Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Lies weiter und tanze!

Seine Themen sind Rassismus, Medienkonsum, Popkultur und die Kunst selbst. Tony Cokes stellt aktuell im Kunstmuseum Liechtenstein aus. Seine Werke schaffen die Synthese von Wort, Farbe und Musik.

Achtung Text! In der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein gibt es viel zu lesen: Satzschnipsel, Worte, Sätze – gross auf Bildern, Plakaten, Monitoren und sogar wandfüllend in Videoprojektionen. Eingeblendet. Ausgeblendet. Der nächste Satz, die nächsten Wörter. Lies weiter! Aber bleibe nicht stehen, sondern bewege Dich! Tony Cokes schafft, woran wortreiche Ausstellungen oft scheitern: Der US-amerikanische Künstler verzichtet vollständig auf abbildende Motive und fesselt dennoch. Er packt Textmaterial auf Textmaterial, aber er langweilt nicht. Er fordert Aufmerksamkeit ein, will aber keinen Stillstand oder andächtige Versenkung. Stattdessen forciert er ein schwungvolles Eintauchen in die Inhalte der Ausstellung. All seine Installationen werden begleitet von eingängigen, elektronischen Rhythmen. «Let Yourself Be Free» ist von Musik durchdrungen. Die Ausstellung verführt dazu mitzuwippen, weiterzuschlendern und den Klängen nachzugehen – und trotzdem ist sie nicht oberflächlich oder nur aufs Seh- oder Hörvergnügen ausgerichtet.
Tony Cokes ist 1956 in Richmond, Virginia, geboren und lebt in Providence, Rhode Island. Er ist bekannt für seine Videoarbeiten, in denen er Zitate vor leuchtend farbigen Hintergründen einblendet und mit Musik kombiniert. Die Quellen seiner Textfragmente sind Interviews, Aufsätze, Artikel, sie stammen aus journalistischen, akademischen oder populären Quellen.

Bilderverzicht in bildreichen Zeiten

Bis zum 11. September 2001 verwendete Cokes auch Bilder, aber – so berichtet Tony Cokes in einem Interview mit Letizia Ragaglia, der Direktorin des Kunstmuseum Liechtenstein – dieses Ereignis brachte ihn auf die Frage, ob er die schockierenden Fotos der Terroranschläge wirklich einsetzen wollte: «Ich dachte, es müsste doch interessanter sein, über diese Bilder und ihre Wirkung zu sprechen, ohne sie vor Augen zu haben. Später dämmerte mir allmählich, dass diese Vorgehensweise – die Bilder selbst gar nicht zu zeigen – dem Publikum Raum bot, die eigene Erinnerung und eigene Phantasie zu nutzen.» Mit dem Verzicht auf die Wiederholung vorhandener Bilder, öffnet er der Vorstellungskraft einen grösseren Raum. Zugleich kann sein Festhalten an dieser Arbeitsweise inzwischen auch als Absage an die Allgegenwart der Bilder gesehen werden. Mit der immer stärkeren Präsenz der Bilder, ihrer nahezu lückenlosen Verfügbarkeit, kann ein Kunstwerk ohne abbildendes Motiv ein umso stärkeres Zeichen setzen. Tony Cokes vertraut darauf, dass alle ausreichend viele Bilder gesehen haben, um angesichts seiner Themen sofort anknüpfen zu können. So zitiert er beispielsweise aus der Autobiografie des Schwarzen Architekten Paul Revere Williams. Dessen Reflexionen über modernistisches Design, über seine Erfahrungen mit rassistischer Segregation und seine Bemühungen, sich in diesem Umfeld als Architekt zu behaupten, sind so eindrucksvoll, dass sie keiner Bebilderung bedürfen. Oder wenn er den Kurator Okwui Enwezor zu Wort kommen lässt: Der 2019 verstorbene Nigerianer und Kosmopolit spricht über die omnipräsenten Vorurteile und Klischees, wenn über das Begriffspaar Design und Afrika gesprochen wird. Indem Cokes keine Illustrationen liefert, ermöglicht er ein neues Denken, statt die alten Vorstellungen fortzuschreiben.

Kunst über Kunst

Einen anderer grosser Themenschwerpunkt Cokes´ ist die Kunst selbst. Der Künstler lässt Personen aus der Kunstwissenschaft ebenso zu Wort kommen wie solche mit eigener Sammlung, er widmet sich Kunstbegriffen und der Kunstproduktion. Deshalb passt es gut, dass er im Kunstmuseum Liechtenstein auf die Sammlung zurückgreifen und seine Soloschau mit passenden Werken bestücken konnte. Dies beschert dem Kunstpublikum ein Wiedersehen mit Highlights der Minimal Art, der Pop Art und Werken aus der Sammlung Rolf Ricke. Zu sehen sind beispielsweise charakteristische Installationen mit Leuchtstoffröhren von Dan Flavin, Andy Warhols ikonische Siebdruck-Bilder oder Werke von Richard Serra und Donald Judd. Letzterer kommt neben Rolf Ricke und dem Kurator Harald Szeemann auch in einer Auftragsarbeit vor, die Tony Cokes eigens für das Kunstmuseum Liechtenstein realisiert hat und die sich aufs Beste einfügt in die Ausstellung wie auch in die Sammlung des Hauses.

Der Künstler als DJ

Tony Cokes agiert in seinen Arbeiten oft wie ein DJ: Seine Botschaft steckt in seiner Auswahl. Das gilt für alle von ihm verwendeten Medien. Zugleich spielt die Musik eine besondere Rolle. Sie ist nicht nur Sound, sondern als popkulturelles Phänomen auch Inhalt seiner Arbeiten. In «The Morrissey»-Problem schildert er beispielsweise den Zwiespalt, als Schwarzer Teenager die Musik von The Smiths geliebt zu haben und sie immer noch zu hören, sich aber von den rechtsradikalen, rassistischen Äusserungen Morrisseys zu distanzieren. Auch Persönlichkeiten wie Michael Jackson oder Britney Spears analysiert der Künstler in ihrer Komplexität und Medienpräsenz. Immer wieder gelingt ihm dies durch griffige Zitate und einem nüchternen, reflektierten Umgang mit den Quellen. Nicht zuletzt deshalb lohnt Tony Cokes bildfreie Kunst einer eingehenden Betrachtung.

Ein Haus im Haus

Im Kunsthaus Bregenz steht ein Ein-Zimmer-Haus. Es erinnert an futuristische Filmkulissen und Wohnmaschinen. Es ist zum Teilen gedacht, von einer Künstlerpersönlichkeit, die anonym bleiben will.

