Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Geld für alle

Johannes Burr bringt im Nextex Kunst und Ökonomie zusammen. Der Ausstellungsraum wird zur Plattform für alternative Wirtschaftskonzepte und das Kinok zeigt eine Filmreihe zum Thema.

Die Bank aus Austauschform, der Kredit als Vertrauen, der Mehrwert unverkäuflich – was wäre wenn?

Eine oktogonale Bank dominiert den Hauptraum des Nextex, eine Bank aus Holz zum einander gegenüber Sitzen, zum miteinander Reden. Das Polysem zeigt sich hier von zweien seiner Bedeutungen: Das Möbel lädt nicht nur zum Verweilen ein, sondern es will auch Kreditinstitut sein. Zumindest die Basis dafür. Johannes Burr hat sie gebaut, um ein Zeichen zu setzen für den Austausch von Kreditnehmer und Kreditgeber. Darin nämlich sieht der in Basel und Berlin lebende Künstler die eigentliche Aufgabe einer Bank. Nur im Austausch lässt sich der Geldfluss sinnvoll steuern, nur so können alle ihre Fähigkeiten einbringen und alle daraus einen Nutzen ziehen.

Johannes Burr verwandelt das Nextex in eine Wirtschaftszentrale oder besser einen Wirtschaftsdenkraum. Der Künstler untersucht die ökonomischen Grundbegriffe, er zeigt die Schwachstellen des Geldflusses auf, setzt sich mit alternativen Konzepten auseinander. Auch wenn das alles bewusst nicht nach Kunst klingt und Burr sich denn auch eher als Initiator sieht, denn als Künstler, nahm alles im Kunstkontext seinen Anfang, genauer während des Kunststudiums. Schon so mancher Künstler sah sich mit der Frage konfrontiert: Was heisst es Kunst zu machen? Gleichzeitig liess sich Alltägliches nicht ausblenden: Wovon lebe ich? Wie organisiere ich mich? Burr nahm sich in der Konsequenz vor, einen Film zu drehen ohne Geld, übers Geld, der viel Geld einspielt. Gar nicht so einfach, zumal es Filme übers Geld schon einige gibt. So entschloss sich Burr Form und Inhalt zu vereinen und einen Film zu machen, der selbst Geld ist. Die Idee eines zirkulierenden Kreditkoffers mit Kamera entstand. Burr überlässt einer Person den Koffer sowie einen Vertrag und stellt vier Aufgaben. Die Person filmt und sendet den Streifen als Zins für den Koffer an den Künstler. Den Koffer indes gibt sie weiter. Eine Folge von Filmen entsteht. Die bisherigen Filme #1 bis #6 wurden unter anderem in Basel, Berlin, Brasilien und Polen realisiert.

In St. Gallen wurde nun der Kettenfilm #7 gedreht. Die einzelnen Abschnitte sind im Nextex zu sehen, allerdings sind sie nicht mit einem Kunstwerk zu verwechseln. Sie verstehen sich vielmehr als Dokumente der Interaktion, als unverkäufliches Nebenprodukt. Sie hinterfragen die Spielregeln des Geldes und liefern einen Kommentar zu den Chancen pluraler Autorenschaft. Überhaupt will Burr möglichst Viele einbeziehen. So ist denn auch nicht von einer Ausstellung im Nextex die Rede, sondern von einer offenen Plattform. Es gibt Vorträge, Gesprächs- und Diskussionsrunden, eine Filmreihe im Kinok, die wiederum von Gesprächen mit Regisseuren, Wirtschaftswissenschaftlern und Praktikern aus der Finanzwelt gerahmt wird. Selbstverständlich sind auch die „Hinter der Bar“-Abende mit St. Galler Künstlerinnen und Künstlern geeignet, über Kunst und alternative Ökonomie nachzudenken. Versteht sich, dass dabei auch das vieldiskutierte bedingungslose Grundeinkommen zur Sprache kommen wird. Burr selbst sieht dieses Modell nicht als Wohlfahrtseinrichtung, sondern als Investition in jeden Menschen im Sinne des lateinischen credere, des Vertrauens und Glaubens. 

Wer nun also beim Projektnamen „Geld für alle“ ins Träumen gekommen ist, wird feststellen, dass Bargeld im Nextex keines fliesst, doch viele Ideen und Fragestellungen rund um das Monetäre aufgeworfen werden. Und die Kunst? Johannes Barr jedenfalls könnte sich vorstellen, schon bald tatsächlich eine Bank zu eröffnen, eine für beides: zum Sitzen und für den Geldfluss.

Videokunst zum Eintauchen

Tipp der Woche: Pipilotti Rists gross angelegte Werkschau in St. Gallen

Videoprojektionen sind frontal, zweidimensional, gebunden an die Leinwand. Oder sie flimmern über Böden, Decken und Mobiliar, brechen sich an Raumkanten, umfangen den Betrachter von allen Seiten, vereinen Skulptur und Malerei, sind Film und Farbrausch in einem – dann sind sie von Pipilotti Rist.

Die international beachtete Videokünstlerin hebt die Konfrontation zwischen Projektion und Betrachtenden auf. Sie werden Teil der Installationen, bewegen sich darin und tauchen tief in den Bilderstrom ein. Seit den 1990er Jahren schafft die Schweizer Künstlerin immer neue raumgreifendere, sinnliche Erlebnisse – aktuell zu sehen, zu hören und zu riechen im Kunstmuseum St. Gallen. Rist kehrt mit der retrospektiv angelegten Schau an den Ort ihrer ersten Museumsausstellung zurück. Die Werke leuchten, wogen, rauschen, raunen und reichen von frühen Einkanalvideoarbeiten und Installationen über den hierzulande nie ausgestellten Wald aus filmisch angestrahlten Stoffbahnen bis hin zum eigens entwickelten Farblabor und der Unterhosengirlande. Blütenweiss und vielsagend weht letztere durch den Stadtpark vor dem Museum.

