Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Landschaft, die zweite

Bereits zum zweiten Male widmet Paul Hafner eine Ausstellung der Landschaft. In seiner Galerie sind Werke von Tobias Pils, Peter Stoffel und Rik Beemsterboer zu sehen.

Ein Weg führt durch eine Wiese auf Bäume zu. Darüber spannt sich der Himmel: Eine Szenerie, die wohl jeder so oder ähnlich schon vor Augen hatte. Nichts ist besonders an diesem Landschaftsausschnitt, nichts deutet auf eine bestimmte Gegend, ein bestimmtes Land hin. Rik Beemsterboer sucht für seine Gemälde nicht das Unverwechselbare oder Aufsehen erregende, sondern das, was eine Landschaft zur Projektionsfläche für Erinnerungen, Stimmungen und Gedanken macht. Je allgemeingültiger die Szenerie, desto wahrscheinlicher ruft sie die individuellen Erlebnisse der jeweiligen Betrachter wach. Gleichzeitig untersucht der in den Niederlanden geborene und seit sieben Jahren in St. Gallen lebende Beemsterboer, wie sich unsere Art, Landschaft zu betrachten, verändert hat.

Zwar liegt durch die Abwesenheit von Menschen eine grosse Stille über Feld, Wald oder Wiese, doch die zeitgenössische Dynamik ist mit eingebunden, denn die gesamte Darstellung ist leicht verwischt. So suggeriert sie eine Bewegungsunschärfe, als nehme man sie aus dem Fenster eines Autos oder Zuges wahr. Trotz dieser Spannung kommen Beemsterboers Bilder in der aktuellen Ausstellung in der Galerie Paul Hafner der traditionellen Vorstellung von Landschaftsmalerei am nächsten.

Schon zum zweiten Mal zeigt Paul Hafner drei sehr unterschiedliche Positionen zum Thema Landschaft. Neben Beemsterboers Gemälden sind Werke von Tobias Pils und Peter Stoffel zu sehen. Der 1972 in Herisau geborene Stoffel hat eigens für die Ausstellung Werke zu einer Installation verbunden. Kleine Gemälde und eine grossformatige Zeichnung werden von einer Wandmalerei in Schwarz-Weiss umschlossen, die gleichzeitig den Bezug zu einer Rauminstallation herstellt. Stoffel konstruiert Räume, ganz gleich, ob er sich in der Zwei- oder Dreidimensionalität ausdrückt. Die Gemälde mit ihrem monochromen Hintergrund evozieren etwa durch die kaum wahrnehmbare Andeutung einer Horizontlinie oder die Anordnung und Grösse verschiedener Farbflecken und -punkte die Tiefe von Landschaftsbildern.

In der Zeichnung wird Landschaft nicht nur mittels ungegenständlicher Struktur angedeutet, sondern durch zwei in der Bildmitte platzierte Bäume zum eigentlichen Thema. Ihre Tiefenwirkung entfaltet sie durch die Setzung und Verdichtung der Linien. Sie ballen sich zu schwarzen Feldern zusammen oder verlieren sich im Weiss.

Diese Linien sind es auch, die Wandmalerei, Zeichnung und Rauminstallation miteinander verbinden. Wie Energieströme fliessen sie aufeinander zu, entfernen sich voneinander, stören sich gegenseitig, lösen sich auf, geben Richtungen vor und lenken die Blicke.

Der dritte Künstler der aktuellen Ausstellung ist derjenige, dessen Werk am weitesten von dem entfernt ist, was Landschaft im herkömmlichen Sinne bedeutet. Der Österreicher Tobias Pils widmet sich seit einigen Jahren der Konstruktion von Räumen mittels Linien und Flächen. Anfangs noch zeichnerisch, mittlerweile im Medium Malerei, untersucht er in virtuosen Verschränkungen von Flächen und Linien, in der Komposition von Hell und Dunkel, von zart und monumental wie Bilder eine räumliche Tiefe entwickeln und aus der Anordnung von Farben heraus Licht und Schatten in ein Gemälde kommen. Ob Pils‘ Gemälde dabei eher physische Landschaften sein könnten, oder das Räumliche allein schon Landschaft ist, will und muss Paul Hafners Ausstellung nicht beantworten. Die Offenheit einem alten Thema gegenüber regt jedenfalls neue Betrachtungsweisen an.

Geformte Farbe

Herbert Hamak stellt in seinen variantenreichen Arbeiten ganz grundsätzliche Fragen an das Bild und die Malerei. In der Galerie Christian Röllin sind seine Werke der vergangenen zwei Jahre ausgestellt.

Philipp Otto Runge empfahl im 19. Jahrhundert beim Gebrauch von Farbe auch die Masse derselben zu berücksichtigen. Der Maler, einer der Hauptvertreter der Romantik, formulierte damit ein Problem, welches die Künstler bis heute stark beschäftigt. Farbe als Malmaterial hat nicht nur einen Farbton, sondern ist zugleich auch Materie. Sie hat eine Masse, ein Volumen, eine bestimmte Dichte und Konsistenz. Nicht nur die Wahl der Farbtöne ist somit bildrelevant, sondern auch die stoffliche Beschaffenheit des Malmaterials.

