Ostschweizer Kunstsommer

by Kristin Schmidt

Ein Pool! Für die einen unverzichtbarer Bestandteil eines guten Sommers. Für die anderen lächerliches Prestigeobjekt mit schlechter Ökobilanz. Hellblau leuchtendes Karree am Sommertag, einladend oder abschreckend, aber in jedem Falle eine Badeanlage mit langer Tradition. Kein Wunder also, dass der Pool auch in Museen auftaucht. Für eine Abkühlung ist Nazgol Ansarinas Pool im Kunstmuseum Liechtenstein zwar nicht geeignet, lohnt aber unbedingt trotzdem einen Besuch. Er gehört zur ersten Ausstellung, die Letizia Ragaglia in ihrer neuen Position als Direktorin des Hauses in Vaduz realisiert hat. Sie zeigt vier Positionen in vier Räumen. Wer den ersten Raum betritt, sieht noch nicht viel vom pooltypischen Himmelblau. Erst wer die Leiter des grossen, weissen Quaders erklommen hat, blickt in die – allerdings trockene – Tiefe.
‹The Inverted Pool› der Iranerin Nazgol Ansarina präsentiert sich als nach innen gewendetes Haus, das die Kindheitserinnerungen der Künstlerin, aber auch ein aktuelles iranisches Lebensgefühl transportiert. Neben dem Pool ist Absalons ‹Cellule no. 5› aus der Museumssammlung zu sehen: eine minimalistische Zelle, die als Wohnklause und als Denkraum konzipiert ist. Sie passt bestens zum Pool und zeugt von der Aufgabe, mit der sich die Künstlerinnen und Künstler im Rahmen von «C(hoch)4» zu befassen hatten: Alle haben je ein Sammlungswerk in Beziehung zu ihrem eigenen Werk gesetzt. Diamond Stingily (*1990 in Chicago) hat eines der ältesten Gemälde im Besitz des Museums ausgewählt, ein barockes Blumenstillleben. Es wird zum dekorativen Element im Rahmen ihrer Referenz an den Friseursalon ihrer Mutter. Mit ihrer Installation würdigt Stingily familiäre Frauennetzwerke und verweist sie auf kollektive Erfahrungen Schwarzer in den Vereinigten Staaten. Die Kombination von Sammlungs- mit Ausstellungswerken sorgt für spannende Impulse in beide Richtungen.
Solche Impulse setzt einmal mehr auch das Zeughaus Teufen. Die Baumeisterfamilie Grubenmann und die Sammlung des Hauses reizt Künstlerinnen und Künstlern seit zehn Jahren zu neuen Gedanken übers Bauen, über die Gestalt des gebauten Raumes und über das Zusammenleben darin. Das gilt auch für die aktuelle Ausstellung. In deren Titel schwingt sogar der Sommer mit: Mit dem Titel «Florilegium» verspricht sie eine Blütenlese und damit ein Wiedersehen mit Künstlerinnen und Künstlern wie Beni Bischof, Regula Engeler, Alex Hanimann, Vera Marke, Christian Ratti, Loredana Sperini und Felix Stickel. Thomas Stüssi beispielsweise baut aus studentischen Modellen von Grubenmannbauten eine neue Struktur. Celine Manz aus Basel hingegen ist zum ersten Mal dabei, sie löst die Konturen im Zeughaus mit roten und blauen Leuchtstoffröhren und farbigen Fensterfolien auf. Das Zeughaus Teufen ist weit davon entfernt, ein White Cube zu sein, aber genau deshalb funktioniert es so gut als Aufforderung an die Künstlerinnen und Künster, ihre Werke in Beziehung zum Haus und zueinander zu setzen. Während Ueli Vogt in Teufen neue und bestehende Netzwerke pflegt, sie in und an seinem Haus weiterwuchern lässt, werden im Kunsthaus Bregenz seit jeher Einzelpositionen gefeiert. In der diesjährigen Sommerausstellung hat Jordan Wolfson seinen grossen Auftritt. Der amerikanische Künstler ist in virtuellen Welten, fiktiven und aktuellen gesellschaftlichen Realitäten unterwegs. In seinen Werken thematisiert er Sexismus, Gewalt, Rassismus und Antisemitismus. Er versteht sich als Beobachter der Welt, indem er jedoch seine Beobachtungen künstlerisch transformiert und ausstellt, teil er sie und sorgt in Bregenz nicht unbedingt für sommerliche Hochstimmung.
