Julia Steiner – Fliessende Energie, neue Konstellationen

by Kristin Schmidt

«Ich denke aus dem Material heraus und nicht an die fertige, abgeschlossene Arbeit.» Für Julia Steiner ist alles im Fluss. Die Künstlerin verwebt frühe Werke mit späteren, setzt Werkgruppen zueinander in Beziehung und zeichnet in grossem Massstab. Räume bilden oft den Ausgangspunkt ihrer Arbeiten, dies gilt für ihre Wandzeichnungen genauso wie für die grossformatige Installation, die sie aktuell im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil realisiert hat.

«Ich will mit Raumzeichnungen Räume verändern.» Julia Steiner zeichnet mit schwarzer Gouachefarbe direkt auf die Wand, über Raumkanten hinweg, durch Treppenhäuser hindurch, hinauf bis an die Decke. Ihre Zeichnungen sind ebenso kraftvoll wie poetisch, ebenso dynamisch wie präzise. Die dicht gesetzten Pinselstriche fügen sich zu wogenden Energiefeldern. Mal sind sie dicht gesetzt und erzeugen den Eindruck von Tiefe, an anderen Stellen fasern sie aus ins Weiss der Wand. Gezielt ausgesparte Stellen leuchten gleissend hell aus dunkleren Bereichen heraus. Gegenständliche Andeutungen sind nie weit entfernt, drängen jedoch nicht in den Vordergrund. Blätter, Federn, Flügel lassen sich erahnen und verschwinden wieder in Wolken abstrakter Strukturen. Unter diesen grossformatigen Wandbildern verschwinden die Raumgrenzen. Julia Steiner verbindet alles zu einem Kontinuum. Sie negiert die Raumdimensionen nicht, sondern nutzt sie für ein neues Raumerlebnis. Damit hat sie bereits grosse Ausstellungsräume temporär umgestaltet, das Centre Pasquart, Biel beispielsweise, das Marta Herford, das Helvetia Art Foyer, Basel oder das Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern. Da lag es nahe, auch für ihre aktuelle Ausstellung im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil so zu arbeiten: «Die ersten Gespräche drehten sich noch um eine Wandzeichnung, aber das Kunst(Zeug)Haus hat keine Räume, sondern nur Wände.» Diese Wände sind eingestellt in den Ausstellungssaal und sie sind durchfenstert. Überwölbt ist der Saal von einem offenen Bogen hölzerner Rippen. Die Architektur ist selbst ist schwungvoll, energiegeladen. Julia Steiner verzichtete darauf, hier mit einer Wandzeichnung eine zusätzliche dynamische Geste in den Raum zu schreiben. Stattdessen platziert sie drei unterschiedliche Setzungen, die sich überlappen, aufeinander beziehen und alle drei aus ihrem bisherigen Werk heraus entwickelt sind: die Konstellationen, die grossformatigen Zeichnungen und Partitur (hier und dort – Licht und Lot) – eine Installation aus Baumwollfäden, die von den Rippen des Daches herunterhängen.

Baumwollgarn als bewährtes Material

Faden für Faden umschlingt einen Holzbalken und hängt lose im Raum. Vor dunklem Hintergrund erscheinen die Fäden als helle Linie, vor weissem Grund ziehen sie sich als dunkle Linie: «Das Garn lenkt und hat eine Präsenz im Raum. Für mich ist auch das eine Zeichnung.» sagt Julia Steiner. Das Baumwollgarn nimmt die Struktur und den Rhythmus des Daches auf, es verbindet das Alte und das Neue – und es ist ein Kontinuum in Julia Steiners Werk: «Ich verwende dieses Material von Anfang an.» So arbeitet die Künstlerin seit 2009 an root of potential (power of two), einem Objekt aus unbearbeitetem Baumwollgarn: Ein Faden machte den Anfang. An ihn knüpfte sie zwei weitere und wieder an jeden Faden zwei weitere. Inzwischen ist das Objekt auf eine kegelförmige Menge aus Baumwollfäden angewachsen. Bereits zweimal wurde es ausgestellt, nun ist es zum dritten Mal zu sehen. Und es hat wie viele der Skulpturen und Objekte Steiners einen engen Bezug zu ihrer Biografie und ihrem Körper: «Der oberste Knoten hängt auf meiner Scheitelhöhe.»
Für Skala, 2013 beispielsweise wählte die Künstlerin einen Ast mit ihrer Körperlänge und mit einem Umfang, den sie mit ihrer Hand umfassen kann. In die grosse runde Form aus massiven Glas von Sieben Leben, 2023 ist die Asche der verstorbenen Katze Julia Steiners eingegossen. Diese Arbeiten sind sehr persönlich, entfalten aber allgemeine Gültigkeit, weil die Künstlerin es hier – wie mit der Gegenständlichkeit in ihren Wandzeichnungen – bei Andeutungen belässt. Formen, Materialien, Dinge finden zueinander und bleiben in einer vagen Balance. Es kann so sein, aber auch ganz anders. Dies ist kennzeichnend für die Konstellationen: «Sie gehen von älteren Objekten aus, sie sind temporär und vom Material aus gedacht». Die Hocker, Sockel, Tischplatten, Gipsplatten, die Plastiken aus Gips, Glas oder Metall, die Stoffe und Gestelle aus dem Lager und dem Atelier der Künstlerin bilden ein dichtes Netz aus Bezügen. Sie verweisen auf frühere Arbeiten, aufeinander und auf die Zeichnungen. Sie tragen in sich einen stabilen Kern, der es erlaubt, sie immer wieder neu zuzuweisen: «Ich habe die mitgebrachten Dinge und Materialien lange herumgeschoben und kombiniert. Es sind keine neuen Werke daraus entstanden, sondern Setzungen.» Nichts ist neu gekauft. Dies spiegelt einerseits das Interesse der Künstlerin am Flüchtigen, Fragmentarischen und Raumspezifischen, andererseits ist es auch einem Nachdenken über nachhaltiges künstlerisches Arbeiten geschuldet: «Ich sichte die Dinge, um ihr Potential für mich auszuloten. Ich will nicht einfach immer nur weiter produzieren.»