SonntagsZeitung, Tipp zu: Pipilotti Rist „Blutbetriebene Kameras und quellende Räume“, Kunstmuseum St. Gallen

Zu sieben Brücken musst Du geh’n (Ausschnitt)

Die Oberachbrücke als gute Stube

Was haben Ulrich Loppacher, David Tobler, Melanie Linker und Ulrich Niederer, Zimmergesell von Lutzenberg, gemeinsam? Wer sind oder wer waren sie überhaupt? Sie haben ein Zeichen hinterlassen, haben mit Messer oder Stift dafür gesorgt, dass zumindest ihr Name eine lange Zeit überdauert. Sie haben eine Brücke durch die Jahrhunderte geschlagen. Sie haben sich nie getroffen und waren doch am selben Ort. Ulrich Loppacher am 19. April 1900, David Tobler am 16. März zwei Jahre zuvor, 1898, Melanie Linker am 10. April 1984, Zimmergesell Niederer am 16. April 1843. Wann allerdings Heinrich Graf und Christian Schlegel aus Oberstädeli an diesem Ort waren, ist etwas rätselhaft. Die als MV CCCCXXXIII entzifferbare Jahreszahl hinter ihren Namen könnte 1933 heissen; dass nämlich MCDXXVIII gemeint ist, ist unwahrscheinlich. Dies entspräche dem Jahre 1428, aber der Balken, der Grafs und Schlegels Namen trägt, gehört zur 1739 errichteten Oberachbrücke. Wie ein verlassenes, verlorenes Haus schwebt die gedeckte Brücke zwischen zwei massiven Quadermauern über der Goldach. Das Dach hat Moos angesetzt, die Bretter der Verschalung sind aussen silbrig-grau verwittert und innen von leuchtend grünen Algen überzogen. Die 19 Meter langen Streckbalken sind so dick wie ein Arm lang.

Einst Saum-, heute Wanderpfad, führt der Weg über die Oberachbrücke nach Speicherschwendi oder weiter noch nach Vögelinsegg. Bereits in der Landkarte von Bartholome Bischofberger (1623–1698) aus dem Jahre 1682 war hier ein Steg eingezeichnet. Als er baufällig geworden war, baute Hans Ulrich Grubenmann (1693–1753) – nicht zu verwechseln mit dem berühmten Teufner Namensvetter – mit seinen Söhnen Jakob, Uli und Hans Ulrich die neue Brücke. An ihr studieren wir jetzt die alten Namen im spärlichen Licht. Fenster wie bei vielen anderen gedeckten Brücken gibt es hier nicht. Zwar ist dadurch der Blick nach aussen verwehrt. Doch dies schafft Konzentration und Musse für das Innere. Florian Graf träumt von einem Klavier, fühlt sich mit einem Mal wie in einem Haus, in einem Zimmer. Gerade dies aber funktioniere bei Brücken sonst nicht: «Eine Brücke ist als Bauwerk nicht erlebbar und nicht als Ganzes sichtbar. Ein Haus sehe ich von aussen als Ganzes, kann es betrachten und begehen. Wenn ich eine Brücke be-nutze, dann ist sie als Bauwerk nicht mehr wahrnehmbar. Sie ist dann ein Weg oder eine Strasse.» Für den Künstler Florian Graf ist die Qualität einer Brücke mit der eines Kunstwerkes vergleichbar: «Beides sind Dinge, die man benutzt, um irgendwohin zu kommen, sei es zu sich selbst oder zu neuen Ufern. Sobald man sie begeht, tritt ihre materielle Präsenz in den Hintergrund. Auch Bilder haben eine physische Präsenz. Diese scheint jedoch nicht ihre Idee oder wichtigste Eigenschaft zu sein. Sie führen über sich hinaus an einen anderen Ort oder oszillieren zumindest zwischen der materiellen Erscheinung und ihrer weiterführenden Erschliessung. Kunstwerke sind Erschliessungsobjekte, die (gedankliche, emotionale oder fiktive) Brücken schlagen.»

Vielleicht haben auch die zahlreichen Graffitis ihren Grund im andersartigen Charakter der Oberachbrücke. Schliesslich sind es nicht nur kurze Namens- und Datumseinträge, sondern so mancher Vierzeiler in deutscher Schreibschrift kündet hier vom Verweilen, auch wenn er bis hin zu den Inhalten zotiger Reime eigentlich etwas ganz anderes erzählt. Vieles ist schwer oder gar nicht zu entziffern. Dechiffrierinstinkte beginnen sich zu regen, doch da unser Besuch der Brücke auf den Februar fällt und noch einiges an Weg zu bewältigen ist, verlassen wir die Brücke, wir überqueren sie nicht, sondern gehen aus ihr heraus wie aus einem Haus – durch die Öffnung, durch die wir eingetreten sind.

An die Gmündertobelbrücke langen

Die Gmündertobelbrücke wird überwiegend als Strasse genutzt und wahrgenommen. Wie fast alle Brücken offenbart sie ihre Gestalt dem Überquerenden nicht, obwohl sie 1908 mit ihren 79 Metern die längste Eisenbetonbrücke in Europa war. Selbst der Versuch, sie auf einem inzwischen verwilderten Weg auf der Teufener Seite des Tobels in Augenschein zu nehmen, gelingt nur bedingt. Der Schnee ist hoch, die Äste hängen tief; die Ausblicke sind zwar sehr lohnend, zeigen die Brücke aber nicht in ihrer Grösse. Doch da bietet sich eine besondere Gelegenheit: Die Stahlbetonbrücke wird instand gesetzt und das Baustellengerüst ist nicht abgesperrt. Einmal direkt unter einem Brückenbogen stehen, die Dimensionen des Bauwerkes erfahren, den Beton und seine Risse aus nächster Nähe betrachten, streicheln, auf schmalen Brettern stehend zaghafte Blicke in die Tiefe des Tobels und auf die zahlreichen Ebenen der Baustelle werfen – ein seltenes, sehr eindrucksvolles Erlebnis.