Herbert Hamak ist ein Künstler, der sich in besonderem Masse mit diesen zwei Faktoren des Mediums und ihrer gegenseitigen Wirkung auseinander setzt. Bereits direkt nach seinem Studium begann sich der 1952 geborene, in Bayern lebende Hamak dem Materialcharakter von Farbe zu widmen. Nach ersten Versuchen mit dick aufgetragenen Farbschichten entstanden bald Bildkörper aus eingefärbtem Wachs mit Hilfe einer Gussform direkt auf der Leinwand. Von dort aus war es nur noch ein kleiner Schritt zu den Bildern aus Pigmenten und einem Wachs-Kunstharz-Gemisch, die seit zwei Jahrzehnten seine Arbeit bestimmen.

In der aktuellen Ausstellung in der Galerie Christian Röllin sind Hamaks Werke der jüngeren Zeit zu sehen. Sie ziehen den Betrachter sofort in ihren Bann aufgrund ihrer in verschiedenen Bereichen wirkenden Qualitäten. Da ist zum einen die erst luzide, sich dann zur Mitte der Bilder hin zunehmend verdichtende Farbigkeit. An ihren Rändern ist die Farbe durchscheinend, fängt sich das Licht und verbreitet einen sanften Schimmer. In ihrem Zentrum vermutet man vollständige Dunkelheit, dazwischen breitet sich der Farbton wolkenartig aus. Jedes der Werke ist monochrom angelegt, doch die Hell-Dunkel-Abstufungen scheinen unendlich, ganz zu schweigen von den einzelnen verwendeten Farbtönen. Sie reichen von zart bis sonor, von transparent bis dunkelblau.

Die Arbeit mit der Farbe führte Herbert Hamak zur Arbeit mit der Form. Der Variantenreichtum ist auch hier sehr gross, aber ob dunkelrote Stele, dickere oder dünnere Farbquadrate, Farbwände, schmale hochformatige Tafeln oder eine fast einen Kubikmeter messende Bodenarbeit – Hamak betont stets den Bildcharakter seiner Werke. Und so führen seine Untersuchungen zu ganz grundsätzlichen Fragen an das Bild. Wie kann Farbe skulpturalen Charakter entfalten? Und was passiert, wenn die Farbmaterie grösser ist als der Bildträger? Interessant ist, wie die Wand selbst dann die Funktion des Bildträgers übernimmt. Oder was, wenn die Farbmaterie selbst über die Wand noch hinausreicht, so in der seriellen Hängung von sechs Einzelwerken? Hier wird der Raum selbst Teil des Bildes, etwas, was im zweidimensionalen Tafelbild kaum möglich ist, grosse Ausnahme ist da nur Lucio Fontana mit seinen «Concetto Spaziale». Und welchen Einfluss hat die Qualität des Bildträgers auf das Werk? Wo hört das Bild auf?

Die Reihe der Fragen liesse sich fortsetzen. Aber nicht nur die Farbigkeit und die vielfältigen inhaltlichen Fragen wecken das Interesse des Betrachters. Es ist das Material, dieses sanfte Schimmern, die matte Oberfläche und nicht zuletzt die grosse Präzision, in der die Arbeiten daherkommen. Gleich einem Alchimisten erforscht Herbert Hamak die unendlichen Möglichkeiten, die sich aus dem Spiel mit den gegebenen Materialien ergeben. Er giesst sie in immer wieder neue Formen, die immer wieder auch neue Aspekte des Materials und der Farbe zum Vorschein bringen.

Die Velodidakten

Schneiden und Kleben – das verbindet die drei Künstler, die das Lagerhaus vorstellt: Edmond Engel, Heidi Ehmcke und Rosemarie Koczy.

Zur Selbstvergewisserung eines Künstlers gehört der Rückblick auf das eigene Werk. Dabei kommt es nicht selten zu Überarbeitungen und Neuinterpretationen. Auch Edmond Engel hat sich nach Jahren wieder auf die alten Stücke besonnen. Er setzt sich mit jenen Werken auseinander, die er so inzwischen nicht mehr gelten lassen kann. Werke, die gerade noch Material sein können für Neues.

Und dieses Neue bedeutet einen grossen Schritt im Werk des 1937 geborenen, am Genfer See lebenden Engel. Seine alten Werke hat er zerschnitten und die Fragmente auf Sperrholz aufgeklebt. Das Holz selbst jedoch ist mit der Laubsäge in Form gebracht. So kleben kunterbunte Papierstücke auf dem Umriss eines Radfahrers. «Autodidakten und Velodidakten» heisst die Ausstellung verschmitzt. Das Velo besteht aus den Teilen einer Landkarte. Dynamisch wild rast es über die Wand des Museums. Gegenüber macht sich ein Sträfling aus dem Staub, er erklimmt eine Leiter. Einmal nimmt das collagierte Material die Vorgaben der Silhouette auf, ein andermal entfaltet es ein eigenes Leben als Binnenform.

Interessant auch die Ambivalenz zwischen Linearem und Räumlichem. Engel interessiert sich stärker für den Charakter eines Wesens oder Gegenstandes als für seine perspektivisch korrekte Darstellung. Doch als Objekte an die Wand montiert, entfalten die Werke räumliche Präsenz. Zum Teil sind sie grossformatig, wirken aber nie monumental, sondern dynamisch oder sogar fragil. Ob Velofahrer, Tanzende, Boxer, eine «Schwangere mit Siebenlingen», ob Ziegen, Kühe und ein «Septdromedar», gemeinsam ist ihre Leichtigkeit.

