Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Leere und Fülle

Ein grösserer Kontrast lässt sich innerhalb der Räume der Neuen Kunst Halle kaum denken: hier die grosse Leere, ein Ausstellungsort ohne Ausstellungsgegenstände, kahle Wände – dort dicht gefülltes Raumvolumen, ein Labyrinth aus Stützen, dicht und unzählbar.

Von Dezember bis Januar zeigt die Neue Kunst Halle St. Gallen zwei Ausstellungen zeitlich und räumlich parallel, die jede für sich eigenständige Präsentationen sind. Und wie um dies zu untermauern, bilden sie ein eindrucksvolles Gegensatzpaar. Dies gilt nicht für den Raumeindruck, sondern auch für die kuratorische Ausgangssituation: Einerseits ist die Baslerin Sonja Feldmeier in einer Einzelausstellung zu sehen, andererseits lädt der eingeladene Londoner Gastkurator Mathieu Copland selbst Künstler ein.

Das Besondere ist bei letzterer Situation, dass diese Künstler nicht gleichzeitig ausstellen, wie sonst bei Gruppenausstellungen üblich. Eigentlich stellen sie sogar überhaupt nicht aus, zumindest nicht, wenn man von herkömmlichen Kunstkategorien ausgeht und Objekte oder Bilder erwartet. Statt dessen sind Bewegungsperformances zu sehen: Für die gesamte Dauer der Ausstellung werden drei Mitglieder der Tanzkompanie des Theaters St. Gallen jeweils von Mittwoch bis Sonntag für vier Stunden in der Neuen Kunst Halle agieren. Sie führen Sequenzen aus, die von den Künstlern der Ausstellung erarbeitet wurden. Über sechs Wochen hin fügt sich Stück an Stück bis am Ende eine Gesamtkomposition entstanden ist. Wohl kaum einer wird dann jedes einzelne Werk gesehen haben, und doch ist auch jede einzelne Position für sich sehenswert. Da ist zum Beispiel Roman Ondaks Beitrag «Insiders», der sprichwörtlich das Innere nach Aussen kehrt und die Darsteller ihre Kleider verkehrt herum tragen lässt, während sie die Betrachter völlig zu ignorieren scheinen. Karl Holmquist hingegen lässt in der «Polyphonie von Stimmen» die Mitwirkenden Liedtexte lesen und dazu Putzgebärden vollführen, während Michael Parsons mit seinem bereits 1968 entwickelten Stück «Walking Piece» optische Musik erzeugen wird.

Indem Copland diesen Performanceklassiker integriert, zeigt er, dass die Idee, im Kontext der Kunst auf dauerhafte, materiell existente Werke, ja sogar auf jegliche Requisiten und sogar Musik zu verzichten, durchaus nicht neu ist. Tino Seghal erregt seit wenigen Jahren viel Aufsehen mit seinen Stücken, nicht zuletzt aufgrund seiner Verweigerung jeglicher Dokumentation in Wort und Bild. Der Kunstbetrachter kann Seghals Stücke nur live vor Ort oder gar nicht erleben, und es bleiben keinerlei Artefakte übrig, weil von vornherein nichts ausser der Präsenz der Ausführenden zum Einsatz kommt. Doch auch dieser radikale Ansatz hat Vorläufer. Genauso auch die Idee, die Grenzen zwischen Bildender und Darstellender Kunst zu sprengen. Merce Cunningham etwa arbeitete sehr eng mit Künstlern zusammen.

In der Neuen Kunst Halle sind ebenfalls Tänzer und Choreografen mit von der Partie, so etwa Philipp Egli, der Leiter der Tanzkompanie des St. Galler Theaters oder der New Yorker Choreograf Jonah Broker, der Computer und Tanz zusammenbringt. Coplands «choreografierte Ausstellung» zeigt Grenzüberschreitungen also auch innerhalb der einzelnen Gattungen.

