk darunter: Sala hat die Betonwände des Hauses abfotografiert und projiziert diese Fotos wandgross wieder zurück auf die Wände. Im Gleichklang mit der Musik von «Time No Longer» werden die Bilder unscharf und wieder scharf gestellt. Dadurch lösen sich die Wände gleichsam auf, die Architektur wird zur Haut, zur Landschaft und wieder zu Beton. Obgleich der Raum leer bleibt, beginnt er zu atmen und mit der Musik zu korrespondieren. Aber auch die Musik selbst bleibt beweglich. So kriecht in «If and Only If», 2018 eine Weinbergschnecke einen Bratschenbogen hinauf, während der Musiker Strawinskys «Elegie für Viola Solo» spielt. Das Tempo der Schnecke bestimmt das Spiel – ein einfaches, aber wirkungsvolles Konzept und ein Video wie ein Road Movie, aber mit einer sehr gelassenen Protagonistin.
Anri Sala lenkt den Blick auf grundsätzliche menschliche und gesellschaftliche Fragen. Aber nicht immer transportiert er sie in riesigen Videoprojektionen: In der Serie «Untitled (maps/species)», 2018/2019 versammelt er Stiche aus dem 18. Jahrhundert mit Tierabbildungen. Weil die Tiere nicht ins Format passten, wurden sie damals bildnerisch zurechtgebogen: Neues naturkundliches Wissen wurde notfalls passend gemacht. Indem Sala diesen Bildern eigene Zeichnungen verzerrter Ländergrundrisse zur Seite stellt, verdoppelt er die Schönheit der Darstellungen und thematisiert zugleich die Anmassung darin.