Auch Heidi Ehmcke (1905– 1962) erfindet Tiere, ihre Schlangen sind Königinnen, Sonnenanbeterinnen und andere verzauberte Schönheiten. Und auch die am Zürichsee geborene und nach Los Angeles ausgewanderte Ehmcke arbeitet im Medium Collage.

Allerdings ist ihr Werkzeug nicht die Säge, sondern die Schere. Papierschnipsel unterschiedlichster Herkunft – Zeitungsbilder, Magazinseiten, Geschenkpapier – sind zu Landschaften, Porträts oder Tieren zusammengesetzt. Charakterisiert nur durch minimale Details wie Bart, Brosche oder Pfeife beginnen die Gestalten Geschichten zu erzählen.

Die Doppelausstellung im Museum im Lagerhaus wird ergänzt durch zwei weitere Präsentationen. Zum einen ist die eigene Sammlung neu inszeniert, zahlreiche Werke sind erstmals zu sehen. Zum anderen wurde das aktuelle Textilthema aufgenommen: Im kleinen Raum des Museums sind Tuschezeichnungen von Rosemarie Koczy zu sehen. Sie zeigen die geschundenen und gequälten Menschen aus Konzentrationslagern. Doch statt der expressiv gestrichelten Hintergrundstruktur ihrer bekannten Werke sind die Menschen mit ihren schmalen Gliedern, ihrem stummen Staunen behutsam umfangen mit Stickerei-Ornamenten. Sie erhalten ihre Würde zurück, beginnen im definierten Umraum zaghaft zu agieren. Sämtliche ausgestellte Zeichnungen sind auf Spitzen aus dem Textilmuseum St. Gallen zurückzuführen.

Zu Fuss durch Rom

Die beiden Künstler Urs Eberle und Andrea Giuseppe Corciulo waren im vergangenen Jahr in der Kulturwohnung des Kantons St. Gallen in Rom. Nun präsentieren sie die Arbeit ihrer Erlebnisse.

Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Und nicht nur das, sie führen zu neuen Erkenntnissen, ermöglichen unverhoffte Begegnungen, leiten die Gedanken auf neue Wege. Als Umherschweifen erhoben die Lettristen in den 50er- Jahren des vergangenen Jahrhunderts zielgerichtetes und zufallgelenktes Gehen zur Kunstform. In ihren Spaziergängen durch Paris liessen sie sich treiben und hielten die Ströme, Strudel und impulsiven Richtungswechsel ihrer Bewegungen anschliessend in Karten fest.

Spurensuche ging einher mit Spurensicherung – eine Technik, die der St. Galler Urs Eberle zu neuem, eigenem Leben erweckt: Ein Relief aus Linien breitet sich auf einer riesigen Platte aus. Mal verdichten sich die Bahnen, ballen sich, mal zerfasern sie, laufen weit auseinander. Sie kreuzen sich und entfernen sich wieder. Kaum hat der Blick eine Linie fixiert, fesseln andere seine Aufmerksamkeit, schieben sich daneben und dazwischen. So wie dem Betrachter mit seinen Blicken wird es Eberle mit den Strassen Roms ergangen sein. Denn das Relief visualisiert ein persönliches Bewegungsnetz.

Während seines dreimonatigen Aufenthaltes in Rom in der Kulturwohnung des Kantons St. Gallen durchwanderte der Künstler die Stadt. Er folgte dabei sowohl den Pfaden derer, die sich filmisch oder literarisch, beiläufig oder konzentriert der Stadt und ihren Geschichten gewidmet hatten. Immer wieder überliess er sich aber auch dem Weg, versuchte, sich durch nichts als die Stadt selbst lenken zu lassen. All die intuitiven und geplanten Tagesreisen zu Fuss zeichnete Eberle anschliessend auf. Anders jedoch als Topografen thematisiert er nicht den Ort selbst, seine Objekte und strassenbaulichen Details. Er zeigt den sonst nicht sichtbaren Raum dazwischen – das, was erst mittels Bewegung erlebbar werden kann. Eberle entwickelt ein abstraktes Linienfeld, das durch den Verzicht auf die Darstellung einer konkreten Stadtoberfläche die Dynamik der Stadt und der eigenen Schritte anschaulich werden lässt.

Diese Übersetzung des Erlebten und Erlaufenen ist das Bindeglied zwischen den Werken Eberles und Andrea Giuseppe Corciulos in der Ausstellung im Kulturraum des Regierungsgebäudes. Auch Corciulo hat den Aufenthalt in der Kulturwohnung genutzt, um sich der Stadt zu Fuss zu nähern. Auch er reflektiert in seinen Werken dieses Unterwegssein – doch die Resultate könnten unterschiedlich nicht sein.