Dies gilt – bei allen formalen Gegensätzen – auch für die Werke der Baslerin Sonja Feldmeier. Hat der Ausstellungsbesucher den grossen Raum der Neuen Kunst Halle und damit die von den Tanzenden gefüllte Leere passiert, erwartet ihn in den beiden folgenden Räumen eine dichte Mischung von Ton, Bild, Installation und Objekt. Doch zunächst sind da die alles beherrschenden Baustützen. Verrostet und verschmutzt, mal enger und mal weiter zusammenstehend ragen sie vom Boden bis zur Decke auf. Schon in diesem Bild verbirgt sich eine gewisse Ambivalenz, denn solche Stützen werden sowohl eingesetzt um neue Architektur zu bauen, als auch um marode, alte Konstruktionen zu stützen. Auf- oder Abbruch ist hier die Frage. Aber genauso lautet sie: Innen oder Aussen? Geborgenheit oder Enge? Tristesse oder Romantik? Einatmen oder Ausatmen? Die Künstlerin nennt ihre Ausstellung «Inhale Exhale» und zeigt bereits darin, dass das eine das andere nicht ausschliesst, sondern bedingt. Sie knüpft ein vieldeutiges Netz aus Zeichen, Bildern und Anspielungen. Die Stützen werden spätestens dann zum Wald, wenn sich eine Lichtung auftut oder echte Baumstümpfe ins Blickfeld kommen. Doch auch diese sind nicht nur das, was sie zu sein scheinen, denn aus ihnen ertönen Radiogeräusche. Zwischen dem Sendersuchlauf tönt immer wieder das von Laien intonierte «I did it my way» heraus.

Feldmeier untersucht Kommunikationswege und -prinzipien und richtet das Augenmerk gleichzeitig auf die Personen hinter der Stimme, der Musik oder dem Schleier. Ob sie Personen nur hören lässt, Hände beim SMS tippen zeigt oder eine verschleierte Frau mit einem Schlagzeug spielen lässt, immer bietet Feldmeier durch Auslassungen den Akteuren genügend Raum und somit auch den Betrachtern ausreichende Projektionsflächen. Sie sollen und dürfen ihre Wahrnehmungsmuster und Rollenklischees überprüfen oder noch besser ablegen und wieder neu hinsehen.

Die ersten drei

Christian Röllin blickt mit seiner aktuellen Galerieausstellung auf die ersten Jahre seiner Arbeit zurück. Er hat sich mit seinem Schaffen international positioniert.

Drei Jahre sind vergangen, drei Jahre mit sechzehn Ausstellungen und zahlreichen künstlerischen Begegnungen. Christian Röllin zieht mit der jüngsten Ausstellung «Collection – Selection» eine Zwischenbilanz seiner Galerie. 2004 gegründet, gehört sie noch immer zu den jüngsten in der schweizerischen Kunstlandschaft. Doch wenn auf der Einladungskarte steht, die Galerie habe sich als wichtiges Element im kulturellen Leben der Region etabliert, so klingt daraus Stolz, der durchaus berechtigt ist. Die Galerie ist im Lagerhaus zu einer festen Grösse geworden, und die Ausstellungen haben ein ums andere Mal den Qualitätsanspruch Röllins bewiesen. Dies gilt auch für die aktuelle Präsentation. Sie ist Rückblick und Bestandsaufnahme zugleich.

Röllin zeigt Werke von Künstlern, die für die Galerie zu festen Grössen geworden sind: Ingmar Alge, Thomas Florschuetz, Ilkka Halso, Herbert Hamak, Ulla Jokisalo, Jos van Merendonk, Marco Poloni, Hildegard Spielhofer und Elisabeth Vary. Es ist das erste Mal, dass diese neun gemeinsam zu sehen sind – auch für Röllin eine besondere Situation, denn jedes Werk spricht für sich und interagiert doch mit den anderen. Mal ist es nur ein Farbton, der hie wie dort auftaucht, mal ist es aber auch Inhaltliches, wie etwa ein verwandter Blick auf den zeitgenössischen Menschen in seiner Isolation, mal sind es die Reflexionen zum Medium Malerei.

Röllin hat sehr unterschiedliche Positionen in seinem Programm, die dennoch einen gemeinsamen Kern aufweisen. Ob Malerei, Fotografie, Zeichnung, Objekt oder Video – die Künstlerinnen und Künstler arbeiten nicht dokumentarisch, auch das Erzählerische bleibt im Hintergrund, viel wichtiger ist das Vertrauen ins Bild, auf die Kraft der Farbe oder die Komposition. Bei Thomas Florschuetz‘ Orchideen- oder Fensterbildern beispielsweise ist das Sujet nicht um seiner selbst willen abgelichtet, sondern wird auf seine bildnerische Eignung hin untersucht. Auch Hildegard Spielhofers Werke beruhen zwar auf ganz konkreten Vorlagen wie einem Schiffswrack, lösen sich aber davon und funktionieren als unabhängige Bildstudien, das gilt sogar für ihre Videoarbeiten, die der Redewendung von bewegten Bildern in ursprünglichem Sinne gerecht werden.