Keine Wege führen zur sprechenden Brücke

Über den Hang hinunter an die Urnäsch kommt Ulrich Vogt die historische Karte von Gabriel Walser in den Sinn. Sie zeigt das Appenzellerland mit seinen Orten, Wasserläufen und Brücken, doch ohne Wege; und ungefähr so lässt es der Winter heute aussehen. Die Wege sind verschwunden, der Schnee liegt als makellose Fläche zwischen den Brückenwandernden und ihrem nächsten Ziel: Eigentlich heisst er Tobelbrücke, jener verborgene Übergang über die Urnäsch zwischen Hundwil und Herisau, wo einst der Landsgemeindeweg durchführte. Der Wegweiser drei Minuten vor dem Ziel nennt ihn jedoch so, wie er jenen bekannt ist, die ihn überhaupt kennen: «Sprechende Brücke». Selbst Salomon Schlatter (1858–1922), dem ersten Grubenmannforscher, blieb das Grubenmannsche Hauptwerk noch verborgen. Grund dafür ist die Lage abseits beliebter Wege, tief unten im Tobel, zu dem es steil hinunter und von dem es ebenso steil wieder hinauf geht, anschaulich beschrieben von Walter Rotach im Heimatbuch für junge Appenzeller (Herisau 1927, S. 51): «Tief unten in der Schlucht kauert das graue, ein wenig verhutzelte Grossmütterchen. Im Strudel der Welt ist es fast vergessen worden. Wer aber doch einmal aus Zufall oder alter Anhänglichkeit zu ihm kommt, den nimmt es gar freundlich auf und lässt ihn nicht von der Hand …».

Auch uns wird es so ergehen. Doch zunächst müssen wir uns am Wegweiser entscheiden: Die Überquerung der Urnäsch ist auch wenige hundert Meter weiter nordöstlich möglich. Wir müssen aber keine Entweder-Oder-Entscheidung treffen, sondern die Reihenfolge bestimmen. Dass wir uns kurz vor der Dämmerung zuerst für die «Sprechende Brücke» entscheiden, wird sich als Vorteil erweisen, denn nicht mehr lange sind sie in der einbrechenden Dunkelheit entzifferbar: die Inschriften auf den Spannriegeln der sechs Gebinde. Von der Geschichte der Brücke ist da zu lesen, von ihren Baumeistern und vom Nutzen eines gottgefälligen Lebens. Nicht nur die letztgenannten Weisungen liessen wohl so manchen Wanderer nachdenklich werden; die historischen Ausführungen sind nicht minder aussagekräftig. Sie künden von Gewalten, die bis heute zur Bewährungsprobe einer Brücke und ihres Baumeisters gehören: «Die vor der stehete Jm Jahr 1722 wohl gebaute brug, Jst da weg geschwämt durch unerdenckliche Große wasser flutt». Das grosse Hochwasser 1778 riss die vorherige Brücke mit sich und noch im gleichen Jahr errichtete Hans Ulrich Grubenmann (1709–1783) für 2773 Gulden die bis heute erhaltene «Hüslibrücke». Stolz ist herauszulesen, wenn auf dem Balken verkündet wird: «Zu wüßen ist daß die Brug 23 schuh Länger ist dan die vor der stehete». Nicht nur Zeichen des Stolzes ist dieser Satz, sondern auch der Besessenheit vom Problem der Spannweite, die Ulrich Vogt dem Baumeister attestiert und die zu Grubenmanns Ruhm einiges beigetragen hat. Vielleicht entsteht auch deshalb bei der «Sprechenden Brücke» der Eindruck, sie werde weniger von der Umgebung vereinnahmt. Ulrich Vogt kommt eine Fotografie in den Sinn, auf der die Brücke wie eine Schmuckschatulle in der Landschaft steht, wie ein Möbel, das Schutz bietet über dem Abgrund.

In diesem Schutz nun also lässt sich gut verweilen. Die Fenster bieten Ausblicke, die Sprüchlein bieten Weit- und Rückblicke. Einmal mehr zeigt sich die Sprache als Brücke – eine Entsprechung, die auch Florian Graf umtreibt: «Sprachsysteme sind Brücken im weitesten Sinn.» Sie ermöglichen es uns, «aus Planungs- und Vorstellungsbereichen Brücken in die gesellschaftliche Realität zu schlagen». Graf denkt dabei auch zurück bis zu den ersten Grossprojekten der Menschheit, etwa  dem Bau der Arche Noah oder dem Turmbau zu Babel mit anschliessender Sprachverwirrung. Von Anfang an war die Sprache das Mittel, Gedanken, Ideen und Konzepte umzusetzen.

Ein Siphon ist auch eine Brücke

Der Wegweiser gibt zehn Minuten an bis zum Siphon und bescherte Eva Keller vor rund drei Jahren eine Wiederentdeckung. Früher führte dort oft die Familienroute vorbei, damals, als Wandern ein Muss und somit auch der Weg über die Eisentreppen am Siphon nicht positiv besetzt war. Dann gerieten der Weg und auch das Bauwerk bei der Architektin für ein paar Jahrzehnte in Vergessenheit, bevor der gelbe Wanderpfeil die Brücke in Erinnerung brachte. «Siphon» als Wegweiseraufschrift mutet skurril an, verbinden doch die meisten mit diesem Begriff etwas anderes: die einen den U-förmigen Geruchsverschluss unterhalb des Lavabos, die anderen die von Kunststoffgeräten mittlerweile längst verdrängten Glasflaschen mit Metallgeflecht und Kohlendioxidkartuschen fürs Sodawasser. Aber eine übermannshohe Rohrleitung? Mit dem Siphon kommen die mehrheitlich unterirdischen Druckwasserstollen von der Sitter zum Gübsensee an die Oberfläche. Der Gübsensee dient als Tagesspeicher für das Kraftwerk Kubel. Er versorgt das Kraftwerk mit Druckwasser, hat aber keinen natürlichen Zufluss. Über die Druckstollen wird Wasser aus Sitter und Urnäsch zum Stausee geleitet. Der Siphon führt es durch die Senke, über die Urnäsch und wieder bergauf. Das steil abfallende und auf der anderen Seite steil ansteigende Rohr mit der schmalen seitlichen Stahltreppe für die Wandernden sorgt für einiges Erstaunen. Eva Kellers Begeisterung für das gewaltige Industriebauwerk inmitten der Landschaft wird nachvollziehbar und überträgt sich auf alle. Auch Begeisterung ist eine Form von Brückenbaute.