Der ebenfalls in St. Gallen lebende Künstler widmet sich in Gemälden denen, die ihm auf seinen Wegen durch den öffentlichen Raum begegneten. Als Fremder in der Stadt waren dies für ihn die Fremden, insbesondere die afrikanischen Migranten. In Selbstbildnissen verbindet er die europäische Lebenswelt mit dem, was für uns wohl am stärksten den Hauch des Exotischen ausstrahlt: mit afrikanisch anmutenden Masken. Entstanden sind kontrastreiche Bilder: Die weisse Haut der nackten Leiber schimmert bunt. Die farbige Blösse wird bedeckt von weissen Kissen, Ballons, kreisrunden oder quadratischen Elementen. Die üppigen Masken stehen im Gegensatz zu dem jeweils schmucklosen hellen Raum und beides wiederum zum Mobiliar. Die Gestalten wirken abgeklärt und doch verletzbar. Auf Widersprüchliches will zudem der Titel der Serie hinweisen: «The nearest faraway place». Selbst die Mischung von Ölmalerei mit Paraffin ist ein Baustein dabei, denn die Textur der Oberfläche deckt sich nicht mit jener, die der Farbauftrag vermuten lassen würde. Andrea Corciulo spürt dem Fremdsein durch Befremdendes nach.

Für Corciulo und für Eberle war der Aufenthalt in der Kulturwohnung Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit Phänomenen des Lebens in der zeitgenössischen Grossstadt, die nicht auf Rom beschränkt sind.

Dorf, Land, Fluss

Unter dem Titel «Landscape» zeigt Paul Hafner eine Ausstellung zum Thema Landschaft. Sie vereint drei mit Werken von Gabriela Gerber/Lukas Bardill, Emanuel Geisser und Pascal Seiler unterschiedliche künstlerische Positionen und lässt dennoch Gemeinsamkeiten entdecken.

Wie viel Landschaft braucht ein Landschaftsbild? Braucht es eine Horizontlinie, Licht, Vegetation oder wenigstens Grün? Galerist Paul Hafner zeigt in der aktuellen Ausstellung drei künstlerische Positionen unter dem Motto Landschaft. Dabei kristallisiert sich als Gemeinsamkeit der Werke Pascal Seilers, Emanuel Geissers und des Duos Gabriela Gerber/Lukas Bardill die Reduktion des Bildmotivs heraus.

Der 1965 in Steg geborene Pascal Seiler geht für seine Gemälde vom Sujet früherer Werke aus. Sie werden digitalisiert, vergrössert und wieder in Malerei übersetzt. Ein zentimetergrosses Detail füllt nun ein grosses Format. Vormals zarte Linien werden zu einer markanten Streifenstruktur. Sie fliessen ineinander, verdichten sich und werden unterbrochen von farbigen oder weissen Flecken. Aufgrund seiner Seherfahrung assoziiert der Betrachter sanft geschwungene Hügellandschaften, und weisse Flecken erscheinen als Seen oder Wolken. Andere Flächen stehen dazu in farbigem Kontrast und kommunizieren innerhalb des Bildes miteinander.

Pascal Seiler bewegt sich mit seinen Werken bewusst zwischen Realität und Abstraktion, die Übergänge sind fliessend und das macht die Spannung seiner Bilder aus.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch Gerber und Bardill mit ihrem Porträt eines «Rapid». Der Rasenmäher erscheint in einer Dreierserie von Inkjet-Prints zunächst als Gesamtbild, dann vergrössert und angeschnitten und schliesslich in einem nochmals vergrösserten Detail, sodass keine Rückschlüsse auf den ursprünglichen Gegenstand mehr möglich sind. Im Zoom zerfällt das Bild, gleichzeitig entsteht ein neues abstraktes. Nebenbei wird auch noch im scheinbar näher kommenden Fahrzeug die im Namen desselben suggerierte Geschwindigkeit thematisiert. Die 1970 in Schiers geborene Künstlerin und der 1968 in Chur geborene Künstler interessiert insbesondere die kontrollierte Landschaft: sowohl die beispielsweise durch Landwirtschaft geprägte Realität als auch die per Computer simulierten Bilder derselben. So in der Serie «Landmark»: Fenster- und türlose Häuser stehen im Weiss. Kein Horizont ist sichtbar, kein Himmel, kein Weg und erst recht keine Lebewesen. Gerber und Bardill haben die Rezeptur für Landschaftsbilder bis zum Äussersten reduziert. Und dennoch lassen sich Atmosphäre, Licht und Raumtiefe erspüren.

Emanuel Geiser inszeniert Landschaft im dreidimensionalen Raum. Geheimnisvoll wirkt die Anordnung eines grossen, auf den Boden geklebten Kreuzes, eines kleinen Scherenschnitts auf Kniehöhe an der Wand und einer auf die Wand gemalten Karte. Ist der über dem Kreuz pendelnde Kristall der Schlüssel zum Werk? Ist es der Titel? «Dorf unter Schnee» nennt der 1974 in St. Gallen geborene und in Berlin lebende Künstler seine Arbeit und gibt damit weitere Rätsel auf. Ist das Dorf durch das Kreuz markiert? Was wissen die weissen, kleinen Rehe an der Wand? Erspüren sie mit dem feinen Sinn der Tiere, was passierte? Wohin führt uns die Landkarte? Die Fliessrichtungen der Gewässer sind darin mit Pfeilen markiert, oder sind es die Orientierungspfeile? Landschaft wird hier auf eine neue Ebene gebracht. Sie lebt nicht mehr nur im Bild, das notfalls noch mittels Staffage eine Geschichte erzählen kann, sondern hier wird der Betrachter aufgefordert, selbst eine Erzählung zu entwickeln, sich aktiv mit der Landschaft auseinander zu setzen.