Allen Künstlern gemeinsam ist ihre Internationalität, ihr Werk strahlt über die Grenzen des Herkunftslandes aus, sei es Deutschland, Finnland, Österreich, Holland oder die Schweiz. Dies ist dem Galeristen besonders wichtig. Erst durch die internationale Anbindung und Positionierung erreicht die Galerie auch einen Mehrwert für St. Gallen. Und die Künstler kommen gern hierher, das liegt nicht zuletzt auch an den besonderen örtlichen Gegebenheiten. Immer wieder sind sie angetan von der Klarheit und Grosszügigkeit der Räume im Lagerhaus. Doch Röllin zieht es auch an andere Orte: Er nahm an verschiedenen Messen in Berlin, Basel und sogar auf hoher See teil: Die Europa.art ist eine Messe an Bord des Kreuzfahrtschiffes, die im Gegensatz zum üblichen Messestress und -getümmel die Chance bieten möchte, Kunst gezielter und tiefgehender zu vermitteln. Röllin begreift sich in diesem Sinne als Kulturarbeiter. Ein anderer Beleg dafür ist seine Zusammenarbeit mit der HSG, denn für den Galeristen gehört das Kulturverständnis auch für angehende Ökonomen zum guten Ton, und zwar immer im Hinblick auf ein klares Bekenntnis zur Zeitgenossenschaft. Bleibt zu wünschen, dass dieses Engagement Früchte trägt und dass ausserdem irgendwann ein rundes Galeriejubiläum gefeiert werden kann.

Kiffen oder Kirschen

Das Theater St.Gallen zeigt das Kifferstück „Die Plantage“ auf der grossen Bühne. Eine Wagnis, könnte man meinen. Doch das Werk des jungen Deutschen David Gieselmann zeigt ungeahnte Parallelen zu klassischen Dramen.

Zum Schluss wird gekocht

«Durchzug», dasTanzstück von Nunzio Verdinero und Matthias Flückiger, widmet sich dem Warten und den Wartenden. Die Lokremise ist der geeignete Ort für die Untersuchung dieses besonderen Zustandes.

Wenn von Tanztheater die Rede ist, denken die wenigsten an Sprache, steht doch meist die körperliche Bewegung im Vordergrund. Dass Sprechtheater und Tanz aber kein Widerspruch sind, ja, dass es sogar überaus befruchtend sein kann, der Sprache ausreichend Raum zu geben, zeigt die jüngste Tanzproduktion des Theaters St. Gallen: «Durchzug».

Nunzio Verdinero, seit der Spielzeit 2004/05 festes Ensemblemitglied, begibt sich mit seiner ersten Choreographie für St. Gallen auf die Suche nach dem Wesen des Wartens. Was passiert mit uns, wenn wir warten? Ist es entscheidend, worauf wir warten? Wie wirkt die Umgebung auf die Wartenden? Wie interagieren Wartende untereinander?

Am ausverkauften Premiereabend am Freitag in der Lokremise wird gleich zu Beginn auch von den Zuschauenden Geduld verlangt, in passender Umgebung: Das Eisenbahndepot ist in ein Flughafenterminal verwandelt. Die typischen Sitzreihen sind unter dem gleissendem Licht von Leuchtstoffröhren rings um eine rechteckige Fläche gruppiert, die ebenfalls mit einigen der von Abflug-Gates bekannten Sitzelemente bestückt ist.

Das Publikum muss einige Minuten der Stille aushalten, bevor Magali del Hoyo, Son-Jin Lee, Marie Schmieder und Davide Bellotta langsam zum Leben erwachen. Die Sinne werden entdeckt, noch unsicher wird der Gebrauch der Gliedmassen erforscht, werden sich die Akteure sich selbst bewusst. Sie bewegen sich, sie robben, sie kriechen und erheben sich. Doch folgt nicht etwa das Laufen, sondern das Sitzen – willkommen in der Welt des Wartens.

Die nächste Sequenz ist dem Spracherwerb gewidmet. Vom Grüezi bis zur Cumulus-Karte wird ausprobiert, was der Wortschatz hergibt, bis wieder das Warten die Oberhand gewinnt. Die vier Darsteller tun es ungeduldig oder gleichgültig, ergeben oder gespannt, amüsiert oder schläfrig. Sobald aber der fünfte, Marcelo Pereira, auftritt, kommt erneut Bewegung ins Spiel. Jetzt dient Sprache als Richtungweiser und damit gleichzeitig als Instrument der Irreführung, was schliesslich wieder mit Stillstand endet. Sprache macht blind, liesse sich abgewandelt sagen.

Eine schöne Bühnenbild-Idee und passendes Sinnbild für die fehlende Orientierung und die endlosen Kreisläufe sind die zunächst herumliegenden, später aufgerichteten Absperrpfosten. Selbst wenn sie durch Stoffbänder miteinander verbunden sind, sorgen sie für zielloses Stolpern.