Obacht Kultur, Heft 12

Teufens Museum

Das Zeughaus in Teufen ist neu das Grubenmann Museum, Sammlungsort der Hans Zeller Gemälde und Ausstellungsraum. Kurator des Hauses ist Ueli Vogt.

Lebte Hans Ulrich Grubenmann heutzutage, er zählte zu den Stararchitekten. Die Holzbauten des Teufeners gelten als herausragende Ingenieurleistungen und das seit zweieinhalb Jahrhunderten. Das Einzigartige, Wegweisende seiner Brücken, Kirchen und Herrschaftshäuser, die riesigen, stützenfrei überspannten Räume lassen sich vor Ort trefflich erfahren. Doch für diejenigen, die mehr wissen wollen, empfiehlt sich eine Reise in den Geburtsort des Baumeisters, genauer: ins Zeughaus Teufen.

Hier ins Zeughaus sind nicht nur sämtliche Objekte der Grubenmann-Sammlung gezogen. Im Obergeschoss des Hauses wird die Holzbaukunst umfassender und eindrücklicher präsentiert als bisher im Alten Bahnhof Teufen. Zudem ist das Zeughaus mehr als ein Museum, es ist Veranstaltungssaal, Raum für Sonderausstellungen, Gemäldesammlung und eben Ort der Grubenmann-Sammlung – ein Kulturzentrum für Teufen also.

Bereits auf dem Vorplatz zeigt sich des Hauses neue Aufgabe. Der Innerschweizer Künstler Christian Kathriner legte auf dem Asphalt eine Zeichnung an, eine Trajektorienzeichnung. Linien aus Strassenmarkierungsfarbe spannen sich über das Schwarz und verweisen auf ein grafisches Verfahren der Ingenieurkunst. Sie nehmen die strenge Symmetrie des klassizistischen Kublybaues auf und setzen mit ihrem Schwung den Betrachter in Bewegung – auf dass er die Schmalseite des Hauses erreiche und so den Eingang. Die Architekten Ruedi Elser und Felix Wettstein haben hier eine Begegnungszone geschaffen, die sich sicherlich bald auch einmal unabhängig vom Museumsbetrieb etablieren wird. Doch die Neugier aufs Innere treibt die Schritte zunächst hinein und hinauf im restaurierten hölzernen Treppenhaus.

Im ersten Stock präsentiert Ueli Vogt, Kurator des Zeughauses, die Eröffnungsausstellung ‘Ausgewogen?!‘ . Elf Künstlerinnen und Künstler setzen sich mit ‘Gewicht und Lasten‘ auseinander und entwickelten ihre Arbeiten teilweise eigens für die Ausstellung. Die Trogenerin Karin Bühler etwa bringt Grussworte von Felix Wilhelm Kubly an den Säckelmeister in Stucktechnik an die Wand. Die Zürcherin Sandra Kühne verwandelt Pläne in filigrane, im Raum hängende Gespinste und Roman Signer baut eine Luftbrücke. Alle Künstlerinnen und Künstler bieten im weitesten Sinne neue Interpretationen des Holzbauthemas – und einen Kontrast zu den Gemälden Hans Zellers.

Vier Kuben haben die Architekten in das erste Obergeschoss gestellt und zwei davon sind in Gemäldekabinette für den Landschafts- und Portrait-Maler aus Waldstatt verwandelt. Zeller (1897–1983) malte die Landschaft und die Menschen seiner Umgebung, das traditionelle dörfliche Leben und das kulturelle Brauchtum des Appenzellerlandes.  Seine Werke sind mittlerweile in eine Stiftung überführt und haben nun einen ständigen und angemessenen Platz gefunden. Sie verankern das Zeughaus einmal mehr in Teufen.

Den eigentlichen grossen Auftritt im Zeughaus erhält Hans Ulrich Grubenmann im Dachgeschoss. Hier unter den mächtigen hölzernen Balkenkonstruktionen vermittelt Ueli Vogt gemeinsam mit den Gestaltern von 2ndWest und TGG einen lebendigen, vielseitigen Blick auf den Ingenieur. Sie verzichteten hier auf den Einbau geschlossener Ausstellungskuben und nutzen den Raum bis tief unter die Dachschrägen. Die Raummitte dominiert eine nach fünf Seiten hin mal mehr, mal weniger geöffnete Kiste. Vogt vergleicht sie mit einer begehbaren Vitrine. Sie birgt die Modelle, die nicht mehr verglast sind, sondern einen Raum im Raum einnehmen und sogar überspannen. Ein Zeitstrahl zeigt eindrucksvoll die Schaffenskraft Grubenmanns. Bilderzyklen stellen Plandarstellungen, Aussen- und Innenansichten in verschiedenen Techniken und aus verschiedenen Zeiten gegenüber. Originaldokumente warten in Schubladen auf die Betrachter. Durch- und Aussichten stellen immer wieder den Kontakt zur umgebenden, realen Holzkonstruktion dar. Im 1:1 Verhältnis ist ein Stück Dachstock nachgebaut. Was keinen Platz in der Vitrine fand, wird dennoch nicht den Blicken entzogen, sondern in einem Schaulager aufbewahrt.

Besonders stolz ist Vogt auf die neu geschaffenen Arbeitsplätze in den Dachseiten. Hier kann konzentriert und werknah gearbeitet werden, am besten natürlich mit Grubenmannbezug. Aber auch allgemeiner betrachtet, gibt es im Holzbau noch viel zu erforschen. Und so wird auch die Grubenmann-Sammlung wachsen und immer wieder in neue Zusammenhänge gestellt.

