Seismografin des Weltgeschehens

by Kristin Schmidt

Eva Wipf war ebenso eigenwillig wie hartnäckig. Ihr Werk entwickelte sie angesichts der weltpolitischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und in Auflehnung gegen gesellschaftliche Normen und Konventionen. Das Kunstmuseum Thurgau zeigt eine gross angelegte Retrospektive der oft übersehenen Künstlerin.

Warth — ‹Zu lang im Bett mit Fantasien. Schade um mich…› Eva Wipf notiert diese Sequenz 1962. Ihre Gedankenwelt ist düster und hat viel mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten ihrer Zeit zu tun. Die 1929 geborene Künstlerin wuchs als Tochter eines evangelikalen Missionars auf und in die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges hinein. Sie beschäftigte sich Zeit ihres Lebens mit den Schrecken von Diktaturen, Kriegen und Verfolgung, aber auch mit religiösen Grundsätzen und mit ihrer Rolle als Künstlerin in einer patriarchalisch geprägten Umgebung. Eine Akademie hat Wipf nicht besucht, doch sie war eine regelmässige Ausstellungsgängerin, kannte das Werk von Giacometti, Cornell, Oppenheim, Dubuffet und vielen Anderen. Ihr Oeuvre aber verarbeitet nicht einfach das Gesehene, sondern entsteht aus einem eigenständigen Schöpferdrang.
Das Kunstmuseum Thurgau zeigt in der Karthause Ittingen eine gross angelegte Retrospektive der 1978 verstorbenen Künstlerin. Die Schau folgt ungefähr der Biografie, richtet das Augenmerk aber vor allem auf Themengebiete. So werden einerseits in sich geschlossene Werkkomplexe und andererseits Konstanten in Wipfs Arbeit deutlich. Kontinuierlich arbeitet sie an ihren Assemblagen: Gebrauchte Holzkisten füllt sie mit gefundenen Dingen und Materialien. Von der Matratzenfeder über Schwämme, Zithern, Knochen oder Computerplatinen bis zum Zaunfragment ist alles dicht und sorgfältig angeordnet, mitunter symmetrisch oder in mehren Ebenen. Die Assemblagen muten an wie kleine Schreine und beherbergen Wipfs Ansichten zur Welt. Ein Kasten widmet sich Dr. Mengele, ein anderer Napoleon, einer ist als «Altar für eine Bombe (Zitteraltar)», 1976 bezeichnet, es gibt das «Höllentor», 1973–1975, einen Kasten zu Auschwitz und einige zu christlichen Themen. Ordnung steht in ihnen nicht für Harmonie, sondern viel mehr für Zwänge, Automatismen oder Dogmen. Das malerische Werk Wipfs ist nicht weniger vielfältig. Hier verwirklicht die Künstlerin halluzinatorische Bildprogramme. Mal zeigt sie die Schöpfung kaputt, die Erde verwüstet, dann wieder baut sie kristalline Himmelsstädte oder entwirft Paradiesgärten. Doch auch diese sind keine bukolischen Idyllen, sondern dunkel und menschenleer. Wipfs Bildsprache erinnert an den magischen Realismus, den späten Surrealismus, die Art Brut, den Tachismus, aber ihre Synthese und künstlerische Unbedingtheit ist einzigartig. ks

‹Eva Wipf – Seismograf in Nacht und Licht›, Kunstmuseum Thurgau, bis 19.12.
kunstmuseum.tg.ch