Die fliessende tänzerische Bewegung nimmt in «Durchzug» nur wenig Raum ein, doch als gezielt eingesetztes Zwischenspiel bringt sie poetische Stimmung ins sonst zuweilen profane Treiben. Gelungen ist ausserdem, wie Verdinero die Multinationalität der Akteure ins Stück einbezieht, ob über die Sprache, das Temperament oder die erzählte Geschichte. Und schliesslich spielt auch der Ort der Aufführung, die Lokremise, ihre Rolle vorzüglich mit Zug- und Bahnhofgeräuschen sowie der gesamten Atmosphäre des Gebäudes und seiner Umgebung.

Denn spätestens zum Schluss des Stückes bekommt auch die Lagerstrasse ihren grossen Auftritt: Das Geschehen verlagert sich nun in eine Küchensituation, statt von Leuchtstoffröhren von einer Glühlampe erhellt. In die Lokremise lässt sich also auch eine heimelige Atmosphäre zaubern, die das durch die kleinen Fensterscheiben von der Strasse eindringende gelbliche Licht noch verstärkt. Das Tanzstück verlagert sich in den Raum hinter den Zuschauern, ausserhalb deren Blickfeldes, und das ist konsequent, denn: Die Wartenden sind bei sich selbst angekommen.

Wo rosa Kräfte sich entfalten

Marianne Rinderknecht zeigt sich in Katharinen mit einer eigens für den Ausstellungsraum im ehemaligen Frauenkloster entworfenen Installation von einer neuen Seite.

Marianne Rinderknecht ist inzwischen bekannt für ihre Wandarbeiten mit biomorphen Strukturen – Werke, auf denen es rankt und wuchert, wächst und verkrautet; die perfekt durchgearbeitet sind mit scharfkantigen Konturen und in leuchtenden, zuweilen grellen Farben. Wer mit diesen Bildern im Kopf in die aktuelle Ausstellung in Katharinen geht, wird eine Überraschung erleben.

Die St. Galler Künstlerin hat ihre Arbeit weiterentwickelt und um einige Facetten bereichert. Der augenfälligste Schritt ist jener in den Raum hinein. Rinderknecht löst ihre Arbeit von der Wand und plaziert sie freistehend im Ausstellungsraum wie einen Paravent. Oder ist es eine Wolke? Eine Welle? Ein Gebirgsmassiv?

Die sonderbare Silhouette erinnert an vieles und doch an nichts Konkretes. Wer sie von links her betrachtet, könnte sich zunächst an den Sonnenuntergang im winterlichen Hochgebirge erinnert fühlen. Dazu tragen sowohl die Farbigkeit als auch die ausgefeilte Lichtregie bei. Bei Ersterer ist Marianne Rinderknecht ganz beim Bewährten geblieben. Die gesamte Installation ist in monotonem Rosa gehalten. Diese Farbe nimmt seit längerem eine wichtige Position in den Werken der Künstlerin ein, ist Rosa doch von grosser Ambivalenz: Es kann zart wirken und unschuldig, giftig und künstlich, edel oder süsslich mit einem unverkennbaren kitschigen Beigeschmack.

Immer jedoch tauchte Rosa bisher in Kombination mit anderen Farben auf. Nun aber ist es die alleinige Farbe geworden und vereint dennoch wieder all diese vielfältigen Eigenschaften in sich. Hat nicht auch ein winterlicher Sonnenuntergang gleichzeitig etwas unheimlich Anziehendes und ist doch fast zu schön, um nicht gleichzeitig den Kitschverdacht zu wecken, spätestens, wenn er auf Fotopapier gebannt ist.

Der linke Teil der leicht geschwungenen Wand in Katharinen ist von der Rückseite her beleuchtet, so dass er sich scharf und dunkel gegen den hellen Hintergrund abzeichnet. Je weiter der Betrachter seinen Blick in Leserichtung schweifen lässt, desto mehr nimmt die Wirkung dieses Lichtes ab und desto stärker wirken die vorderseitigen Strahler, die das Rosa leuchten lassen, während sich der Hintergrund verschattet. Zugleich beginnen sich die Formen wild aufzutürmen, wabern wie giftige Dämpfe himmelwärts. Das Ganze wird zunehmend unheimlicher. Dann ist da plötzlich auch noch diese Stimme. Ein kaum hörbares «He, pssst».