Das Wasser läuft, der Strom fliesst, der Kühlschrank kühlt, das Haus funktioniert. Nur ein Dach hat es nicht – braucht es auch nicht. Denn dieses Haus ist ein Parasit. Es braucht einen Wirt, von dem es seine Energie bezieht, in dessen System es sein Abwasser einspeist und der eine zusätzliche schützende Hülle bietet. Ein Haus als Schmarotzer also? So einfach ist es nicht. Das Haus, zusammengesetzt aus Aluminiumplatten, steht im Kunsthaus Bregenz im dritten Obergeschoss auf kleinen Stelzen. Dazwischen ist Platz für Zu- und Ableitungen, für Generatoren und Motoren. Zwei der Wände des Hauses lassen sich wie die Flügeltüren eines Sportwagens hydraulisch nach oben öffnen. Eines der Fenster gibt den Blick frei auf ein WC, wie es an Autobahnparkplätzen zum Einsatz kommt: aus Edelstahl und ohne Klappsitz. Alles ist auf lange Haltbarkeit ausgelegt, wirkt nüchtern und kühl wie das Cyberpunk Ambiente aus «Blade Runner» oder anderen Science Fiction Filmen. Nur die Matratze lädt zum gemütlichen Ausruhen ein. Immerhin. Denn das Haus ist für die Benutzung konzipiert, und es ist nicht nur ein Parasit, sondern ein Geschenk.

Nabelschnur des Hauses

Noch wird das metallene Haus vom Kunsthaus Bregenz mit Strom und Wasser versorgt: Im zweiten Obergeschoss sind eigens die halbtransparenten Deckenelemente entfernt, um das Rohrsystem zu zeigen, an dem das Haus wie an einer Nabelschnur hängt. Noch. Denn dieses Haus soll Künstlerinnen und Künstlern überall dort zur Verfügung stehen, wo es gebraucht werden könnte. So ist es im Konzept zur Ausstellung festgehalten. Wer es allerdings erdacht und konstruiert hat, muss streng geheim bleiben. Das gesamte Team des Kunsthauses Bregenz hat eine Einverständniserklärung unterzeichnet und verrät den Namen der Künstlerin oder des Künstlers nicht. Wer spekulieren möchte, kommt immerhin darauf, dass es sich um eine bekannte Person aus dem Kunstbetrieb handeln muss. Denn einerseits sind die grossen Namen ein Markenzeichen im Kunsthaus Bregenz – der anonyme Auftritt war nicht von Anfang an so vorgesehen. Andererseits muss es sich eine Künstlerpersönlichkeit leisten können, ihren Namen nicht im Kontext dieser renommierten Institution zu nennen.

Verzicht und Geschenk

Aber so berühmt die Person auch sein mag: Die eigene Identität nicht preiszugeben, ist sowohl ein Verzicht als auch ein Zeichen. Dahinter steckt der Wunsch, ein Werk zu produzieren, das unabhängig bleibt von den kommerziellen Interessen des Kunstmarktes, das nicht in einer Privatsammlung landen soll und das sich der Vermarktung durch die ausstellende Institution entzieht. Stattdessen wird das Ausstellungsbudget genutzt, um einen Wert zu schaffen, der anderen Künstlerinnen und Künstlern zugute kommt – so ist es in den Vereinbarungen zu diesem Haus festgehalten: Wenn die Ausstellung zu Ende ist, soll das Haus reisen. Es erhält ein Dach und eine Isolierung. Wie letztere aussehen könnte, wird im ersten Obergeschoss demonstriert. Dämmelemente, gefüllt mit Steinwolle stehen hier frei im Raum. Mit ihrer gefaserten Oberfläche in vielen Brauntönen präsentieren sie sich in diesem Kunstkontext als Bindeglied zwischen Bauteil und Relief, zwischen Paravent und Bild. Dank dieser Dämmung kann das Gehäuse auch im Freien als temporärer Wohn- und Arbeitsraum genutzt werden. Damit es transportabel wird, ist es modular konzipiert. In dieser minimalistischen, funktionalen Bauweise erweist es dem Bauhaus ebenso Reminiszenz wie ursprünglichen Formen des nomadischen Wohnens. Und weil auch die Publikation zur Ausstellung zweckmässig ist und nicht einem Künstlermythos dient, ist hier Do It Yourself angesagt: Im Erdgeschoss steht ein Kopiergerät aus den Büros des Kunsthauses. Hier kann die Bauanleitung und das Inventar dieses Atelierhauses vervielfältigt werden – so geht Teilen ganz ohne Eitelkeiten.

Nina Emge – Gedankengefässe aus Stahl und Luft

Winterthur — Früher waren die oxyd – Kunsträume ein Lager. Korn, Salz und andere Waren wurden hier aufbewahrt. Das passt perfekt für Nina Emge. Die Zürcher Künstlerin interessiert sich für das Speichern und das Erinnern als kulturelle Praktiken. Das eine ist für gewöhnlich an Orte oder Medien gebunden, das andere kann vollständig immateriell stattfinden. Bei Nina Emge kommt beides zusammen. Die Künstlerin kreiert Gefässe für Gedanken, Behältnisse für Erinnerungen sowie Bilder für das, was Sprache kaum fassen kann. Sie hat Stahlbänder in endlosen Schlaufen verschraubt und mit Metallstangen an den pfeilerartigen Stützen des oxyd montiert. Einige der amöbenhaften Formen schweben in der Luft, andere setzen auf dem Boden auf, so als wollten sie kurz verweilen und dann wieder abheben. In ihrer fragilen Präsenz behaupten sie sich mühelos gegenüber den Leitungen, Schienen, Kabeln, Rohren und Belüftungsschächten des Zweckgebäudes. Sie lassen sich als ungegenständliche Zeichnungen lesen, zugleich weist Emge die umschriebenen Leerflächen als Reservoir unermesslich vieler Gedanken aus: ‹Hier hängt, was künftig auf uns zukommt› heisst eine schwebende Form, ‹Dort hängt, was wir schon alles vergessen haben›, verkündet eine andere. Als Depot für alles, was lieber verdrängt wird, bietet sich eine dritte an: ‹Da hängt alles was meinem Herzen zu schwer ist›.

Während die Stahlbänder dynamisch geformt, durchlässig und offen sind, ist ‹Container II (Hans-Jörgs Harfentransportbox›, 2025 ein kleines Monument. Der Harfenkoffer gehörte Emges Grosseltern. Das Instrument jedoch ist abwesend, der Kasten selbst ist der Resonanzkörper. Er beherbergt noch immer Schutzpolster, zwei Etiketten und eine kleine Tasche. Neu hinzugekommen ist ein dichtes Gewebe aus Zeichnungen: kryptische Notizen, kleine Szenen mit Fabelwesen, Ornamente, Symbole. Damit ist der Koffer nicht länger nur dienender Behälter, er ist erinnernder Akteur geworden.