Die kleine, sehenswerte Ausstellung wirft neue Lichter auf ein altes Thema der Kunst. Es ist heute aktueller denn je und erfährt in den gezeigten Werken neue, intelligente und auch verblüffende Anregungen.

Dreimal Gaza

Die zweite Ausstellung in der Reihe «Twogether» vereint Werke von Rayelle Niemann, Taysir Batniji und Raoof Haj Yehia. Das gemeinsame Thema ist die Situation der Menschen im Gaza-Streifen.

Ein endloser Gang, gebildet von übermannshohen Betonmauern, überdacht und zementiert: Hier ist kein Entweichen möglich, es geht nur geradeaus, heraus aus dem Blau hin zu Rot, zu Grün und schliesslich zu Grau. Was hat es mit diesem Gang auf sich, was mit diesen Farben? Rayelle Niemann hat die Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Israel fotografiert. Monumental mutet dieser Sicherheitsgang an, umso mehr, da er zur Kanalisation von Menschenmassen geplant ist, aber auf allen Bildern menschenleer ist. In der gähnenden Leere wird seine Funktion nur umso deutlicher: Er schüchtert ein, er befremdet, er schottet ab. Das grelle farbige Licht verwirrt die Sinne, doch am Schluss ist er nur noch grau: Wir sind im Gaza-Streifen.

Rayelle Niemann, Taysir Batniji und Raoof Haj Yehia nehmen den Betrachter im Projektraum exex mit auf die Reise. Sie lassen die Einreiseformalitäten spüren, lassen teilhaben am alltäglichen Leben mit seinen existenziellen Problemen und vergessen auch die Ausreise nicht. Doch erst einmal sind wir angekommen. In einer während eines dreimonatigen Arbeitsaufenthaltes entstandenen Fotoserie porträtierte Niemann die Grenzstadt Rafah und ihre Bewohner. Was zunächst wie eine Reihe von Schnappschüssen wirkt, ist das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit der Situation vor Ort. So sind etwa die kippenden Linien genauso wie die kleinen Details des alltäglichen Lebens sorgsam ins Bild gesetzt und fügen sich zu einfühlsamen Zeugnissen des Lebens im Gaza-Streifen.

Auch Taysir Batniji widmet sich diesem, seinem Leben. Der im Gaza-Streifen lebende Künstler hat mit seiner Bildserie «Fathers» die üblicherweise in Geschäften hängenden Porträts der verstorbenen Familienoberhäupter festgehalten.

Umgeben von Lebensmittelpaketen oder Handwerkerbedarf sind sie mal nur von einem einfachen Rahmen gefasst, mal neben Reklame westlicher Konsumgüter inszeniert. Indem Batniji den Blick auf die Glorifizierung der Abwesenden lenkt, thematisiert er einerseits die unangefochtene männliche Autorität wie andererseits auch die Sehnsucht nach Statussymbolen.

Niemann und Batniji bespielen den Projektraum exex im Rahmen von «Twogether». Was ursprünglich als dialogische Arbeit zweier Künstler gedacht war, erweiterte sich in der aktuellen Ausstellung zu einem Trio.

Der Dritte im Bunde ist Raoof Haj Yehia. Nahtlos fügt sich sein Werk an jenes der anderen beiden an: Eine Fotografie zeigt ein Stück Fladenbrot auf einer Landkarte liegend. Die Karte zeigt Israel, das Brot den Gaza-Streifen. Raoof Haj Yehia platziert es dort, wo es am nötigsten gebraucht wird. In anderen Fotografien steckt das Brot in einem Express-Umschlag, wird mit lieben Grüssen per Brief geschickt oder wie ein Medikament in sorgfältig dosierten Mengen abgegeben. Der in Ramallah lebende Künstler findet prägnante Bilder für eines der drängendsten Probleme seiner im Gaza-Streifen lebenden Landsleute: den nach den jüngsten politischen Ereignissen und den damit verbundenen internationalen Reaktionen eingetretenen Notstand an Nahrungsmitteln.

Die Zeit zur Abreise ist gekommen. Und noch einmal muss die Grenze passiert werden. Für Palästinenser bedeutet dies Warten. Taysir Batniji dokumentiert mit einer kleinen Kamera das Geschehen an der Grenze. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass nichts geschieht. In trostlosen, von Neonlicht erhellten Räumen warten die Reisenden, warten und warten. Wir wissen, sie warten auch dann, wenn zwischendurch schwarze Bilder eingeblendet sind. Noch einmal wird auf eindringliche Weise das Leben in einem vom Leben abgeschnittenen Landstrich reflektiert.

St. Gallen : Aleksandra Mir in der Kunsthalle St. Gallen

Happening, Landart, Performance, Dienstleistungskunst, Skulptur? Aleksandra Mir ist in neuen und alten Kunstkategorien zu Hause. Verknüpft wird diese Vielfalt durch ihre grosse Leidenschaft: Ob in luftigen Höhen oder mit festem Boden unter den Füssen, alles dreht sich um Luft- und Raumfahrt. So steht die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle St. Gallen mit Werken der 1967 in Polen geborenen und in New York lebenden Künstlerin nicht von ungefähr unter dem Motto «Welcome Back to Earth».