Mit ihrer neuen Arbeit reizt Marianne Rinderknecht in besonderem Masse die Betrachtersinne, zieht sie in ihren Bann, um sie so schnell nicht wieder loszulassen. Und das, obwohl sie auf die gewohnte perfekte Oberflächendurchgestaltung verzichtet. Die Installation ist aus Wellpappestücken zusammengeklammert und -geklebt. Die Ränder des Materials fransen aus, Knicke und Risse sind zwar vom Rosa einheitlich überdeckt, aber noch immer zu sehen. Das verleiht der Arbeit Leben und Dynamik, und einen wohltuenden Schuss Chaos.

Damit steht die rosafarbene Wand in bewusstem Kontrast zu dem Tafelbild an der Stirnwand des Ausstellungssaales. Hier zeigt Marianne Rinderknecht, was ihre andere Stärke ist: Eine am Computer entworfene und malerisch auf die Leinwand übertragene vegetabile Alloverstruktur verschlingt und verzweigt sich. Voluten, Arabesken und Farbfelder verschränken sich in der Fläche und erzeugen so einen tiefen Sog ins Bild.

Es gibt kein Anfang und kein Ende, kein Bildzentrum. Besonders augenfällig ist die Konkurrenz zwischen dem exakten Rechteck des Tafelbildes und den ausgreifenden Schwüngen der Bildelemente, die sich unsichtbar über den Bildrand fortzusetzen scheinen und die Dynamik der freistehenden rosa Wand wieder aufnehmen. Oder ist es doch eine Wolke?

Springen und Kriechen

Die St. Galler Künstlerin Alexandra Maurer zeigt in der Galerie Paul Hafner in ihrer ersten Einzelausstellung «escape to jump» aktuelle Werke. Sie verknüpfen Film und Malerei.

Springen heisst fliegen, schweben und fallen. Es gibt den wunderbaren Moment des Abhebens, dann den höchsten Punkt, manchmal mit Aussicht, bis es schliesslich wieder abwärtsgeht. Springen ist eine intensive, den ganzen Körper erfassende Bewegung. Oft haftet ihr etwas Zufälliges, etwas Unvorhersehbares an. Wenn Kinder springen, besonders auf einem Trampolin, wirken ihre Bewegungen zur Sorge der Mütter nicht selten wild und unkontrolliert. Diese Impulsivität, diese intensiven Momente reizen Alexandra Maurer.

Für ihr Video «Jump» schickt die St. Galler Künstlerin aber nicht Kinder, sondern eine junge Frau aufs Trampolin. Auch die Erwachsene gibt sich völlig der Bewegung hin. Sie springt hoch hinaus, mal verschwindet sie ganz aus dem Auge der Kamera, mal ist nur der wehende Rock zu sehen, dann wieder das Gesicht in Nahaufnahme.

Diese Dynamik wird unterstützt durch wechselnde Bildmedien, denn auf dem Flachbildschirm läuft nicht einfach ein Videofilm: Alexandra Maurer filmt ihre Akteure zwar zunächst, dann aber durchläuft die Aufnahme mehrere Bearbeitungsstufen. Der Film wird in einzelne Stills aufgesplittet, diese wiederum werden ausgedruckt, mehr oder weniger stark übermalt oder zum Teil ganz mit Farbe und Pinsel auf weisses Papier übertragen. Nach dem Bearbeitungsprozess werden die Einzelbilder wieder zu einer Sequenz zusammengeführt. Nun mischen sich Filmstills, übermalte Standbilder und pure Malerei.

Alexandra Maurer gelingt die Synthese zweier Medien. Das immer wieder postulierte Niederreissen der Gattungsgrenzen – hier wird es Realität. Das gilt nicht nur für «Jump», wo das Video Anfangs- und Endstufe der Arbeit darstellt, die Malerei ein Zwischenschritt ist, sondern auch für «Escape».

In der Galerie Paul Hafner überziehen die Blätter dieses Werkes zwei ganze Wände. Auch hier war der Anfangspunkt die Arbeit mit einer Schauspielerin. Sie war angehalten, charakteristische Bewegungen des Fliehens auf dem Boden zu zeigen. Sie kroch, als müsste sie jemandem oder etwas heimlich und schnell entkommen, und Maurer filmte sie dabei. Wieder wurde das Video anschliessend in Einzelbilder zerteilt. Diese Stills sind nun aber vollständig in Malerei übersetzt.