Ein drittes Element der Ausstellung ist die Bildserie ‹Guck, was die Zeit aus uns macht›: Mit Malven, Schwarztee und Baumnussschalen eingefärbte Textilien öffnen weite Bildräume. Überhängende Stoffteile, Falten und kleine aufgestickte Perlen sprengen den traditionellen Bildrahmen. Die Serie berührt zwei andere grosse Interessenfelder der Künstlerin: geteilte, dezentrale Arbeitsmethoden und deren Dauer. Emge beizt und färbt für die Serie unbehandelte Baumwolle, zerteilt sie und näht sie neu zusammen, um sie anschliessend aufzuspannen. Dieser aufwendige Prozess ist genauso ein Kommentar zu Zeitlichkeit wie das Färbematerial selbst, dessen langandauernde Wirkung schon für den Schriftsteller Peter Kurzeck ein taugliches Sinnbild war, denn die braunen Flecken der Baumnussschalen sind «mit nichts von den Händen abzubekommen, ausser mit der Ze

Nina Emge: Beginnings Without Ends or Still There Are Seeds to be Gathered
oxyd – Kunsträume, Winterthur, bis 19.10.
www.oxydart.ch

Julia Steiner – Fliessende Energie, neue Konstellationen

«Ich denke aus dem Material heraus und nicht an die fertige, abgeschlossene Arbeit.» Für Julia Steiner ist alles im Fluss. Die Künstlerin verwebt frühe Werke mit späteren, setzt Werkgruppen zueinander in Beziehung und zeichnet in grossem Massstab. Räume bilden oft den Ausgangspunkt ihrer Arbeiten, dies gilt für ihre Wandzeichnungen genauso wie für die grossformatige Installation, die sie aktuell im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil realisiert hat.

«Ich will mit Raumzeichnungen Räume verändern.» Julia Steiner zeichnet mit schwarzer Gouachefarbe direkt auf die Wand, über Raumkanten hinweg, durch Treppenhäuser hindurch, hinauf bis an die Decke. Ihre Zeichnungen sind ebenso kraftvoll wie poetisch, ebenso dynamisch wie präzise. Die dicht gesetzten Pinselstriche fügen sich zu wogenden Energiefeldern. Mal sind sie dicht gesetzt und erzeugen den Eindruck von Tiefe, an anderen Stellen fasern sie aus ins Weiss der Wand. Gezielt ausgesparte Stellen leuchten gleissend hell aus dunkleren Bereichen heraus. Gegenständliche Andeutungen sind nie weit entfernt, drängen jedoch nicht in den Vordergrund. Blätter, Federn, Flügel lassen sich erahnen und verschwinden wieder in Wolken abstrakter Strukturen. Unter diesen grossformatigen Wandbildern verschwinden die Raumgrenzen. Julia Steiner verbindet alles zu einem Kontinuum. Sie negiert die Raumdimensionen nicht, sondern nutzt sie für ein neues Raumerlebnis. Damit hat sie bereits grosse Ausstellungsräume temporär umgestaltet, das Centre Pasquart, Biel beispielsweise, das Marta Herford, das Helvetia Art Foyer, Basel oder das Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern. Da lag es nahe, auch für ihre aktuelle Ausstellung im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil so zu arbeiten: «Die ersten Gespräche drehten sich noch um eine Wandzeichnung, aber das Kunst(Zeug)Haus hat keine Räume, sondern nur Wände.» Diese Wände sind eingestellt in den Ausstellungssaal und sie sind durchfenstert. Überwölbt ist der Saal von einem offenen Bogen hölzerner Rippen. Die Architektur ist selbst ist schwungvoll, energiegeladen. Julia Steiner verzichtete darauf, hier mit einer Wandzeichnung eine zusätzliche dynamische Geste in den Raum zu schreiben. Stattdessen platziert sie drei unterschiedliche Setzungen, die sich überlappen, aufeinander beziehen und alle drei aus ihrem bisherigen Werk heraus entwickelt sind: die Konstellationen, die grossformatigen Zeichnungen und Partitur (hier und dort – Licht und Lot) – eine Installation aus Baumwollfäden, die von den Rippen des Daches herunterhängen.

Baumwollgarn als bewährtes Material

Faden für Faden umschlingt einen Holzbalken und hängt lose im Raum. Vor dunklem Hintergrund erscheinen die Fäden als helle Linie, vor weissem Grund ziehen sie sich als dunkle Linie: «Das Garn lenkt und hat eine Präsenz im Raum. Für mich ist auch das eine Zeichnung.» sagt Julia Steiner. Das Baumwollgarn nimmt die Struktur und den Rhythmus des Daches auf, es verbindet das Alte und das Neue – und es ist ein Kontinuum in Julia Steiners Werk: «Ich verwende dieses Material von Anfang an.» So arbeitet die Künstlerin seit 2009 an root of potential (power of two), einem Objekt aus unbearbeitetem Baumwollgarn: Ein Faden machte den Anfang. An ihn knüpfte sie zwei weitere und wieder an jeden Faden zwei weitere. Inzwischen ist das Objekt auf eine kegelförmige Menge aus Baumwollfäden angewachsen. Bereits zweimal wurde es ausgestellt, nun ist es zum dritten Mal zu sehen. Und es hat wie viele der Skulpturen und Objekte Steiners einen engen Bezug zu ihrer Biografie und ihrem Körper: «Der oberste Knoten hängt auf meiner Scheitelhöhe.»
Für Skala, 2013 beispielsweise wählte die Künstlerin einen Ast mit ihrer Körperlänge und mit einem Umfang, den sie mit ihrer Hand umfassen kann. In die grosse runde Form aus massiven Glas von Sieben Leben, 2023 ist die Asche der verstorbenen Katze Julia Steiners eingegossen. Diese Arbeiten sind sehr persönlich, entfalten aber allgemeine Gültigkeit, weil die Künstlerin es hier – wie mit der Gegenständlichkeit in ihren Wandzeichnungen – bei Andeutungen belässt. Formen, Materialien, Dinge finden zueinander und bleiben in einer vagen Balance. Es kann so sein, aber auch ganz anders. Dies ist kennzeichnend für die Konstellationen: «Sie gehen von älteren Objekten aus, sie sind temporär und vom Material aus gedacht». Die Hocker, Sockel, Tischplatten, Gipsplatten, die Plastiken aus Gips, Glas oder Metall, die Stoffe und Gestelle aus dem Lager und dem Atelier der Künstlerin bilden ein dichtes Netz aus Bezügen. Sie verweisen auf frühere Arbeiten, aufeinander und auf die Zeichnungen. Sie tragen in sich einen stabilen Kern, der es erlaubt, sie immer wieder neu zuzuweisen: «Ich habe die mitgebrachten Dinge und Materialien lange herumgeschoben und kombiniert. Es sind keine neuen Werke daraus entstanden, sondern Setzungen.» Nichts ist neu gekauft. Dies spiegelt einerseits das Interesse der Künstlerin am Flüchtigen, Fragmentarischen und Raumspezifischen, andererseits ist es auch einem Nachdenken über nachhaltiges künstlerisches Arbeiten geschuldet: «Ich sichte die Dinge, um ihr Potential für mich auszuloten. Ich will nicht einfach immer nur weiter produzieren.»