Bevor eine glückliche Landung gefeiert werden kann, ist in der Regel erst einmal eine erdferne Mission zu bewältigen. So hat sich Mir 1999 die weibliche Eroberung des Mondes vorgenommen und hisste auf einem eigens umgebaggerten, niederländischen Küstenstreifen die Flagge der Vereinigten Staaten. Getragen von unverkrampftem Feminismus, verwandelte sie den Akt US-amerikanischer Okkupation des Alls in ein fröhliches Strandfest für alle, inklusive Videodokumentation. Der ironische Blick auf maskulines Eroberertum setzt sich fort in der Serie «11 Archival Nasa Photographs», die Astronauten bei einer Simulation kosmischer Zustände auf Island zeigt. Die Originalaufnahmen von durch vegetationslose Kraterlandschaften stapfenden Männern mit Cowboyhut verfehlen auch ohne Zutun der Künstlerin ihre Wirkung nicht. Einen Schwerpunkt der Ausstellung bildet das aktuellste Projekt der Künstlerin «Plane Landing». Eigentlich sollte bereits jetzt in St. Gallen ein flugzeugförmiger Ballon in inszenierter Landepose zu sehen sein. Doch obgleich mit den Erbauern des weltumrundenden Breitling Orbiter 3 echte Spezialisten am Werk sind, erweist sich die technische Umsetzung als überaus schwierig. Bis der Ballon irgendwann aufsteigt (anvisiert ist mittlerweile der 13. September), muss sich der Betrachter also mit Computerzeichnungen und Fotomontagen begnügen. Aber bereits da zeigt sich das Potenzial der Idee. Bei den geplanten Installationen des Fliegers in New York, in Wüstengebieten des Nahen Ostens, in Paris und eben in der Schweiz wird stets eine andere Sichtweise dominieren. Den einen wird er als Symbol für Terrorismus und Krieg, den anderen als Zeichen einer grossen Luftfahrtnation oder aber des Niedergangs der nationalen Fluggesellschaft gelten. Alexandra Mir bietet eine nicht nur ästhetisch, sondern auch inhaltlich reizvolle Projektionsfläche für ein seit frühesten Menschheitstagen hochspekulatives und emotionsgeladenes Feld. Das Streben gen Himmel äussert sich aber bekanntlich nicht nur in der Flugzeugindustrie. Mirs «Aviation Libary», eine Sammlung in mehr oder weniger bewölktes Himmelblau gebundener Bücher mit gelegentlich auftauchenden Flugzeugen, offenbart den ganzen Reichtum der nach oben gewandten Sehnsüchte und Versprechen von spiritistischen Ratgebern bis hin zur Clinton-Biografie. Ob Flugapparat oder Ballon, mit den Vehikeln der Fliegerei lassen sich also so ziemlich alle Bereiche des Lebens abtasten und geistreich hinterfragen, zumindest, wenn Aleksandra Mir am Werk ist.

Die Finnen kommen

Christian Roellin stellt in seiner Galerie Künstlerinnen und Künstler aus Finnland aus. Die Bandbreite dieser zeitgenössischen Malerei reicht von zarten Tuschezeichnungen bis zum Monumentalbild.

Mehr als einmal sind Künstlergruppen von Kunsthistorikern gemacht worden. Ausstellungen über Zeitphänomene führten mitunter dazu, dass verwandte Formensprachen oder ein gemeinsames thematisches Interesse als Gruppenmerkmale identifiziert wurden. Nicht immer geschah dies im Interesse der Künstlerinnen und Künstler selbst, birgt doch die Zuordnung zu einem grösseren, allgemeineren Kontext die Gefahr der Reduktion der Wahrnehmung auf die Gemeinsamkeiten. Individuelle Merkmale, der Reichtum der Differenzierung gehen verloren.

Christian Roellin liegt es fern, mit «Contemporary finnish painting» einen Gruppenzusammenhang zu konstruieren. Die in seiner Galerie ausgestellten sieben finnischen Positionen sind eigenständig – auch in der Selbstwahrnehmung – und repräsentieren den Reichtum der aktuellen finnischen Malerei. Dass es dabei auch Gemeinsames gibt, liegt in der Natur der Sache und nicht zuletzt auch in der Geografie, arbeiten die Künstler doch auf einem Aussenposten Europas.

Das Gravitationszentrum Akademie hat in Finnland eine wichtige Rolle, und es ist sicherlich kein Zufall, dass sich mit Ausnahme von Henry Wuorila-Stenberg alle ausgestellten Künstlerinnen und Künstler im Umkreis der Akademie Helsinki entwickelt haben.

In Wuorila-Stenbergs Werken ballt sich das Material zu Farbhaufen, für die «bunt» eine Untertreibung ist. Reflexionen über Malerei finden sich hier gleichzeitig mit ironisch entlarvenden Blicken auf gesellschaftliche Phänomene. Stoisch blickt ein Anzugträger aus dem Farbkrach, versucht sich ein Funktionär im Rollstuhl gegen die Kraft der Töne zu behaupten.