Nahtlos hängt Bild an Bild in fünf Reihen übereinander. Dabei entstehen einzelne Handlungsabläufe. Zu Beginn jeder Reihe ist der Körper in starker Verkürzung nahezu vollständig zu sehen, das letzte Bild zeigt jeweils den Kopf in Grossaufnahme. Ein wichtiger Aspekt der Arbeiten ist, dass Maurer nicht etwa auf fotorealistische Art die Vorlagen kopiert, sondern sich alle Freiheiten lässt. Zuerst fällt der Komplementärkontrast ins Auge – von rotem Kleid zu grünem Haar. Die Farbe wurde sehr nass aufgetragen, sie zerfliesst, läuft in roten Tropfen über das Blatt, nicht selten an Blutspuren erinnernd.

Überhaupt haben die Bilder etwas Beklemmendes. Die direkten Blicke, die Nähe, die expressiven Bewegungen strahlen hohe emotionale Intensität aus. Auch die Menge der Bilder, der zwar variierende, aber ständig sich wiederholende Ablauf von der anfänglichen Gesamtaufnahme, wo die Figur vom Weiss des Blattes umgeben ist, bis hin zu dem Kopfdetail, wenn die Farbflächen dominanter sind als die gegenständliche Darstellung, wirkt eindringlich.

Alexandra Mauer gibt keiner der beiden verwendeten Techniken den Vorzug, ganz gleich, ob die Malerei dabei direkt in einen Film zurückübersetzt wird oder sich die bemalten Blätter allein durch die Anordnung zu einem filmischen Ablauf fügen. Malerei und Film stehen gleichberechtigt nebeneinander, sind ineinander verwoben, und der Betrachter kann selbst erspüren, welches Medium ihn unmittelbarer anspricht.

Kunst trifft Mode

Die Bekleidungsgestalter und -gestalterinnen der GBSSt. Gallen zeigen im Textilmuseum ihre Arbeiten. Sie entstanden mit Blick auf die Kunst von Didier Rittener.

Vor knapp zwei Jahren präsentierte Gianni Jetzer in der Kunsthalle St. Gallen eine Einzelausstellung mit Werken Didier Ritteners. Der Lausanner Künstler geht in seinen Installationen, Zeichnungen und Skulpturen von Bildern aus Modezeitschriften, Werbeprospekten, Filmen, Musterbüchern oder Tageszeitungen aus. Er zitiert, kombiniert, verfremdet, er überarbeitet. Genau dies haben wiederum die Lehrlinge des Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrums (GBS) St. Gallen nun mit Ritteners Werken getan.

Die Idee dazu entstand vor zwei Jahren gemeinsam mit Jetzer, und die Ergebnisse sind derzeit unter dem Titel «Fashion, Art and Ornament» im Textilmuseum zu sehen. Zum ersten Mal in der Tradition der St. Galler Lehrlingsmodenschau stellen die Bekleidungsgestalter und -gestalterinnen ihre Arbeiten unter ein gemeinsames Motto. Doch dies heisst nicht, dass den Betrachter der sorgfältig inszenierten Ausstellung Uniformität erwartet. Im Gegenteil.

Die Lehrlinge haben ihren individuellen Assoziationen zu Rittener freien Lauf gelassen. Der damalige Titel der Ausstellung in der Kunsthalle «Trust Your Instinct» könnte also auch über der jetzigen Präsentation im Textilmuseum stehen. Bereits bei der Auswahl der Vorlagen zeigt sich ein breites Spektrum. Ritteners Arbeiten auf Papier werden ebenso gern herangezogen wie seine dreidimensionalen Werke.

Doch zunächst lohnt es sich, den Blick ganz ungeachtet der Motivquelle auf die ausgestellten Modelle zu richten. Die Lehrlinge verarbeiten ungewohnte Materialien und finden eine reizvolle neue Formensprache. Ins Auge fällt etwa eine Jacke, auf deren Front das Röntgenbild eines Brustkorbes appliziert ist. Oder ein Korsett aus einem dem weiblichen Körper abgeformten Gipsvorderteil, welches hinten verschnürt ist. Dazu ein ausgestellter Rock mit Bahnen ausgestanzter Kreise. Ein Blickfang ist auch der Rock mit goldenem Ziegelstein-Muster, in dessen Falten sich eine Aufnahme des menschlichen Körpers verbirgt. Es lässt sich kaum erkennen, welcher Teil des Körpers da fragmentarisch Einblicke freigibt, aber gerade darin liegt der Reiz.

Die Modelle sind präsentiert vor grossen Papierbahnen, die tapetengleich von der Decke bis zum Boden reichen und mit Motiven Ritteners schwarz-weiss bedruckt sind. Auf dem zweiten Treppenabsatz des Museums sind dies zu Dreiergruppen geordnete Ovale, die durch Farbintensität, Überschneidungen und Drehungen den Eindruck räumlicher Tiefe vermitteln. Dies hat einen Lehrling inspiriert zu einem kleinen Schwarzen mit ovalen Metallplatten, das gewiss der Hingucker bei jedem festlichen Anlass ist.