Alles im Wandel

Julia Steiner denkt in einem räumlichen und zeitlichen Kontinuum. Sie arbeitet prozesshaft und bewegt sich in ihrem künstlerischen Werk der vergangenen 15 Jahre fliessend in alle Richtungen. Beispielsweise entstand das Objekt Bitumen (pair) durch das wiederholte Bestreichen eines Fadens mit flüssigem Asphalt während eines Atelieraufenthaltes 2014 in Peking und bezog sich in der smogdurchwaberten Stadt auf die Lunge, die Luft und das Atem. Bis vor zwei Jahren plante die Künstlerin, die Arbeit daran wieder aufzunehmen, entschied sich dann aber, das Werk zu belassen. Nun nimmt sie es wieder hervor, zeigt es in neuer Anordnung – und setzt es vielleicht später wieder in Bewegung, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Alles ist im Wandel; dieser Aspekt ist zentral für Julia Steiners Arbeit. Das prägt auch ihre Raumzeichnungen. Mit ihnen ist Julia Steiner weit ausserhalb der Kunstwelt bekannt geworden. Sie sind so anziehend und schön, dass es oftmals den Wunsch gibt, sie über die Ausstellungsdauer hinaus zu bewahren. Aber das Temporäre ist Julia Steiner auch bei diesen Arbeiten wichtig: «Die Wandzeichnungen dürfen auch wieder gehen, den Raum wieder frei machen. Jede Zeichnung ist ein Zustand.» Letzteres gilt auch für Steiners grossformatige Zeichnungen auf Papier: «Es geht nicht um das eine richtige Bild, sondern alles ist fliessend.» Kann so eine Zeichnung überhaupt beendet werden?

Geplante Auflösung

Auch für Julia Steiner gibt es den Moment, in dem das Bild fertig ist: «Die richtige Mischung von Dichte und Durchlässigkeit ist entscheidend. Ich versuche dort aufzuhören, wo die Zeichnung noch durchlässig ist. Deshalb arbeite ich auf Papier und nicht auf grundierter Leinwand.» Für das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil wählte die Künstlerin Zeichnungen aus den letzten fünf Jahren aus. Sie entstammen verschiedenen Werkgruppen und zeigen ebenfalls, wie sehr unterschiedliche Zeiten und Inhalte miteinander verbunden sind: «Vor zwanzig Jahren habe ich noch figurativ gearbeitet, während der Pandemie bin ich wieder zu angedeuteten Figuren gekommen. Körper und Vergänglichkeit sind wieder präsenter geworden.» Körper sind ein Thema, ein anderes sind Wurzeln als besondere räumliche Gebilde, die den Blicken oft verborgen bleiben, ein drittes ist in system (growing) I und II, beide 2021 zu sehen. Hier spielt Julia Steiner mit horizontalen und vertikalen Rhythmen und Verdichtungen: «Mich hat die Netzstruktur interessiert in Zusammenhang mit organischem Wachstum und Pflanzen – die Durchdringung und Verschiebung der Öffnungen.» So ist auch Julia Steiners aktuelle Installation zu verstehen: Mit Baumwollfäden zeichnet sie Linien in den Raum. Gitterstäben gleich schliessen die Fäden den Raum und geben dadurch neue Öffnungen frei. Sie sind durchlässig und dynamisch, je nach Tageszeit und Lichteinfall lösen sie sich auf oder verdoppeln sich durch Schatten an den Wänden. Und sie sind – wie so viele Arbeiten Steiners – ephemer in der Form und nachhaltig im Material: Die Arbeit wird sich auflösen, die Fäden aber werden früher oder später ihren Platz in neuen Werken Julia Steiners finden.

Julia Steiner (*1982) lebt und arbeitet in Basel. Nach dem Kunststudium in Bern und Berlin war sie Artist in Residence in Peking und kehrte mehrmals in die Stadt zurück, Atelierstipendien führten sie ausserdem nach London und Mallorca. Sie realisierte zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen sowie ortsspezifische Arbeiten, beispielsweise in der Abteikirche in Bellelay, der Galerie Urs Meile Beijing-Lucerne, dem Marta Herford Museum, dem Centre Pasquart Biel und dem Kunstmuseum Thun.

Julia Steiner. Konstellationen, Kunst(Zeug)Haus Rapperswil, bis 2. November
www.kunstzeughaus.ch

Denise Bertschi

Stein am Rhein — Rot fliesst das Harz des Paubrasilia unter seiner Rinde. Der Baum prägte einst den Küstenregenwald Brasiliens und gab dem ganzen Land seinen Namen. Heute ist er selten geworden. Zu begehrt war der Farbstoff für Textilien auf der ganzen Welt: Der Paubrasilia war eine der ökonomischen Grundlagen der Kolonialisierung. Denise Bertschi (*1983) hat seine Geschichte untersucht. Die Künstlerin und Forscherin war 2024 Artist in Residence im Chretzeturm der Jakob und Emma-Windler Stiftung in Stein am Rhein. Dort haben sie die Spuren der Stifter zu dem weitaus grösseren Themenfeld des Schweizer Kolonialgeschichte geführt: Die Geschwister Windler waren verwandt mit Marie Gnehm, der Tochter und Erbin von Robert Gnehm, Chemiker und späterer Mitbesitzer von Sandoz, einem ursprünglich auf Farbenherstellung spezialisierten Unternehmen. Bertschi nutzt dies als Steilvorlage für eine Arbeit über Industrialisierung, Globalisierung und die enge Verflechtung zwischen Wissenschaft und Geschäft, Kolonialismus und Ausbeutung von Ressourcen. Im Kulturhaus Obere Stube zeigt sie eine ebenso sachliche, wie dichte Ausstellung ihrer Untersuchungsergebnisse. So thematisiert sie gemeinsam mit Pedro Zylberstajn in einem Videoessay die Folgen des Rohstoffhandels. Ihre Recherchen in der ETH fliessen in ein zweites Video, untermalt von Cellostücken – auch die Cello-Bögen sind aus dem Holz des Paubrasilia gefertigt. Die Videos sind das Herzstück der Ausstellung; weitere Werke, Drucke und Archivmaterialien zu Gnehm vervollständigen diese kleine, aber sehenswerte Schau.