Es war einmal in Amerika

Die Ausstellung „Badlands“ in der Galerie Paul Hafner zeigt neue Werke von Ueli Alder. Der Urnäscher Künstler entwickelt ein vielseitiges Porträt der vereinigten Staaten.

Ein Rudel Rehe in verschneiter Landschaft, ein paar Felsen, Nadelholzgewächse, im Vordergrund eine Strasse – bis hierher passt alles in hiesige Gefilde. Doch die Horizontlinie liegt tief. Im Hintergrund der Szenerie spannt sich eine endlos scheinende Weite. Kein Berg, kein Wald und erst recht keine Stadt fesseln den Blick. Das Vertraute wird umfangen vom Fremden, von der Leere.

Ambivalenz prägte bereits die erste Ausstellung mit Werken Ueli Alders in der Galerie Paul Hafner. Ihr Titel, „Wenn’d gnueg wiit fort goscht, bisch irgendwenn wieder of em Heeweg“, liesse sich ohne weiteres unter die grossformatige Fotografie der Landschaft mit Rehen setzen, und doch ist alles anders.

Ueli Alder zeigte vor zwei Jahren Appenzeller Motive durchsetzt von Spuren exotischer Welten: ein Tipi neben einem Bauernhaus, ein Cowboy neben Schweizer Braunvieh. Ausserdem immer wieder der Künstler als Protagonist seiner eigenen Bilder – verwandlungsfähig, echt und doch entrückt. Zweifellos hätte der Urnäscher noch lange so weitermachen können, unzählige Varianten bieten sich an, die Fotografien fanden gutes Echo. Doch Ueli Alder ist einer, der fort geht, weiter arbeitet; einer der in der Ferne gleichzeitig das Neue und sich selber finden kann.

Als er ein einjähriges Auslandstipendium erhält, entschliesst der Künstler sich, gängige Pfade zu meiden. Er begibt sich nach Chicago, reist weit herum in den Vereinigten Staaten. Im Gepäck den Blick des Europäers vom Lande. Anfangs trug er sich noch mit dem Gedanken, weiterhin als sein eigener Schauspieler zu agieren. Doch dieses Korsett warf Alder bald einmal ab. Statt auf die Selbstinszenierung richtete er seinen künstlerischen Fokus auf die Inszenierungen eines Staates und seiner Bürger, aber auch auf die beiläufigen Situationen am Strassenrand, in der Landschaft oder in der eigenen Wohn- und Arbeitsgemeinschaft.

Alder zeigt dabei sowohl Gespür für die Aussagekraft einer Szene als auch für ihre visuelle Qualität. So kontrastieren verrostete Eisenbahnachsen mit silbrig schimmernden Zügen vor strahlend heller Skyline und wirken trotz ihrer Patina und Reglosigkeit als einzig mobiles Element im Bild. Vor einem Mahnmal mit tarngrünem Kriegsgerät lädt ein Kinderspielplatz mit blauer Reifenschaukel zum Spielen ein, oder auch nicht. Alder sucht diese Motive nicht, er findet sie auf seinen Fahrten durch das Land, auf Streifzügen durch die Grossstadt. Er hält die Augen offen und findet bauliche Überreste, Vergessenes und Unbeachtetes. In der Ausstellung stehen die analog entstandenen Aufnahmen entweder für sich oder werden in vielsagenden Diptychen oder Reihen kombiniert.

Religiöse Symbole wie das Kreuz mischen sich mit bedeutungsvoll eingesetzten Archetypen wie der Pyramide. Organisches Material wuchert in gemauerter Umgebung und trifft sich mit gestapelten Absperrungsgittern vor dem Washingtoner Kapitol – hier sind die Einzelteile komprimiert, dort wachsen sie zu einem Objekt zusammen. In den Innenraumaufnahmen entspinnen sich Dialoge auf engstem Raum, dem Arbeitsraum des Künstlers. Von hier kehrte er mit vielen Tausend Negativen zurück. Die Ausstellung „Badlands“, in sich geschlossen und stimmig, ist ein einzelnes Destillat aus dieser Menge. Des Künstlers Arbeit am Konvolut geht indessen weiter, er wird analysieren, suchen und Arbeitsanstösse weiterentwickeln.

Die Ausstellungsbesucher aber sollten sich das Video nicht entgehen lassen, dass sie noch einmal mit auf die Reise nimmt – in die Weite, in die Leere, ziellos und doch erfüllt.

Adieu in der Lokremise

Mit einem Abend aus neun Stücken verabschieden sich das Contemporary Dance Study Program und die 3 x 1 Tanzkompanie in der Lokremise.

Es ist ein Abschied ohne Tränen, aber nicht ohne Gefühle. Ein Abschied, der gefeiert wird, und der dennoch den Verlust offenbart, den er bedeutet. Nach 21 Jahren Arbeit verabschieden sich das Contemporary Dance Study Program und die 3 x 1 Tanzkompanie mit dem eigens entwickelten Projekt „Abschied“ in der Lokremise. Statt eines metaphernschweren Stückes werden mit viel Schwung neun kurze Choreographien getanzt. Das Abschiedsthema wird dabei mal deutlicher, mal vage berührt und dient letztlich nur als thematische Klammer, um einmal mehr den Tanz selbst in den Mittelpunkt zu stellen.

Als formale Klammer des Abends wirken die Tänzerinnen selbst mit ihrer Präsenz auch zwischen den Stücken. Die Bühne ist nach allen Seiten hin offen, der vorhandene Raum in der Lokremise wird vollständig genutzt und so erlebt das Publikum die kurzen, bühnenseitigen Absprachen der fünf Tänzerinnen, ihre unbeschwerten Standort- und Kostümwechsel mit. Nicht immer wirkt die Unbeschwertheit ganz echt, mitunter werden die Grenzen zwischen Inszenierung und Zwischenspiel bewusst verwischt. Doch stets überrascht, wie Marula Eugster, Karin Hollenstein, Selina Minder, Sue Zolliger und Fabienne Zubler nach dem lockeren Nebeneinander am Bühnenrand wieder mühelos zur Konzentration übergehen, wie sie ein perfekt durchgearbeiteten Tanz präsentieren.