Ein Stockwerk weiter oben dominieren die Kleidungsstücke mit Street Credibility. Vor Papierbahnen mit dichter tachistischer Struktur reihen sie sich in knalligen Farben und mit besonderen Details wie etwa doppelten, aussermittig gesetzten Frontreissverschlüssen oder grossen Aufdrucken und Aufnähern. Nochmals ein Stockwerk höher ist das beherrschende Motiv Ritteners eine an Lyonel Feininger gemahnende kristalline Struktur; hier finden sich erneut Kreationen für die ausgefallene Abendgarderobe.

Danach sollten Besucher unbedingt noch ein halbes Stockwerk höher steigen, denn dort ist vollständig zu sehen, was zuvor nur in Ausschnitten gezeigt werden konnte. Ein Video zeigt – mit Zwischenblenden auf Didier Ritteners Werke – die Lehrlingsmodenschau sämtlicher, auch nicht ausgestellter Modelle und damit deren gesamte gestalterische Fülle.

Die Ausstellung schliesst den Kreis von Ornament und Mode zu Rittener und wieder zurück zu Ornament und Mode. Es wäre schön, wenn diese angewandte Auseinandersetzung der Lehrlinge mit zeitgenössischer Kunst keine Ausnahme bliebe.

Alpleben im Stadtpark

Am Samstagmittag ist es ruhig im Stadtpark. Nieselregen. Sanft wehen bebilderte Laken im Wind. Ein reichliches Dutzend kunterbunter Campingstühle steht verwaist vor dem Frauenpavillon. Dazu verführen Klänge von Akkordeon und Geige zu melancholischen Tagträumereien. Musik und Requisiten sind die Vorboten von «ALPtrachten», der aktuellen Tanzaktion von Gisa Frank. Bald belebt sich die Szenerie im Park, und selbst der Regen hört auf, als sich Frank und weitere 14 Tänzerinnen und ein Knabe auf den Campingstühlen versammeln. Doch das Sitzen währt nur kurz, bald werden die Stühle zusammengeklappt und die Tanzperformance weitet sich aus hinaus auf den Rasen. Allein schon das Spiel der bunten Kleidung der Beteiligten vor dem sattgrünen Gras ist eine Freude für die Zuschauer, und noch mehr sind es die Aktionen. Mal sind sie sparsam gesetzt, mal greifen sie in den Raum hinaus. So werden etwa die Hände zum Fernglas geformt und gewunken und sofort entstehen nicht nur spannende Sichtachsen, sondern der Stadtpark scheint sich zum Aussichtsberg zu verwandeln. Die Choreographin und Tanzpädagogin Frank hat sich mit ihrer tänzerischen Arbeit bereits seit einiger Zeit von der Enge und den Beschränkungen des umbauten Bühnenraumes befreit. Landschaft und Natur sind ihr nicht einfach Kulisse. Sie verändern die gesamte Arbeit und beeinflussen obendrein die Zuschauersituation. Die Betrachter sind nicht mehr das passive Gegenüber. Sie können sich bewegen, die Perspektive nach Belieben wechseln, in «ALPtrachten» werden sie sogar eigens dazu aufgefordert. Eine Akteurin ist mit einem Schiedsrichterhochstuhl ausgestattet und übernimmt es, das noch zögernde Publikum zur Ortsveränderung zu ermutigen. Gleichzeitig stösst sie mit sparsam gesetzten Worten die Gedanken an, so zum «Trachten» oder der «Alp». Ob nun Städter bei letzterer tatsächlich zuerst an Unwirtlichkeit und ewigen Schnee auf den Gipfeln denken, mag dahingestellt bleiben, aber «ALPtrachten» gelingt es vielfältige Bilder zu evozieren. Eine wichtige Rolle dabei spielt auch die Musik. Christian Fitze (Hackbrett), Werner Meyer (Violine), Flurin Rade (Akkordeon), Jürg Surber (Kontrabass) und Martin Benz (Bassklarinette) bewegen sich spielend zwischen Appenzeller Klängen und Caféhausmusik. Tanz und Ton reagieren aufeinander, das Ergebnis ist eine an Rhythmuswechseln reiche und die Zuschauer im wörtlichen Sinne bewegende Vorstellung.

Ein- und Ausatmen

Das Künstlerpaar René Schmalz und Michaela Stuhlmann zeigt in Katharinen neue Objekte aus Kunststoff und Luft. Zwei Performances begleiten die Ausstellung «Raumhäute».