Alles im Wandel

Julia Steiner denkt in einem räumlichen und zeitlichen Kontinuum. Sie arbeitet prozesshaft und bewegt sich in ihrem künstlerischen Werk der vergangenen 15 Jahre fliessend in alle Richtungen. Beispielsweise entstand das Objekt Bitumen (pair) durch das wiederholte Bestreichen eines Fadens mit flüssigem Asphalt während eines Atelieraufenthaltes 2014 in Peking und bezog sich in der smogdurchwaberten Stadt auf die Lunge, die Luft und das Atem. Bis vor zwei Jahren plante die Künstlerin, die Arbeit daran wieder aufzunehmen, entschied sich dann aber, das Werk zu belassen. Nun nimmt sie es wieder hervor, zeigt es in neuer Anordnung – und setzt es vielleicht später wieder in Bewegung, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Alles ist im Wandel; dieser Aspekt ist zentral für Julia Steiners Arbeit. Das prägt auch ihre Raumzeichnungen. Mit ihnen ist Julia Steiner weit ausserhalb der Kunstwelt bekannt geworden. Sie sind so anziehend und schön, dass es oftmals den Wunsch gibt, sie über die Ausstellungsdauer hinaus zu bewahren. Aber das Temporäre ist Julia Steiner auch bei diesen Arbeiten wichtig: «Die Wandzeichnungen dürfen auch wieder gehen, den Raum wieder frei machen. Jede Zeichnung ist ein Zustand.» Letzteres gilt auch für Steiners grossformatige Zeichnungen auf Papier: «Es geht nicht um das eine richtige Bild, sondern alles ist fliessend.» Kann so eine Zeichnung überhaupt beendet werden?

Geplante Auflösung

Auch für Julia Steiner gibt es den Moment, in dem das Bild fertig ist: «Die richtige Mischung von Dichte und Durchlässigkeit ist entscheidend. Ich versuche dort aufzuhören, wo die Zeichnung noch durchlässig ist. Deshalb arbeite ich auf Papier und nicht auf grundierter Leinwand.» Für das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil wählte die Künstlerin Zeichnungen aus den letzten fünf Jahren aus. Sie entstammen verschiedenen Werkgruppen und zeigen ebenfalls, wie sehr unterschiedliche Zeiten und Inhalte miteinander verbunden sind: «Vor zwanzig Jahren habe ich noch figurativ gearbeitet, während der Pandemie bin ich wieder zu angedeuteten Figuren gekommen. Körper und Vergänglichkeit sind wieder präsenter geworden.» Körper sind ein Thema, ein anderes sind Wurzeln als besondere räumliche Gebilde, die den Blicken oft verborgen bleiben, ein drittes ist in system (growing) I und II, beide 2021 zu sehen. Hier spielt Julia Steiner mit horizontalen und vertikalen Rhythmen und Verdichtungen: «Mich hat die Netzstruktur interessiert in Zusammenhang mit organischem Wachstum und Pflanzen – die Durchdringung und Verschiebung der Öffnungen.» So ist auch Julia Steiners aktuelle Installation zu verstehen: Mit Baumwollfäden zeichnet sie Linien in den Raum. Gitterstäben gleich schliessen die Fäden den Raum und geben dadurch neue Öffnungen frei. Sie sind durchlässig und dynamisch, je nach Tageszeit und Lichteinfall lösen sie sich auf oder verdoppeln sich durch Schatten an den Wänden. Und sie sind – wie so viele Arbeiten Steiners – ephemer in der Form und nachhaltig im Material: Die Arbeit wird sich auflösen, die Fäden aber werden früher oder später ihren Platz in neuen Werken Julia Steiners finden.

Julia Steiner (*1982) lebt und arbeitet in Basel. Nach dem Kunststudium in Bern und Berlin war sie Artist in Residence in Peking und kehrte mehrmals in die Stadt zurück, Atelierstipendien führten sie ausserdem nach London und Mallorca. Sie realisierte zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen sowie ortsspezifische Arbeiten, beispielsweise in der Abteikirche in Bellelay, der Galerie Urs Meile Beijing-Lucerne, dem Marta Herford Museum, dem Centre Pasquart Biel und dem Kunstmuseum Thun.

Julia Steiner. Konstellationen, Kunst(Zeug)Haus Rapperswil, bis 2. November
www.kunstzeughaus.ch