Auftritt: Maria Tackmann, «Passage», 2024

by Kristin Schmidt

Zieht sich über eine Landkarte eine blaue Linie, zeigt sie zumeist ein Fliessgewässer an – einen Bach, einen Fluss, einen Kanal. Stellenweise verläuft das blaue Band geradlinig, meist jedoch schlängelt es sich durch die kartografierte Landschaft. Das ist bei der Goldach nicht anders als beim Rhein oder dem Amazonas. Wie sich der Wasserlauf darstellt, ob feingliedriger oder auf eine einfache Linie reduziert, hängt vom Masstab der Karte ab. Wer digitale Karten verwendet, kann den angezeigten Massstab fast beliebig variieren. Was sich jedoch nicht verändern lässt: Verglichen mit gedrucktem Kartenmaterial ist das Format des Mobilgerätes klein. Es bietet entweder eine wenig detaillierte Überblicksansicht, oder eine Nahansicht ohne grösseren Zusammenhang: Der Bach- oder Flusslauf wird zu einem kurzen blauen Streifen. Maria Tackmann hat die Wirkung der Massstabsveränderungen anhand der Goldach ausprobiert. Zunächst ist sie ihr ein Stück vor Ort gefolgt, ist dem Ufer entlanggegangen, und – wo dies nicht mehr möglich war – im Wasser weitergewatet. Dann hat sie den Wasserlauf auf Satellitenkarten und topografischen Karten studiert. Sie hat den abgebildeten Verlauf der Goldach von der Quelle bis zur Mündung in 2´500 Einzelbilder zerlegt – so viele, wie die Auflagenhöhe des Obacht-Magazins beträgt. Sie hat mit Massstäben und Kartenrastern experimentiert und deren Einfluss auf die Gestalt der Goldach analysiert. Dabei hatte die seit 2021 in Wald lebende Künstlerin stets die zeichnerische Umsetzung dieser Studien im Blick: Welchen Abstraktionsgrad erhalte ich bei welchem Massstab? Wie lassen sich Fliessdynamik und Arbeitsprozess adäquat vereinen? Wie lässt sich die Goldach als Ganzes erfassen und in Teilen darstellen? Die Antwort auf diese Fragen liefert eine blaue, mit Wasserfarben und breitem Pinsel gezogenen Linie. Sie legt sich horizontal über das gefaltete Blatt Papier. Alles ist in dieser Linie enthalten: das Wasser selbst, das Blau der topografischen Markierungen für Fliessgewässer, die Andeutung eines Gewässerausschnittes, die künstlerische Auseinandersetzung mit dem traditionsreichen Medium der Landschaftsmalerei, ihrem typischen Querformat und mit fernöstlichen Tuschezeichnungen. Das Blau ist kräftig und lebendig. Der Pinsel hat feine Linien innerhalb des Striches hinterlassen, an manchen Stellen ist der Farbauftrag dunkler, an anderen scheint das Papier stärker durch oder ist gar keine Farbe auf dem Papier haften geblieben. Jedes Blatt ist ein Unikat, jedes eine Landschaft.

Obacht Kultur, GOLDACH, No. 49 | 2024/2