Der „Abschied“ beginnt mit einer Begrüssung. Zu Frank Sinatras „Hello“ fliessen Elemente des klassischen Revuetanzes in eine leichtfüssige Choreographie rund um eine Malerleiter ein. Sodann verwandeln sich die Tänzerinnen in Vamps, die den Abschied aus der Gruppe testen um sich in der Zweisamkeit wiederzufinden. Mit Paarkonstellationen in brombeerfarbenen Tüllkleidern geht es weiter. Aktive und passive Haltungen ergeben spannungsvolle Duette. Wie in sämtlichen Stücken geht es auch hier nicht so sehr darum, Bilder zu entwickeln oder Geschichten zu erzählen, sondern dem Tanz Leben einzuhauchen. Zitate des klassischen Tanzes kontrastieren mit akrobatischen Sprüngen, kraftvolle Dynamik findet ihren Widerpart im sanften Berühren,  feminine Haltungen gipfeln in fliessenden, raumgreifenden Bewegungen. Letzteres wird im „Solo“ von Fabienne Zubler zelebriert, bei ihr ist bis zum Innehalten jede Geste eine Augenweide.

Die fünf Tanzstudentinnen legen ihr ganzes Wesen, ihr ganzes Gefühl in den Tanz und schaffen es gleichzeitig, nicht nur als Individuum zu agieren, sondern im Miteinander mal zarte Beziehungsgespinste, mal eruptive Spannungen darzustellen. In luftigen Kleidern verleihen sie in „Chairs“ selbst dem allerletzten Abschied eine Spur Leichtigkeit. Das energiegeladene „Memoirs“ hingegen spart auch aggressive Gesten nicht aus. Die flüchtigen Erinnerungen werden von bildhaften Andeutungen getragen mit Präzision bis in die Fingerspitzen.

Eine der Choreographien wurde Eugster und Hollenstein selbst entwickelt, die Tänzerinnen agieren dabei als gegenseitige Impulsgeber, sie nähern sich einander an, verstossen sich und kommen wieder zueinander. Neben den Tempowechseln überzeugen auch der sorgfältig austarierten Bewegungsvolumen. Im vorletzten Stück wird es dann noch überraschend klamaukig. Zu Bellinis Norma, gesunden von Maria Callas, wird das Pathos der Diva hinterfragt. Ein grosses grünes Tuch verwandelt sich und die Tänzerinnen, es wird zum Kleid, zum Schleier, zum Leichentuch.

Schliesslich sind die Taschen gepackt, nach den vielen kleinen Abschieden naht das letzte Adieu. Für die hervorragend ausgebildeten Tänzerinnen jedoch wird es weitergehen, es wäre schön, sie auch einmal wieder auf hiesigen Bühnen zu sehen.

——————————–

Rut Ackermann gründete 1991 die 3 x 1 Tanzkompanie als Sprungbrett für junge TänzerInnen und ChoreografInnen. Gleichzeitig startete die 3-jährige Vollzeitausbildung Contemporary Dance Study Program als Tanzstudium für zeitgenössischen Bühnentanz. Nach 21 Jahren beendet Ackermann nun dieses Programm vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Akademisierung der Ausbildung und den konkreten Plänen von Schweizer Hochschulen auch hierzulande einen Bachelor in zeitgenössischem Tanz zu etablieren. Ruth Ackermann wird auch in Zukunft ganz für das Rorschacher Danceloft aktiv bleiben.

Heimspiel zweier St. Gallerinnen

Nora Rekade und Valentina Stieger kehren für eine Ausstellung in ihre Heimatstadt zurück. Unter dem Titel „Petting“ bespielen sie die Galerie vor der Klostermauer.

Scheusslich oder schön oder scheusslich schön? So manches Stoffdesign der achtziger Jahre schied schon in seiner Zeit die Gemüter. Und bis heute stellen die Farbkombinationen von violett, türkis und lindgrün das Auge auf die Probe. Auch die Muster entziehen sich jeder Beschreibung. Mal wirken sie technikinspiriert, mal wimmelt exotisch Florales, mal wird auf unbestimmte malerische Elemente verwiesen. Vor allem der abstrakte Expressionismus scheint immer wieder Pate gestanden zu haben. Aber warum? Welche Idee steht hinter den Zitaten impulsiver Pinselstriche oder formloser Farbwolken? Was riefen sie beim damaligen Käufer hervor? Wurde mit den Kunstanklängen versucht, den billig hergestellten Stoffen eine höherwertige Ästhetik zu verleihen?

Solche und ähnliche Fragen um die Absicht von Imitaten und um das Vermitteln von Wertigkeiten kommen in der aktuellen Ausstellung in der Galerie vor der Klostermauer immer wieder in den Sinn. Materialien werden auf ihren Sinngehalt hin geprüft, werden auf- und entwertet, Täuschungen werden entlarvt, um gleich danach neue Irritationen zu schaffen. Nora Rekade und Valentina Stieger zeigen die Vielseitigkeit und das Potential der materialästhetischen Verwirrspiele.

Wo das Pathos des amerikanischen Expressionismus der Haushaltswäsche einverleibt wird, dreht die in Basel lebende Valentina Stieger den Spiess um und zieht den Kissenbezug auf Keilrahmen und überzieht ihn mit Lackfirnis. Oder sie beklebt einen Vierkantstab mit blau marmorierter Folie. So entlarvt sie in der Form nicht nur die Materialillusion, sondern bringt zugleich einen hintersinnigen Kommentar zu Blinky Palermo an. Einem Sehnsuchtsposter mit Palmenstrand vor Sonnenuntergang verleiht sie mit Sprühschnee einen frostigen Hauch. Mit Mehrfarbenbuntstiften in Neontönen überzieht sie eine Holzplatte, so dass ein irisierender, dreidimensionaler Effekt entsteht. Ein zerknittertes Durchdruckpapier entführt in die unendliche Tiefe des Raumes und korrespondiert damit aufs Beste mit Werken aus dunklen Veloursstoffen mit geheimnisvollen Farbspuren – Arbeiten von Nora Rekade.