Kulturhaus Obere Stube, bis 31.10.
kulturhaus-oberestube.ch

Arbeiten für die textile Zukunft

Die einen sticken, stricken, knüpfen, weben. Die anderen trennen auf, zerschneiden, ziehen Fäden und lassen ausfransen. Gemeinsam ist allen TaDa-Residents die innovative Arbeit an textilen Themen zusammen mit Firmen und Institutionen aus der Ostschweiz. Jetzt feiert die TaDa – Textile and Design Alliance ihren fünften Geburtstag mit einer grossen Ausstellung im Werk2 in Arbon.

Die Textilindustrie hat sich zu einem der problematischsten Wirtschaftszweige entwickelt. Die Schlagzeilen reissen nicht ab. Die Menge des Konsums, die Transportwege, die Rohstoffgewinnung, die Arbeitsbedingungen, die zerstörerischen Auswirkungen eines globalisierten Systems auf lokale Handwerksbetriebe, die kaum vorhandene Kreislaufwirtschaft, die Belastung der Böden mit giftigen, langlebigen Chemikalien, die Abfallberge – die Liste der negativen Auswirkungen des schnellen, unreflektierten, überbordenden Konsums ist lang. Die Initiativen für ein Umdenken muten im Vergleich dazu klein und lokal an. Doch ihre Bedeutung ist gross, sie zeigen, dass es auch anders geht, gehen muss. Das gilt sowohl für die kleine Schneiderei, die sich irgendwo auf der Welt gegen die Übermacht der Marken stemmt, als auch für Künstlerinnen und Künstler, welche die katastrophalen Folgen von Fast Fashion in eindrucksvolle Bilder übersetzen. Einen anderen, sehr produktiven Ansatz hat die Textile and Design Alliance in der Ostschweiz gewählt. Seit fünf Jahren bringt sie unter dem freudig, aktiven Kürzel TaDA das internationale kreative Schaffen mit der traditionsreichen Textilproduktion der Ostschweiz zusammen. Was dabei herauskommt, zeigt jetzt eine eindrucksvolle Schau im Werk2 in Arbon.

Eine Webmaschinenhalle als Kulturort

Dieser Ort passt besonders gut, wurden doch hier vor Jahrzehnten von der Firma Sauerer Webmaschinen hergestellt und grossen Stückzahlen exportiert. Heute ist in dieser Halle noch immer die Textildruckerei Arbon tätig. Sie ist die letzte Schweizer Handsiebdruckerei und produziert auf höchstem Qualitätsniveau und sie ist eine der Partnerfirmen von TaDA. Dass nun also für anderthalb Wochen im zweiten Hallenteil die TaDa-Ausstellung einzieht, ist eine sehr gute Fügung. So sieht es auch Marianne Burki, die das Residenzprogramm seit seiner Gründung leitet: «Als im Frühjahr klar wurde, das Werk2 steht für eine Ausstellung zur Verfügung, haben wir zugesagt. So eine Halle kommt nicht jeden Tag auf einen zu. Aber es wurde eine sportliche Angelegenheit.» Das liegt einerseits an der weit über den Globus verstreuten Herkunft der Residents – von Indien bis in die USA, von der Schweiz bis Südafrika, von Finnland bis Libanon – und andererseits an der grossen Vielfalt der Arbeiten. Die einen nähen Glasperlen zwischen Stofflagen, die anderen arbeiten mit Bioplastik, die nächsten mit Rosshaar, wieder andere kreieren Tonfrequenzen, die sich auf Moiré-Effekte beziehen. Jährlich kommen sechs nationale und internationale Kunstschaffende, Gestalter oder Architektinnen für einen dreimonatigen Arbeitsaufenthalt nach Arbon. Und sie erhalten hier eine direkte Anbindung an die Praxis – sie können Maschinen, Labore und Produkte der regionalen Textilunternehmen, der Forschungsanstalt EMPA und die Sammlungen des Textilmuseums nutzen. So kommt eine inhaltliche und formale Bandbreite zustande, die von produktionstauglichen Prototypen reicht bis hin zu einzigartigen künstlerischen Installationen. Laura Deschl aus Deutschland hat beispielsweise eine textil-basierte Sensorik in ein Kleidungsstück integriert, die der kontinuierlichen Atemüberwachung dient. Es gibt seine medizinische Funktion kaum zu erkennen und vermittelt ein gutes Traggefühl. Bi Rongrong aus China untersuchte Stoffstrukturen aus verschiedenen Kulturen und die Brücken zwischen dem globalen Süden und Norden – sie fand überraschende Gemeinsamkeiten. marce norbert hörler aus Appenzell Innerrhoden und Berlin liess sich von kunstvollen Kragen aus der Stickereisammlung des Textilmuseums St.Gallen zu Chokern und Seidenschals inspirieren, die als sinnliches Orientierungsmittel funktionieren. Der in Genf lebende Südafrikaner Jamal Nxedlana erforscht Secondhand-Textilien als Träger von Erinnerung und kultureller Bedeutung. Ein Ausgangspunkt war der Dunusa-Markt in Johannesburg, Afrikas grösster Gebrauchtkleidermarkt. Besonders interessieren ihn Gebrauchsspuren wie Flecken und Falten, die er in Muster verwandelt, die von Reparatur, Wiederverwendung und kollektiver Erinnerung erzählen.

Ordnung in der Vielfalt

Von den insgesamt 33 TaDa-Residents sind in der Ausstellung mehr als zwei Drittel dabei. Marianne Burki hat deren Arbeiten, Prototypen und Prozesse chronologisch geordnet. Dass diese Abfolge dennoch lebendig und vielseitig wirkt, liegt einerseits an den gezeigten Stücken und andererseits an der Präsentation selbst: «Wir haben nichts neu gebaut, sondern genutzt, was da war.» Die Firmen haben Geräte, Container, Garderoben und Tablare beigesteuert. So vereinen sich pragmatische Infrastrukturen mit kreativem Schwung und improvisierte Displays mit gestalterischer Perfektion. Damit transportiert «TaDA: Together» perfekt die Botschaft des ganzen Programms: Durch die Verbindung von Kreativen aus aller Welt mit lokalen Textilunternehmen und -institutionen entstehen neue Impulse für Kunst, Industrie und Gesellschaft.