Auf andere Weise unbequem wird es im Vögele Kulturzentrum in Pfäffikon. Mit «Der Tod, radikal normal» zeigt die Stiftung eine «Ausstellung über das, was am Ende wichtig ist» und stellt dabei zunächst einmal Fragen: Darf man einen Sarg als Möbel verwenden? Wie sieht das digitale Jenseits aus? Was prägt unseren Umgang mit Trauer und Verlust? Was soll nach dem Tode bleiben von uns? In der Kunst, der Popmusik, der Literatur, in den filmischen Medien oder der journalistischen Berichterstattung ist der Tod omnipräsent. Aber wie lässt sich diese Präsenz im Alltag ertragen und wie, wenn der Tod real und nahe ist? Allgemeingültige Antworten darauf zu geben, versucht das Vögele Kulturzentrum nicht, statt dessen soll ein heterogener Mix aus Alltagsobjekten, Gegenwartskunst, wissenschaftlichen Beiträgen und Kulturgegenständen Denkanstösse geben.
Vielleicht kommt dem einen oder der anderen beim Thema Tod die Familie in den Sinn, wird hier doch der Tod für die meisten Menschen am nächsten erlebt. Familie ist, wie der Tod, ein Bestandteil des Lebens, ist unendlich vielgestaltig, kann ebenso positiv wie negativ belegt sein. Das Fotomuseum Winterthur zeigt Familie aus der fotografischen Perspektive und schafft es zugleich, all die Zwischentöne abzubilden, die bei diesem Thema anklingen. Familie wird nicht als etwas Gegebenes dargestellt, sondern unter dem Titel «Wahlfamilie – Zusammen weniger allein» als soziales und kulturelles Konstrukt behandelt. Zu sehen sind Fotografien so renommierter Künstlerinnen und Künstler wie Nan Goldin, Richard Billingham oder Larry Clark, aber auch persönliche Fotoalben von Menschen aus der Schweiz. Die eigene Familiengeschichte wird in aufwendig arrangierten Szenen oder in Schnappschüssen reflektiert, sie kommt mal als Blutsverwandtschaft daher, mal als selbstgewählte Komplizenschaft.
Um vom kleinen familiären Kosmos zum grossen Ganzen und all den dortigen Herausforderungen zu gelangen, genügt der Wechsel aus dem Fotozentrum ins Kunstmuseum Winterthur: Hier ist die «Welt aus den Fugen». Neun jüngere Künstlerinnen und Künstler befassen sich mit akuten Themen wie Klimawandel, Migration, künstliche Intelligenz. Julian Charrière, Anne Imhof, Pamela Rosenkranz und andere präsentieren keine zweidimensionalen Werke an der Wand, sondern neun raumfüllende Installationen. Das Kunsterlebnis und damit das Erlebnis einer aus den Fugen geratenen Welt ist hier umfassend.
Andere Grenzen werden im Kulturort Galerie Weiertal aufgelöst. Das beginnt bereits mit der Anreise: Mit dem Zug geht es ab Bahnhof Winterthur bis Bahnhof Wülflingen und von dort sind es 30 Minuten Fussweg. Die Stadt wird zurückgelassen, das Land rückt näher, die Natur auch oder zumindest das, was der Mensch aus ihr gemacht hat. Hier treffen sich Waldsaum und Wiesen, Wassergräben und Obstbäume und in einem kleinen Weiler liegt der idyllische Garten der Galerie Weiertal. Hier werden seit langem Sommerausstellungen veranstaltet, die mit künstlerischen Interventionen den Kontakt aufnehmen zur Umgebung, die Kontraste setzen zur Idylle und die thematisch immer wieder Anknüpfungspunkte finden zu ihr. In diesem Jahr lautet das Thema «vonWegen» und spielt mit der Doppeldeutigkeit des Widerspenstigen und der Fusspfade. Der Weg wird bewusst auch als Lebensweg begriffen, als Umweg, Schleichweg und Bewegung: Wie bewegen wir uns? Was passiert unterwegs? Wem begegnen wir? Ist der Weg der richtige? Wohin werden wir kommen, wenn wir weitergehen? Die Kunst findet darauf vielfältige Antworten. Wie bereits in der Vergangenheit sind die Kunstwerke im Garten verteilt, lassen auch den Gartenteich nicht aus, verstecken sich in Schuppen und hinter Bäumen, lenken den Blick vom Garten aus hinaus in die Landschaft und eröffnen besonders in diesem Jahr immer wieder neue Wege. Oder gerade nicht? Stefan Rohner und Birgit Edelmann aus St.Gallen beispielsweise haben eigens für die Ausstellung einen begehbaren Bogen konstruiert. Gleich einer halbrund geschwungenen Brücke steht er im Gras. Doch ganz gleich von welcher Seite her nach oben gegangen wird, am Scheitelpunkt des Bogens geht es nicht einfach weiter: Beide Teile des Weges laufen ins Leere, ein grosser Schritt zur Seite ist notwendig, um nicht abzustürzen und den Hinunterweg antreten zu können. Die Verschiebung gibt vielfältige Denkanstösse und für einmal ist Geradlinigkeit nicht die beste Lösung.