Die in wie Stieger in St. Gallen geborene, aber in Wien lebende Künstlerin hat die flauschigen Stoffe verzwirbelt, mit Farbe besprüht und wieder geglättet. Sie sind einfach an die Wand gepinnt oder liegen gerahmt und teilweise verglast auf dem Boden. Sie schimmern und glänzen, sie reflektieren das Licht oder schlucken es in undurchdringlicher Faserdichte. Die Farbflecken flackern wie Nordlichter im Nachthimmel oder Schatten in der Finsternis über das Dunkel der Stoffe.

Die Arbeiten vereinen die Reminiszenz an kostbare Gewebe mit der Existenz billiger Dekorstoffe und sind spielen zugleich mit kunsthistorischen Kategorien: Indem Nora Rekade die Stoffe besprüht und auf unterschiedliche Weise, niemals jedoch wie ein klassisches Tafelbild präsentiert, nähert sie sich Erwartungen an, umkreist, umgeht und hinterfragt sie. Dies gilt auch für andere Arbeiten Rekades etwa den Stecken aus Betonguss, der wiederum einen Dialog mit Stiegers Klebefolienstab aufnimmt. Diese Parallelen, Querverweise und Gegenüberstellungen verzahnen die Werke der beiden Künstlerinnen im Ober- und Erdgeschoss der kleinen Galerie. Auch zwei stockwerkgetrennte monografische Präsentationen wären in den Räumen möglich gewesen, oder sogar eine gemeinsam entwickelte installative Arbeit. Stattdessen haben beide einen spannungsreichen Parcours entworfen, der immer wieder mal die Frage aufwirft, was ist denn nun von wem. Im Sinne des Ausstellungstitels können sich die Arbeiten gedanklich berühren, ertasten, erspüren.

Transit

Eine kleine Öffnung in der Tür auf Augenhöhe verheisst Einblicke mit Sicherheitsabstand. Doch im „Alpenblick“ ist das anders. Annina Frehner hat zwar Öffnungen in die Türen des ehemaligen Kurhauses und Durchgangszentrums gefräst, aber sie geben den Blick aber nicht in Zimmer oder gar Zellen frei, sondern in die Landschaft. Jedes der Rechtecke mündet in einen Schacht, der sich dem Fensterformat entsprechend ins Freie hinein öffnet. Die Künstlerin überbrückt eine Raumebene und bringt die Betrachtenden näher an die Aussenwelt und an die Landschaftsausblicke der ehemaligen Hausbewohnerinnen und -bewohner heran. „Transit“ ermöglicht nicht nur Durchblicke, sondern lässt innehalten und für diesen Moment die Durchgehenden, die Asylsuchenden näher kommen. Rezipienten sehen sich in derselben Aussichtssituation wie die ehemaligen Bewohner und Bewohnerinnen des Hauses. Statt mit dem Guckloch die Tür für einen observierenden oder neugierigen Blick auf ein fremdes Interieur zu öffnen, sprengt die Künstlerin die räumliche Enge des Bauwerkes und eröffnet Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsräume.

Kurztext Kulturlandsgemeinde

Durchsehen im Durchgangsheim

Zwanzig Jahre lang war der „Alpenblick“ ein Durchgangsheim für Asylbewerber. Erbaut wurde das Haus als Kurhotel, seit zwei Jahren steht es leer. Der ursprüngliche Zweck prägte das Gebäude ebenso wie die vorübergehend einquartierten Bewohner. Annina Frehner hat sich mit dieser heterogenen Vergangenheit und der Lage des „Alpenblicks“ und den Menschen darinnen auseinandergesetzt.

Für die Kulturlandsgemeinde entwickelte die 1983 in Winterthur geborene und seit einem Jahr in Leipzig wohnende Künstlerin eine vieldeutige Arbeit, die Sinne und Gedanken gleichermassen anregt. Wer sich ins zweite Stockwerk des Baues begibt, findet sich in einem Gang wieder mit je fünf Türen zu beiden Seiten. In jeder der Türen erlaubt ein rechteckiges Guckloch auf Augenhöhe nicht den erwarteten Einblick in ein Zimmer, sondern einen Ausblick in die umgebende Landschaft. Jedes der Rechtecke mündet in einen Schacht, dessen anderes Ende dem Fensterformat entspricht und in Richtung Bodensee oder in die Ausserrhodische Hügellandschaft offen ist. Wind weht herein und Geräusche dringen herauf. Betrachter und Betrachterin sehen sich unmittelbar in derselben Aussichtssituation wie die ehemaligen Bewohner und Bewohnerinnen des Hauses. Statt mit dem Guckloch die Tür für einen observierenden oder neugierigen Blick auf ein fremdes Interieur zu öffnen, konfrontiert Frehner die Betrachtenden mit Fragen, die je nach persönlicher Erfahrung und Haltung ganz unterschiedlich ausfallen können:

Haben die ehemaligen Bewohner und Bewohnerinnen den Ausblick genossen? Entsprach er ihren Erwartungen? Haben sie ihn überhaupt wahrgenommen? Was hat er ihnen vermittelt? Wie mag es sich anfühlen, aus diesem Haus, vor dem persönlichen Schicksal in diese vielbesuchte Landschaft zu blicken?