Die Kunsthalle in Türkis: Aida Kidane setzt sich in Arbon mit der kolonialen Vergangenheit Eritreas auseinander

Unter dem Titel «Casa M» präsentiert Aida Kidane in der Kunsthalle Arbon ihre aktuellen Recherchen. Die in Eritrea geborene Künstlerin setzt den Industriebau in Analogie zum italienisch geprägten baulichen Erbe in der eritreischen Hauptstadt Asmara.

Die Kunsthalle Arbon ist in Türkis getaucht. Sanft breitet sich die Farbe überall hin aus: Sie liegt über den Wänden und den dort hängenden Fotografien, sie umhüllt die Eintretenden und färbt die Stahlträger und den rauen Boden der Industriehalle ein. Der Effekt wird durch farbige Folien an den hoch angesetzten Fensterreihen erzeugt. Mit dem einfachen, aber wirkungsvollen Kniff hat Aida Kidane den Ausstellungsraum verwandelt – und die Welt draussen vor dem Hallentor gleich mit. Denn wer sich zurückwendet, erblickt die Welt draussen vor dem geöffneten Tor in Rosa. Die Komplementärfarbe bleibt jedoch eine Nebendarstellerin in dieser Ausstellung, die Hauptrolle gehört dem Türkis. Mit ihm setzt Aida Kidane optische und inhaltliche Bezügen zu Asmana. Dort, in der eritreischen Hauptstadt, ist die Künstlerin aufgewachsen, bis sie als Kind in den 1980er Jahren mit ihrer Familie nach Europa auswanderte. Sie studierte Architektur in Köln und Kunst in Linz und Basel – und ist inzwischen wiederholt nach Asmara zurückgekehrt.

Die modernistische Hauptstadt

Kidane setzt sich intensiv mit der Stadt, ihren Bauten, dem Leben dort und der Geschichte Eritreas auseinander. Das Land stand von 1890 bis 1941 unter italienischer Kolonialherrschaft. Die 1930er Jahre waren auch architektonisch eine prägende Zeit. Die modernistischen Bauten italienischer Architekten überlagerten in Asmara lokale Bautraditionen und formten die Stadt neu. Dieses Gesamtbild ist mit dem Label als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnet, birgt aber viele soziale und ästhetische Brüche. Aida Kidane analysiert diese in ihren Schwarzweissfotografien aufmerksam und unaufgeregt. Es sind teilweise Schnappschüsse, teilweise gezielte Aufnahmen. Mehrere Belichtungen überlagern sich und die Bilder sind in der Negativansicht zu sehen. Sie gleichen damit Röntgenbildern, mit denen die Künstlerin den Blick ins Innere der baulichen und gesellschaftlichen Struktur ihrer Geburtsstadt lenkt. So liesse sich anhand eines langen Flures mit Kronleuchter, eines Treppenhauses, eines rudimentär eingerichteten Zimmers fragen, was daran eritreisch ist. Es ist weniger das Besondere als das Universelle, das hier hervorsticht. Einzig die Beschriftungen der Häuser verweisen mit ihren Familiennamen oder Beschriftungen auf Eritrea.

Eine Leerstelle in Form eines Hauses

Was also macht Asmara aus? Es sind die Menschen: die Läuferinnen in der Nähe des Flughafens, die muslimischen Mädchen auf dem Schulweg, der Mann vor dem Postgebäude, die Frau vor der Apotheke. Und es sind die «Häuser, die langsam in die Knie gehen», wie es die Künstlerin anschaulich umschreibt. Die Architektur ist austauschbar, aber ihr Zustand ist spezifisch. So sind heute Räume oft in jenem markanten Türkis gestrichen, das die gesamte Ausstellung überstrahlt.
Leise aber pointiert kritisiert Aida Kidane italienische Kolonisation anhand ihrer baulichen Spuren auch im Video «Casa M». Hierfür hat sie ein Haus in Asmara vermessen und die Form des Grundrisses in Italien ausgraben lassen. Sie kehrt damit die Machtverhältnisse um: Italienische Bauarbeiter erhalten eine Aufgabe durch die Künstlerin. Diese wiederum baut nicht, sondern gräbt ein Loch, sie verkehrt die Positiv- in die Negativform. Diese Arbeiten sind im Video dokumentiert und mit einem pulsierenden Sound unterlegt. Bis in die Nacht hinein dauern die Arbeiten. Was bleibt, ist der aufgerissene Boden – eine Wunde im Erdreich. Aida Kidane findet im Rahmen ihrer künstlerischen Forschungsarbeit ebenso eindrückliche wie schlüssige Bilder.

Ein Fest in Pastell

Die Industriehalle wird zum Spiegel-Schnörkel-Kunst-Kabinett: Die Materialien der Künstlerin Karla Black sind einfach, doch die Wirkung ist prächtig und lässt sich nur vor Ort erleben.

Kunstraum Dornbirn — Puder, Pastell und Pomp, ein Schnörkel hier, ein Löckchen da – im 18. Jahrhundert feierte die Lust am Dekor ein rauschendes Fest. Jedenfalls an den europäischen Königshöfen, allen voran am französischen. Er wird spätestens im Rokoko zum Inbegriff des überschwänglichen, ausschweifenden Genusses an Farbe und Form. Die barocke, symmetrische Pracht wich einer leichtfüssigen Eleganz. Die Dinge mussten nicht mehr monumental sein, sondern zierlich, heiter, erotisch. Alles wurde verziert von der Robe bis zum Risalit, von der Pforte bis zur Perücke, von der Tasse bis zur Türklinke. Das Boudoir wurde der zentrale Ort eines jeden Wohnsitzes und das Pudertischlein zu dessen Mitte: In den Privatgemächern blieb der Luxus nicht aussen vor, im Gegenteil. Eine verspielte Ausstattung wurde hier auf die Spitze getrieben und prägte auch die Aufmachung der höfischen Gesellschaft. Das alles ist lange her. Wer sich ein Bild davon machen möchte, kann Sophie Coppolas Film «Marie Anoinette» ansehen, Schlösser und Orangerien besuchen, die Gemälde Watteaus und Bouchers studieren – oder in den Kunstraum Dornbirn gehen. Hier zeigt Karla Black ihre neue, eigens für diesen Ort entwickelte Installation «TITEL». Sie vermittelt eine allumfassende Raumerfahrung, die einerseits verwandt ist mit den architektonischen, künstlerischen und gestalterischen Bestrebungen im 18. Jahrhundert und andererseits ganz in der Gegenwart angesiedelt ist.