Die zeitgenössische Lebenswelt ist auch das Thema Tarmo Paunus. Mit neoexpressivem Gestus setzt er eine typisch finnische 1.-Mai-Feier ins Bild. Eine Militärband spielt auf, Hitze, Lärm und Ausgelassenheit strömen förmlich aus dem Bild. Genauso intensiv die Bordellszene, die mit Schlange, Baum und einem über allem wachenden, jedoch anspielungsreich rüsselnden Elefanten gleichzeitig an den Sündenfall erinnert. Eine ganz andere Intensität strahlen die Werke Janne Räisänens aus. Formaler Reichtum paart sich mit üppiger Farbigkeit. Worte oder Details tauchen auf und werden von der Malerei wieder verschlungen. Assemblage mischt sich selbstverständlich mit Malerei, Chaos mit Struktur.

Die farbstrotzende Malerei dieser drei Künstler steht in deutlichem Kontrast zu den Bildern der drei Künstlerinnen der Ausstellung. Bei Anna Tuori dominieren grosse Flächen in subtiler Farbigkeit, akzentuiert von ausgewogen platzierten Details. Es sind Gemälde fiktionaler Landschaften. Keiner kennt sie, aber jeder glaubt sich doch an sie zu erinnern: sanfte Traum- und Sehnsuchtslandschaften.

Elina Merenmies interessieren eher die Albträume. Den Gestalten ihrer Tuschezeichnungen möchte man lieber nicht begegnen. Düster die Gesichter, düster der Wald. Der lasierende Tuscheauftrag ist genauso Merenmies‘ Stärke wie eine an die grossen Meister der Grafik erinnernde Linearität.

Auch Mari Sunna nutzt das Medium Tuschezeichnung. Hier dominiert jedoch die grosse, blattfüllende Form. Sunnas Thema ist der Mensch in seinen Gefühlen, seiner Verletzbarkeit. Trotz oder gerade aufgrund der formalen Reduktion entfalten die Werke emotionale Kraft.

Bleibt der Dark Room der Ausstellung zu erwähnen: Jukka Korkeila hat eigens für die Präsentation ein schwarzes Wandgemälde mit integrierten, in Tusche festgehaltenen grotesken Wesen geschaffen. Es sticht jedoch vor allem durch seine Monumentalität ins Auge.

Vollmond im Frühstücksbrettchen

Marianne Rinderknecht spielt in der aktuellen Ausstellung in der Galerie Paul Hafner einmal mehr mit Sehnsüchten und Unbehagen. Mit raffinierten Spiegelungen hinterfragt die Künstlerin die Erwartungen des Betrachters an den Begriff Schönheit.

Das Phänomen ist seit einiger Zeit bekannt: Eine neue Romantik durchzieht die Gegenwartskunst. Sehnsüchte, Träume, Wunschwelten werden thematisiert, Schönes wird gefeiert, Kitsch nicht ausgeklammert. Gemälde und Installationen zeigen ein neues Arkadien: die Farben sind bunter, die Menschen als Zeitgenossen erkennbar, doch die Orte sind dieselben, der Wald, das Meer, die Auen.

Auch Marianne Rinderknecht entführt den Betrachter in die Natur. Wer erinnert sich nicht an die grossformatigen Wandmalereien in der Neuen Kunsthalle oder an die letzte Ausstellung in der Galerie Paul Hafner: Der Betrachter fand sich umgeben von einer Landschaft aus amorphen Wucherungen in Rosa, Lila und Neontönen. Diese auf den ersten Blick so heile, so rosige Welt, zeigte sich auf den zweiten gespickt mit Irritationen und kleinen Giftspritzern.

Diese besondere Durchdringung von Abgrund und Idylle, von Schön und Schaurig gelingt der 1967 geborenen Künstlerin auch in der aktuellen Ausstellung bei Paul Hafner. Zunächst einmal fällt die formale Weiterentwicklung des Werkes auf. In einer Ecke des Galerieraumes fliesst eine monochrome Fläche über die Wand, an den Rändern akzentuiert durch einen weiteren verwandten Ton. Bei dieser grossformatigen Wandmalerei verzichtet Rinderknecht auf die früher so zahlreich gesetzten Binnenformen und damit auf die narrativen Momente.

Dies kommt der Kraft und Wirkung der grossen Gestalt zugute. Bereits hier gibt es Anklänge an Vegetabilien und diese Blumenform taucht dann in verschiedenen anderen Medien wieder auf. Die Ausstellung gleicht einer Komposition. Das Hauptmotiv wird immer wieder neu interpretiert und instrumentalisiert. Mal deuten andersfarbige Binnenformen tatsächlich so etwas wie Blütenblätter an, dann wiederum legen sich über einen monochrom grünen Untergrund kräftige rote Punkte. Ausserdem gibt es den Blumenumriss auf einem Tafelbild ebenso wie als Silhouette eines Objektes. Und stets erscheint er zweimal, nämlich an der Vertikallinie gespiegelt.

Spätestens hier zeigt sich, wie Marianne Rinderknecht mit den Erwartungen des Betrachters an Schönheit spielt. Ist ein Klon genauso schön wie sein Original? Lässt sich Schönheit durch die Spiegelung verdoppeln oder sind es nicht die kleinen Abweichungen, die Abwechslung, die Vielfalt, die Dinge in unseren Augen schön machen? Ist die perfekte Form auch die schönste Form?