Vom Weiertal zurück nach Winterthur dauert es ungefähr so lange wie von Winterthur nach St.Gallen. Hier hat der Ausstellungssommer viele Stationen und ebensoviele Facetten, in diesem Jahr zusätzlich bereichert durch die Klause in der Mühlenenschlucht. Auch hier ist eine Begegnung mit der Arbeit von Stefan Rohner möglich und eine andere mit derjenigen von Lika Nüssli. Ihre temporären Präsentationen in der Schlucht sind nicht allein: Sie befinden sich in dieser zwar städtischen, aber wildromantischen Umgebung in guter Nachbarschaft von permanent installierter Kunst.
Wer es urbaner mag, wird in diesem Jahr anderswo fündig: Gleich drei Grossausstellungen locken das kunstinteressierte Publikum. Die Documenta in Kassel ist die fünfzehnte und stiess bereits im Vorfeld eine breit geführte Kulturdebatte an. Die vierzehnte Ausgabe der europäischen Wanderbiennale Manifesta ist in diesem Jahr in Prishtina zu Gast und führt somit auf unausgetretene Kunstpfade. Die etablierteste aller Biennalen in Venedig findet neu ebenfalls in den geraden Jahren statt, der Rhythmuswechsel ist pandemiebedingt. Aber es müssen nicht immer die international bekannten Grossanlässe sein, die eine Reise lohnen.
Das Bergell hat ebenfalls eine Biennale, auch sie ist international besetzt, auch sie punktet mit hochkarätigen Werken, die obendrein alle für den Ort, das Tal entstanden sind. Vicosoprano ist in diesem Jahr der Hauptaustragungsort. Thematisiert wird dort die Verbindung der Dörfer durch die Geographie des Tales, durch die Naturgewalten und die sozialhistorischen Entwicklungen. Prägend sind beispielsweise die Handelsroute in den Süden, die Passstrasse und die Albigna-Staumauer, die Reformation oder die Hexenprozesse. Das sind hervorragende Ausgangspunkte für künstlerische Auseinandersetzungen. Julian Charrière beispielsweise durchsuchte Archive nach Filmausschnitten, die das Fällen und Fallen von Bäumen zeigen. Aus unzähligen Aufnahmen montierte er eine Chronologie des Fällens: Keile werden in die Stämme geschlagen. Die Stämme reissen langsam auf bis die Bäume schliesslich zu Boden krachen. Einmal mehr findet der Künstler eindringliche Bilder für den Umgang des Menschen mit den sich erschöpfenden Ressourcen der Natur. Lena Maria Thüring verbindet in ihrer multisensorischen Arbeit ihre Recherchen zur gesellschaftlichen Stellung von Frauen heute und den Bergeller Hexenprozessen des 16. bis 18. Jahrhunderts. Duft, Video und Ton verweben sich in einer dichten Installation im Ausstellungsraum. Nevin Aladağ arbeitet im Aussenraum: Sie beleuchtet den Fluss Maira und zeigt damit seine Bedeutung für das Dorf und für das Bergell. Er ist dank der Wasserkraft Teil der Wirtschaft des Bergell, besitzt aber zugleich eine grosse zerstörerische Kraft. Der Ostschweizer Christian Hörler lenkt den Blick auf die in alter Handwerkstechnik gebauten Trockenmauern. Der Künstler mauerte selbst einen Quader ohne den Einsatz von Mörtel. Zwei andere mit ostschweizer Bezug sind Jiajia Zhang und Jiří Makovec. Sie haben in der Landschaft natürliche und von Menschenhand gemachte Zeichen fotografisch gesammelt. Die faszinierenden, oft surrealen Momente werden auch als Postkartenserie veröffentlicht. Werden die Postkarten vom Bergell aus versendet, reist auch das Kunstwerk durch Welt und Zeit. Es breitet sich aus und belebt obendrein die schöne alte Kulturtechnik des Postkartenschreibens. Also auf ins Bergell und den Stift nicht vergessen!