Schwerelos schwebend

Die schottische Künstlerin hat die ehemalige Montagehalle nicht einfach negiert und überformt, sondern sie hat deren Gegebenheiten aufmerksam in ihre eigene Arbeit integriert. Papierbahnen hängen von Decke und verleihen den monumentalen Raum ein menschliches Mass und Nähe. Zwischen den Bahnen hängen an Schnüren halbkugelige Formen und durchscheinende Folien. Sie sind schwerelos, schwebend und entziehen sich gegenständlichen Zuschreibungen. Am Boden fangen pulvrig markierte Flächen die vertikal ausgerichteten Objekte optisch auf. Sie bieten Halt und bilden Inseln für weitere Dinge wie Badekugeln und Makeup-Kügelchen. Eingefasst sind diese Flächen mit gekräuselten Borten aus Toilettenpapier. Aus diesem profanen Material sind auch die hängenden Papierbahnen – Karla Blacks Mittel sind einfach und doch verwandt mit jenen des Rokoko. Denn sie siebt Pigment- und Gipspulver auf den Boden. Ihre Farbpalette reicht von Rosa über Pfirsich bis Beige und Zartgelb: Pastell überall. Ein pudriger Duft durchzieht die Halle. Im Sonnenlicht verschmelzen die Farbtöne und die Materialien zu einem harmonischen Ganzen. Ein weiterer, auch im Rokoko oft genutzter Kunstgriff trägt zum Raumerlebnis bei: Die gerasterten Fenster an der hinteren Längsseite der Halle sind mit Spiegeln verkleidet. Sie lösen die Raumgrenzen auf, die Dinge verdoppeln sich, Farben und Licht werden reflektiert. Lustvoll spielt die Künstlerin mit dem Raum und den Möglichkeiten, ihn neu zu interpretieren.

Leicht und sinnlich

Abbilden muss sie dabei nichts. Auch wenn sie Gegenstände verwendet, bleibt ihre Arbeit ungegenständlich. Sie illustriert nicht und interpretiert nicht. Karla Blacks Installation ist einfach da. Die Künstlerin vertraut auf die Kraft des räumlichen Erlebens und konzentriert sich auf die physisch anwesende Welt: «Mein Werk ist im Wesentlichen formal. Sein Hauptinteresse ist ästhetisch. Was in ihm vorgeht, ist die Bearbeitung und Wiederbearbeitung des Verhältnisses von Farbe, Form, Material und Komposition.» Das klingt wenig sinnlich, entfaltet aber vor Ort einen starken optischen, olfaktorischen und haptischen Reiz. Gespeist wird letzterer auch durch den fragilen Charakter der Installation. Wie leicht reisst Toilettenpapier! Wie einfach lassen sich Puder und Pulver wegpusten! Wie schnell ist ein Spiegel angehaucht und beschlagen! Die Künstlerin vermeidet die feste Form und setzt stattdessen auf Unbestimmtheit. Sie siebt und stäubt, sie häuft und hängt, sie knotet und knüpft. Ihre Installation füllt eine ganze Industriehalle und ist doch niemals monumental. Sie ist eine Manifestation von Leichtigkeit und Schönheit.

Vom Rotkreuzgründer zum Hipster Henry

Das Museum Henri Dunant behandelt schwere Themen. Kaba Rössler und Nadine Schneider haben eine leichte Form des Umgangs damit gefunden und das Haus neu konzipiert. Mit der Ausstellung «Dunant Souvenir» verabschieden sie sich nun aus Heiden.

Strassen, Brücken, Schulen und Schiffe wurden nach Henri Dunant benannt, ausserdem ein Asteroid und eine Bergspitze. Weltberühmt war der Schweizer Humanist, als er 1910 in Heiden starb. Wer rund um den Globus so viele Fans hat, erfährt Huldigung mitunter auf merkwürdige Weise. So schmückt Dunants Konterfei Tassen und Löffel, Münzen und Seidenkrawatten, Wimpel und Weinetiketten. Einige dieser Souvenirs sind jetzt im Museum Henry Dunant in Heiden zu sehen in einer kleinen, aber sehenswerten Schau.

Die Objekte stammen aus Langenthal, vom St.Galler OpenAir, aus Togo und sogar aus der ehemaligen DDR. Dass sie jetzt hier miteinander zu sehen sind, ist Kaba Rössler und Nadine Schneider zu verdanken und ihrem unkonventionellen Blick auf den Gründer der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung.

Vor sechs Jahren kamen die beiden Museumsleiterinnen nach Heiden und hatten viel vor: «Wir sind keine Verwalterinnen. Uns ging es darum, ein eigenständiges, zeitgemässes Konzept zu entwickeln und umzusetzen.» Der erste Rundgang war allerdings ernüchternd, so Nadine Schneider: «Als wir das erste Mal im Museum waren, haben Kaba und ich gesagt: ‹Vergessen wir´s.›» Aber auf den zweiten Blick zeichnete sich das Potential des Hauses ab. Ausserdem, so ergänzt Kaba Rössler, «war auch Heiden selbst ein Argument: das Dorf, eine gute Infrastruktur, der Kursaal.» Die beiden blieben also und haben das Museum Henri Dunant von Grund auf neugestaltet.

Erzählungen statt Elektronik

Im Zentrum stand die Frage, wie ein Museum im 21. Jahrhundert aussehen muss. Während andernorts auf die Digitalisierung gesetzt wird, auf Tablets und auf immersive Effekte, vertrauen Kaba Rössler und Nadine Schneider auf das Objekt und die Reduktion: «Im Museum geht es darum, etwas zu erfahren, zu spüren und die eigene Lebenswelt zu reflektieren.» Kaba Rössler ergänzt: «Wir haben verschiedene Menschen gefragt, wann sie ein Museum weiterempfehlen. Die Antworten lauteten oft, ‹Wenn ich berührt, oder wenn ich betroffen bin.›»

Dafür braucht es nicht viele Objekte, sondern die richtigen; keine Endlostexte, sondern Erzählungen; weniger Elektronik, sondern Emotionen und eine gute Portion Kunst. Letztere ist aktuell mit dem Video «Fridu» von Sarah Hugentobler und Stephan Hermann vertreten. Es zeigt, wie sich Menschen gemeinsam einem Friedensbegriff annähern können: Das Wichtigste dabei ist der Austausch.

Abschied vom Museum

Der Film wird in der linken Museumshälfte gezeigt. Sie führt in die Gegenwart, während die rechte Hälfte Dunants Leben gewidmet ist. Links ist auch die Souvenir-Ausstellung zu sehen und eine Collage aus Schweizer Filmen zu Migrationsthemen. Bis jetzt ist es kaum mehr als eine Stunde Filmmaterial, aber bald sollen es 24 Stunden sein. Doch dieses und andere Projekte überlassen Kaba Rössler und Nadine Schneider ihrer Nachfolge, denn die beiden verabschieden sich in diesem Sommer als Museumsleiterinnen von Dunant.