«Die Luft steht im Raum, vielleicht hängt sie auch» – und nicht nur die Luft. Der Satz aus der Performance von Schmalz/Stuhlmann könnte gut auch für die Objekte der beiden Künstler gelten. Hängen sie oder stehen sie? Schweben sie gar oder bewegen sich? Nur eines ist sicher: Es ist alles eine Frage des Blickwinkels und des Zeitpunktes. Denn die Arbeiten aus Plastikfolie verändern sich.

Die organisch anmutenden Formen füllen sich mit Luft, werden prall und dick, um kurz darauf wieder in sich zusammenzusinken. Sie richten sich auf und sacken wieder zusammen – ihre Haut ist schlaff und faltig im einen Moment, glatt und gespannt im anderen. Sie wirken beinahe lebendig, so, als holten sie Atem oder als werde ihnen dieser eingehaucht. Und ein bisschen ist es auch so, nur dass statt des göttlichen Luftstromes hier elektronisch gesteuerte Haartrockner wirken. Sie blasen eine gewisse Zeit lang Luft in die Foliensäcke und setzen dann aus – die Luft entweicht durch die Nähte der Objekte – sie erschlaffen. Kurze Zeit darauf setzt der Vorgang erneut ein.

René Schmalz und Michaela Stuhlmann haben mit diesen beweglichen Körpern ein subtiles, vielschichtiges Werk entwickelt. Es bewegt sich zwischen Spannung und Entspannung ebenso selbstverständlich, wie es die Pole Leben und Technik miteinander vereint, und definiert Raum auf neue, sehenswerte Weise. Der Raum wird nur dann als solcher wahrgenommen, wenn seine Grenzen definiert sind. Die Plastikfolie ist zwar Begrenzung, aber transparent und nicht auf eine bestimmte Form festgelegt. Immer spielt in den Arbeiten der beiden Künstler auch der Umraum – in diesem Falle der Kreuzgang von Katharinen – eine Rolle. Er ist der äussere Rahmen, dringt visuell in die Skulpturen ein, begrenzt sie oder lässt ihnen Platz und wird Teil der Gesamtinszenierung.

Es ist kein Zufall, dass Schmalz/Stuhlmann bei ihrer aktuellen Ausstellung auf eine Präsentation im eigentlichen Ausstellungsraum von Katharinen verzichten. Stattdessen bespielen sie den Kreuzgang und den Innenhof des ehemaligen Frauenklosters. Der Betrachter ist zu einem richtigen Rundgang eingeladen, einem Kreislauf, der jenem der Werke entspricht: Der immerwährende Wechsel zwischen Atemholen und Luftlassen der einzelnen Objekte, begleitet vom ständigen Klang der Föhngeräte, lässt sich in seiner Gesamtheit und der durchdachten Choreographie erst durch das wiederholte Abschreiten richtig erleben.

Das Handeln ist ein zentrales Element in der Arbeit von René Schmalz und Michaela Stuhlmann. So entstehen nicht nur die Plastikkörper für jede Ausstellung neu, sondern gleichzeitig nehmen Performances und Aktionen einen wichtigen Raum ein. Zur Vernissage der Präsentation in Katharinen vergangenen Freitag führten Schmalz/Stuhlmann «Zuckerspur» vor, während zwei Tage vor Ende der Ausstellung «Klangrausch» zu sehen und zu hören sein wird.

«Zuckerspur» funktionierte als sinnliche Auseinandersetzung mit sehen, hören, fühlen, schmecken. Beide Künstler sassen einander gegenüber, vor sich zwei Kassettenrekorder auf dem Tisch, aus denen Reflexionen zum Thema Flüssigkeiten und Sprichwörter zu Wärme und Feuer erklangen. Langsam liessen die zwei je fünf Kilogramm Zucker über die Geräte rieseln, bis kaum noch etwas zu hören, aber zwei Zuckerberge entstanden waren, die als Abdruckform für das Antlitz dienten. Das Ergebnis waren zwei verdoppelte, weisskörnige Selbstporträts: als Negativform auf dem Tisch und als Positivform in den Gesichtern.

Das macht neugierig auf «Klangrausch» am 10. August, eine Performance, die von den Künstlern als Stimm-, Klang- und Aktionsreise ins Unbekannte angekündigt wird. Wasser, Gläser, Schwirrbögen, Schläuche und eine Rauminstallation werden dann eine schaurig schöne Stimmakrobatik begleiten.

Spiegel mit Erinnerung

Fotokünstler Mark Kessell in der Maschinenfabrik Rapperswil