Annina Frehner überbrückt mit ihrem Werk „Transit“ nicht nur die räumliche Ebene, indem sie das Zimmer zwischen Tür und Fenster verschwinden lässt, sondern sie bringt uns gleichzeitig näher an die ehemaligen Hausbewohner und -bewohnerinnen heran, seien es die Kurgäste oder die Asylsuchenden. Letztere sind auch auf andere Weise Teil der Arbeit. Die Künstlerin arbeitete für den Bau der Rauminstallation mit Bewohnern des Durchgangszentrums Landegg zusammen. Seit der „Alpenblick“ geschlossen wurde, finden Asylbewerber dort ihre zeitweilige Unterkunft. Indem Frehner auf deren Arbeitskraft zurückgriff, stellt sie ihr Werk in einen weiteren Kontext. Neben dem künstlerischen, konzeptionellen Hintergrund, erhält es damit auch eine soziale Komponente. Es ermöglichte Kommunikation und Partizipation mit jenen Menschen, die inhaltlich Teil ihrer Arbeit sind, die aber am Kunsterleben sonst kaum teilhaben.

Annina Frehner sprengt mit den zehn Schächten in zehn Zimmern nicht nur die räumliche Enge des Bauwerkes und seiner Zimmer, sie öffnet Denk- und Handlungsräume für die Mitarbeitenden und die Betrachter und Betrachterinnen ihres Werkes.

Kulturlandsgemeindebeitrag

Alpenblick mit Fernsicht

Annina Frehner entwickelte eigens für die Kulturlandsgemeinde 2012 eine künstlerische Intervention. Das Werk wird ein Wochenende lang im Alpenblick zu sehen sein und setzt sich mit der Geschichte des Hauses auseinander.

Eine Tür mit einer postkartengrossen, rechteckigen Öffnung auf Augenhöhe – wer davor steht, vermutet dahinter einen Innenraum, oder genauer eine Zelle. Das Fensterchen erlaubt Einblicke ohne Konfrontation oder Kommunikation mit Sicherheitsabstand. Es dient als Schleuse zwischen dem Rauminneren und der Aussenwelt, zwischen den Eingeschlossenen und ihrem Gegenüber. Doch auch wer draussen ist, ist drinnen, gehört das Grosse und Ganze besehen dazu: Wer durch diese kleine Öffnung der Tür blickt, tut dies vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen, Erwartungen oder Wahrnehmungsmuster.

Annina Frehner bringt dies auf ebenso subtile wie durchdachte Weise zu Bewusstsein. Eigens für die Kulturlandsgemeinde 2012 hat die junge, 1983 in Winterthur geborene Künstlerin die Arbeit „Transit“ entwickelt, die mit den Kategorien von innen und aussen spielt und dabei fast beiläufig einen punktgenauen Kommentar zum Kulturlandsgemeindethema „ich bin so frei“ liefert.

Betritt der Betrachter das zweite Stockwerk des „Alpenblicks“ in Wienacht-Tobel, befindet er sich an einem Ende eines Ganges mit je fünf Türen zu beiden Seiten. Annina Frehner hat in jeder der Türen ein rechteckiges Guckloch auf Augenhöhe ausgefräst. Sie geben den Blick aber nicht in Zimmer oder gar Zellen frei, sondern in die Landschaft. Jedes der Rechtecke mündet in einen Schacht, der sich dem Fensterformat entsprechend ins Freie hinein öffnet: in Richtung Bodensee oder ins benachbarte Heiden, weit über die Ausserrhodische Hügellandschaft. Statt in die kleinen Räume des ursprünglich als Kurhaus erbauten und für 20 Jahre lang als Durchgangszentrum für Asylsuchende genutzten Hauses kann durch die Zimmer hindurch geblickt und jene Aussicht wahrgenommen werden, die auch die Bewohner und Bewohnerinnen des Alpenblicks vor Augen hatten. Ja mehr noch, die Schächte lassen den Wind hinein und die Geräusche der Umgebung.

Waren es in der Malerei der Romantik die Rückenfiguren, die es den Betrachtenden erlaubten, die Grenzen des Bildes zu überwinden, sich hineinzuversetzen ins (Natur-)geschehen, so überbrückt Annina Frehner mit den engen Schächten eine Raumebene und bringt die Betrachtenden näher an die Aussenwelt und auch an die Landschaftsausblicke der ehemaligen Hausbewohnerinnen und -bewohner heran.

Letztere sind auch auf andere Weise nicht nur Thema, sondern auch Teil der Arbeit. Annina Frehner arbeitete für den Bau der Rauminstallation mit Bewohnern des Durchgangszentrums Landegg zusammen. Seit der „Alpenblick“ vor zwei Jahren geschlossen wurde, finden Asylsuchende dort ihre zeitweilige Unterkunft. Die seit einem Jahr Jahren in Leipzig wohnende Künstlerin griff für „Transit“ auf die Arbeitskraft der Gipser, Maler, Musiker oder Automechaniker zurück, die in der Landegg auf ihren Asylbescheid warten. Frehners Projekt ist also nicht nur inhaltlich mit den Menschen verbunden, die sonst nie am Kunstsystem partizipieren würden, sondern entstand mit ihrer Hilfe. Kunst wird so zum Mittel, Kommunikation in Gang zu setzen oder soziale Beziehungen aufzubauen.

Es ist das erste Mal, dass Frehner ein Werk in einem konkreten sozialen Kontext verwirklicht und zugleich ein langgehegter Wunsch der Künstlerin. Gleichzeitig ist der Einbezug marginalisierter Gruppen kein ausreichendes Argument, um die Künstlerin dem Topos des Sozialarbeiters zuzuordnen, mit dem in den 1990er Jahren viele Kunstschaffende identifiziert wurden. Annina Frehner verfolgt zugleich ein künstlerisches, ein gestaltendes Konzept. Sie setzt sich mit klassischen Medien auseinander und entwickelt eine inhaltlich und formal schlüssige Arbeit. Auch die Materialwahl ist in allen Aspekten durchdacht. Die Pressspanplatten entsprechen dem Zustand des stark genutzten Gebäudes und werden im Anschluss an die Kulturlandsgemeinde in der Landegg als Arbeitsmaterial genutzt werden können. Auch wenn „Transit“ nur wenige Tage zu sehen sein wird: Frehner erreicht mit ihrer Arbeit nachhaltige Wirkung bei allen Beteiligten.