Sie haben ihr Engagement von Anfang an als befristet verstanden, wenngleich ohne fixe Zeitvorgaben. Nun sind wichtige Meilensteine erreicht. Das Museum ist umgebaut, weitgehend barrierefrei, der Eingang präsentiert sich offen und einladend. Anderes ist noch pendent: «Der Betrieb kostet und Personal ist teuer, aber eine Leitung sollte nicht dem Geld hinterherrennen müssen. Unter einer stabilen Trägerschaft muss der Betrieb künftig finanziell gesichert werden.» Auch inhaltlich warten weitere Aufgaben, so wird beispielsweise der Lebenslauf Dunants sehr offen präsentiert. Künftige Museumsleitungen können hier ihre eigenen Schwerpunkte setzen.

Kaba Rössler und Nadine Schneider war es wichtig, Dunant in seiner Ambivalenz zu zeigen: «Uns gefällt, dass Dunant nicht einfach der Held ist. Sein kolonialistisches Gedankengut gehört ebenfalls zu seiner Persönlichkeit. Aber auch ein fehlbarer Mensch kann etwas bewegen.» Dunant hatte Krieg und Gewalt miterlebt und selbst eine Biografie voller Brüche. Aber auch dies lässt sich mit Leichtigkeit paaren und mit kuriosen Details würzen, wenn er beispielsweise in den ausgestellten Souvenirs zum Hipster Henry wird.

Die Reaktionen der Museumsgäste geben Rössler und Schneider recht. Trotzdem ist es für die beiden Frauen Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen: «Wir gehen in Minne und freuen uns auf neue Projekte.» Allzuweit weg begeben sie sich dafür nicht. Sie haben die Ostschweiz schätzen gelernt und in St.Gallen eine Bleibe für ihre Ideenwerkstatt gefunden.

Schmiede und Bären im Kunsthaus

Seit Małgorzata Mirga-Tas 2022 den polnischen Pavillon an der Biennale Venedig gestaltete, ist sie weltberühmt. Jetzt zeigt sie im Kunsthaus Bregenz die Ausstellung «Tełe Ćerhenia Jekh Jag»: Unter dem bestirnten Himmel brennt ein Feuer.

Eine Kunstausstellung als Reise: Wer das Kunsthaus Bregenz betritt, ist einen Sommer lang weit weg von Bodensee und Alpen. Stattdessen setzen die Besucherinnen und Besucher ihren Fuss in das Dorf Czarna Góra. Hier am Fusse der Hohen Tatra im polnischen Teil der Region Zips ist Małgorzata Mirga-Tas aufgewachsen – und sie lebt und arbeitet noch immer dort. Die 1978 geborene Künstlerin gehört der ethnischen Minderheit der Romnja an. Dem Sog der grossen Metropolen widerstehend, findet sie in ihrer Heimat ihre Motive, ihre Themen und den Anlass, die Traditionen mit neuen Augen zu sehen. Auch ihr Arbeitsmaterial und ihre Technik knüpfen an ihre Herkunft an: Mirga-Tas arbeitet mit farbenprächtigen Stoffen und gebrauchter Kleidung, oft mit floralen Mustern. Die Textilien wurden von Verwandten und Bekannten gespendet. Gemeinsam mit anderen Frauen näht die Künstlerin daraus gegenständliche Bilder.

Wächter aus Russ und Wachs

Das erste Obergeschoss des Kunsthauses ist Czarna Góra und seinen Menschen gewidmet. Die Textilcollagen zeigen Frauen und Kinder des Dorfes, einstöckige Holzhäuser, blühende Obstbäume, Hühner, Pferde und im Hintergrund die Gipfelketten des nahen Gebirges. Es sind idyllische Szenen. Ganz ausgeblendet ist die Gegenwart dennoch nicht. Mal ist es ein grüner Monobloc-Stuhl, der die heutige Zeit verrät, mal ein himmelblaues Kindervelo – und die Künstlerin selbst. Sie und weitere drei Frauen sind auf einem der Bilder bei der Arbeit zu sehen: Sie nähen einen der «Jangare», die in der Ausstellung zu sehen sind. Aber nicht aus Stoff, sondern als menschenähniche Figuren aus mit Russ eingefärbtem Wachs. Die Wortneuschöpfung der Künstlerin leitet sich ab vom Romanes-Wort für Kohle. Den «Jangaren» schreibt sie eine magische, Unheil abwendende Ausstrahlung zu. So wachen sie nun über die Siedlung wie der von Rabbi Judah Loew ben Bezalel erschaffene Golem über das Ghetto. Zudem sind sie angelehnt an die kleinen magischen Figuren aus Wachs, Tierknochen und Haaren, die von Romnja gefertigt werden.

Schmiede mit Sternenhimmel

Den Männern, genauer: den Schmieden, ist das zweite Stockwerk gewidmet. Hier hat Małgorzata Mirga-Tas ihre Textilcollagen zu einem kleinen Haus zusammengefügt: Es ist der Holzschmiede ihres Grossonkels nachempfunden. Auch ihr Grossvater war Schmied. Die Porträts der beiden hat sie in ihre Schmiede integriert. Mit diesem Werk ehrt sie ihre Vorfahren und deren harte Arbeit. Das Schmiedehandwerk war typisch für die südpolnischen Roma und zeigt Parallelen zur Alchemie: Mithilfe des Feuers wird Materie verwandelt. In Mirga-Tas´ Installation wird die Schmiede zu einem familiären Ort, der eng mit dem Kosmos verbunden ist: Die Innenseite des Daches ist sternenübersät – eine ebenso poetische wie weitreichende Lesart der Tradition.

Bären als Beschützer

Das Dorf und die Schmiede zurücklassend steigen die Reisenden anschliessend in das Gebirge hinauf: Hier, im dritten Obergeschoss des Kunsthauses, stehen die Bären im Mittelpunkt. Deren Dressur war jahrhundertelang das Metier der Roma. Aber Małgorzata Mirga-Tas zeigt die Bären nicht als dressierte oder eingesperrte Kreaturen. Statt dessen begegnen sich Mensch und Tier im Einklang und auf Augenhöhe. Zugleich spannt sich der Bogen zu den Jangaren: Bären aus schwarz eingefärbtem Wachs übernehmen die Rolle der Beschützer der Gemeinschaft. Auch hier dominiert die Idylle. Und doch steckt viel mehr dahinter: Die Künstlerin verbindet Ritual und Erinnerung mit der Gegenwart. Aus dem kollektiven Gedächtnis heraus lässt sich die Geschichte neu und selbstbestimmt weiterschreiben.