Besonders augenfällig wird die Frage bei den kleineren Wandobjekten. Sie muten an wie Frühstücksbrettchen aus dem Brockenhaus, die ihre Ecken und Kanten längst im Alltagsgebrauch verloren haben. Ein jedes strahlt uns in einem beinahe schon unheimlichen Rosa an. Und als wäre dies nicht genug, scheint es weiss aus den einzelnen Täfelchen heraus, so als verstecke sich hinter jedem der Vollmond. Darüber gelegt sind feine dunkelrote Zellenstrukturen oder Netze aus verspielten Linien, die an die Kringel im Aufgabenheft oder Poesiealbum erinnern, aber auch an die aus der Chaosforschung bekannten Fraktale.

Diese Kontraste erzeugen das Spannungsfeld der Ausstellung. Marianne Rinderknecht spielt zwischen Virtuosität und Kitsch, stellt die technische Perfektion neben das Anheimelnde, sich beissende Töne neben Wohlklänge. Motive und Farben erzeugen Sehnsüchte und Unbehagen gleichermassen.

Die Maus als Berg und umgekehrt

Die aktuelle Ausstellung in Katharinen zeigt Werke der St. Galler Künstlerin Ghislaine Ayer. Sie mischt Techniken und Motive in komplexen Bildwelten.

Quallen schweben über Vögel hinweg. Stammzellen, Bienenwaben, Gitternetze verschränken sich. Es wächst, wuchert und wabert. So könnte es aussehen im Labor eines Naturwissenschafters – eines Zoologen, Biologen, Chemikers, Geologen und Gentechnikers in Personalunion. Da treffen sich Bakterien, Algen, submarine Architektur und Satelliten. Die Übergänge sind fliessend, und vernetztes Wissen unabdingbar. Kaum lässt sich eine treffendere Umsetzung der Komplexität zeitgenössischer Forschung vorstellen, als sie Ghislaine Ayer in ihren Gemälden verwirklicht.

Den Ausgangspunkt für dieses Nebeneinander unterschiedlichster Informationen und Medien bildet für Ayer die Recherche in Internet und Bibliotheken. Sie sind die unerschöpfliche Quelle für ihre Bildfindungen, und bereits hier existiert alles völlig gleichberechtigt nebeneinander. Dies setzt sich in den Werken der 1976 geborenen St. Galler Künstlerin fort. Sie gibt in ihren Bildern keine Wertungen vor.

Die Sujets oszillieren zwischen Organik und Technik, so entwachsen einer zu einem rosafarbenen Berg mutierenden Maus Vektorpfeile, die sich im Schirm eines Fallschirmspringers zu thermischen Richtungshinweisen konkretisieren: gross und klein, natürlich und künstlich. Die Kombination der Motive setzt sich in jener der künstlerischen Technik fort. Ayer hat keine Angst davor, die Malerei mit unkonventionellen Mitteln zu unterlaufen, herauszufordern. So kann es schon einmal passieren, dass der Betrachter sich bei dem hellblau marmorierten Bildgrund an die Schrankfolie in der Herberge neulich erinnert fühlt, denn genau diese wurde hier verwendet. Und der bereits erwähnte Fallschirmspringer schwebt vor Klebefolie mit Delfinmotiven.

Auch Brennstab oder Feuer kommen zum Einsatz, wenn Ayer auf der Suche nach neuen Bildstrukturen ist. Aber die Technik gerät nie zum Selbstzweck. Und das eigentliche Medium, in dem immer wieder alles zu einem visuell homogenen Ganzen zusammengefasst wird, ist die Malerei.

Die Farbigkeit der Gemälde ist gebrochen, selten findet sich eine unvermischt eingesetzte Primärfarbe. Alles fügt sich zu Farbklängen, die auch Kontraste nicht ausschliessen, so etwa ein Rosa, das auf sattes Grün trifft. Die Farben bilden oft nahezu monochrome Flächen oder ziehen sich in starken Lineaturen über das Bild. Der Hintergrund ist ebenfalls monochrom oder wird von einer kleinteiligen Allover-Struktur gebildet, sodass die Motive zu schweben scheinen. Werden sie an den Rändern angeschnitten, verstärkt sich der Eindruck der Schwerelosigkeit noch, das Bild wirkt wie ein Ausschnitt von in der Unendlichkeit des Raumes treibenden Teilchen. Ghislaine Ayer arbeitet souverän mit den gewählten Mitteln. Umso bemerkenswerter ist der unprätentiöse Umgang mit dem Bildträger: Sie verwendet Sperrholzplatten, die sie an die Wand pinnt. Solche Unbefangenheit tut wohl, lässt sich doch öfter feststellen, dass Künstler ihre Werke durch das Passepartout zu adeln versuchen.

Ayers Werke sind ein zeitgemässer künstlerischer Ausdruck für das, was uns in dem Wörtchen Hybrid immer öfter begegnet: ein aus unterschiedlichen Arten oder Prozessen zusammengesetztes Ganzes, in dem die zusammengebrachten Elemente bereits für sich stehen können, aber durch das Zusammenbringen eine neue Qualität gewinnen. Der Titel der Ausstellung in Katharinen, «Patchwork», deutet auf seine Weise ebenfalls auf dieses Phänomen hin. Das Einzelne fügt sich zueinander, sowohl motivisch als auch vom Herstellungsprozess des Werkes aus betrachtet.