Lucie Schenker, Ohne Titel, 1987
by Kristin Schmidt
Im Jahre 1987 wurde das Regierungsgebäude des Kanton Appenzell Ausserrhoden in Herisau an die neuen Bedürfnisse der Verwaltung angepasst. Anlässlich des Umbaus wurde ein Kunst am Bau-Wettbewerb gestartet, zu dem eine Künstlerin und zwei Künstler eingeladen wurden. Lucie Schenker konnte den Wettbewerb für sich entscheiden mit einem eigens für den Eingangsbereich entwickelten Kunstwerk. Die räumliche Ausgangslage war eine Herausforderung, war die vorhandene Wand doch durch eine segmentierte Fensterwand in zwei Teile geteilt. Lucie Schenker entschied sich bei ihrem Entwurf, diese Teilung weder zu ignorieren noch dagegen zuarbeiten, sondern sie in ihr ortsspezifisches Werk aufzunehmen. Mit einer eigens entworfenen Arbeit ging sie auf den Raum ein und thematisierte Funktion und architektonische Gliederung.
Die Herisauer Arbeit der St.Galler Künstlerin funktionierte gleich einer Spiegelung. Die Glaswand bildete die Symmetrieachse, von der aus sich Teile der Arbeit nach rechts und nach links auf- bzw. absteigend fortsetzten. Andere Teile jedoch unterliefen diesen Gedanken der Spiegelung entlang der Symmetrieachse und sorgten im Rahmen der starken postmodernen Architekturelemente für neue Spannung. So lag das Bodenniveau auf den beiden Wandseiten unterschiedlich hoch. Die Glaswand sorgte einerseits für Transparenz und andererseits mit ihrer starken Gliederung für eine deutliche innenräumliche Trennung. Auf diese Zweiteiligkeit reagierte Lucie Schenker sowohl mit verbindenden als auch mit die Trennung akzentuierenden Elementen: Je 52 Drahtseile rechts und links antworteten einander. Diese Drahtseile entwickelten sich aus einem Drahtgeflecht, das beidseits den oberen Bereich des Kunst am Bau-Werkes bildete. Lucie Schenker arbeitete mit der Idee des Stahlgewebes auf der Basis ihrer eigenen professionellen Ausbildung: «Ich habe Textilentwerferin gelernt und habe Textilgestaltungen entworfen. Zu jenem Zeitpunkt meiner künstlerischen Arbeit habe ich mich stark mit dem Textilen auseinandergesetzt.» Zugleich thematisiert sie mit dem Verzicht auf einen herkömmlichen Webstoff die technische Anmutung der Architektur: «Das Drahtseil wirkt einerseits textil, bewahrt aber andererseits seinen technischen Charakter.»
Lucie Schenker arbeitete für das Drahtgewebe mit der Weberin Vreni Eckert zusammen, die zum Entstehungszeitpunkt des Kunstwerkes in St.Gallen tätig war. Eckert verwob die Drähte in Kette und Schuss miteinander, für die anspruchsvolle Arbeit musste sie Handschuhe tragen. Die senkrecht herabhängenden Kettdrähte wurden zu jeweils 52 Drahtseilen, die zunächst alle dieselbe Länge hatten. Diese gleich langen Drahtseile kürzte Lucie Schenker dann im Sinne ihres künstlerischen Gestaltungskonzeptes: Von der Eingangstür links herkommend verändert sie die Länge der einzelnen Drahtseile von sehr kurz zu lang – bis sie den Boden auf Höhe der Fensterwand erreichen. Im gegenläufigen Gestus verjüngten sich die Drahtseile auf der anderen Seite des Fensters von ebendieser Ebene aus nach oben hin.
Die Drahtseile sorgten für einen deutlichen Übergang von der Wandfläche zum Raum. Sie wirkten einerseits als flächige Gestaltung vor der Wand, waren jedoch andererseits selbst dreidimensional und mit einem deutlichen Abstand zur Wand montiert. Dieser Zwischenraum war dadurch ebenfalls Teil der Arbeit. Die Fläche löste sich auf und trat dank der gewebten Struktur und der jeweils 52 Schussfäden in den Raum über. Eine Betonung des Raumes erfolgte auch durch die farbigen Paneelen. Sie waren in türkis und grau gehalten und widersprachen dem Eindruck der Spiegelung: Auf der Seite der Glaswand dem Eingang zu waren die dreieckigen Formen leicht anders gesetzt als auf der Seite der Glaswand mit der Sitzgruppe. Diese war von vornherein hier vorgesehen und wurde von der Künstlerin beim Entwurf ihrer Arbeit mitbedacht. Lucie Schenker setzt mit den Paneelen sehr starke farbliche Akzente, die stilistisch aus der Entstehungszeit des Werkes heraus zu verstehen sind: «Ich habe die Farbigkeit ausprobiert und mit den Farbtönen auf die bauliche Situation reagiert.»
Aufgrund der Umbaumassnahmen im Jahr 2021 und der grundsätzlichen Umgestaltung des Eingangsbereiches des Regierungsgebäudes, wurde die Arbeit mit dem Einverständnis der Künstlerin entfernt und ihr wieder zurück gegeben.
Report, Kunst am Bau, Regierungsgebäude Appenzell Ausserrhoden, Herisau