Alpenblick mit Fernsicht

by Kristin Schmidt

Annina Frehner entwickelte eigens für die Kulturlandsgemeinde 2012 eine künstlerische Intervention. Das Werk wird ein Wochenende lang im Alpenblick zu sehen sein und setzt sich mit der Geschichte des Hauses auseinander.

Eine Tür mit einer postkartengrossen, rechteckigen Öffnung auf Augenhöhe – wer davor steht, vermutet dahinter einen Innenraum, oder genauer eine Zelle. Das Fensterchen erlaubt Einblicke ohne Konfrontation oder Kommunikation mit Sicherheitsabstand. Es dient als Schleuse zwischen dem Rauminneren und der Aussenwelt, zwischen den Eingeschlossenen und ihrem Gegenüber. Doch auch wer draussen ist, ist drinnen, gehört das Grosse und Ganze besehen dazu: Wer durch diese kleine Öffnung der Tür blickt, tut dies vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen, Erwartungen oder Wahrnehmungsmuster.

Annina Frehner bringt dies auf ebenso subtile wie durchdachte Weise zu Bewusstsein. Eigens für die Kulturlandsgemeinde 2012 hat die junge, 1983 in Winterthur geborene Künstlerin die Arbeit „Transit“ entwickelt, die mit den Kategorien von innen und aussen spielt und dabei fast beiläufig einen punktgenauen Kommentar zum Kulturlandsgemeindethema „ich bin so frei“ liefert.

Betritt der Betrachter das zweite Stockwerk des „Alpenblicks“ in Wienacht-Tobel, befindet er sich an einem Ende eines Ganges mit je fünf Türen zu beiden Seiten. Annina Frehner hat in jeder der Türen ein rechteckiges Guckloch auf Augenhöhe ausgefräst. Sie geben den Blick aber nicht in Zimmer oder gar Zellen frei, sondern in die Landschaft. Jedes der Rechtecke mündet in einen Schacht, der sich dem Fensterformat entsprechend ins Freie hinein öffnet: in Richtung Bodensee oder ins benachbarte Heiden, weit über die Ausserrhodische Hügellandschaft. Statt in die kleinen Räume des ursprünglich als Kurhaus erbauten und für 20 Jahre lang als Durchgangszentrum für Asylsuchende genutzten Hauses kann durch die Zimmer hindurch geblickt und jene Aussicht wahrgenommen werden, die auch die Bewohner und Bewohnerinnen des Alpenblicks vor Augen hatten. Ja mehr noch, die Schächte lassen den Wind hinein und die Geräusche der Umgebung.

Waren es in der Malerei der Romantik die Rückenfiguren, die es den Betrachtenden erlaubten, die Grenzen des Bildes zu überwinden, sich hineinzuversetzen ins (Natur-)geschehen, so überbrückt Annina Frehner mit den engen Schächten eine Raumebene und bringt die Betrachtenden näher an die Aussenwelt und auch an die Landschaftsausblicke der ehemaligen Hausbewohnerinnen und -bewohner heran.

Letztere sind auch auf andere Weise nicht nur Thema, sondern auch Teil der Arbeit. Annina Frehner arbeitete für den Bau der Rauminstallation mit Bewohnern des Durchgangszentrums Landegg zusammen. Seit der „Alpenblick“ vor zwei Jahren geschlossen wurde, finden Asylsuchende dort ihre zeitweilige Unterkunft. Die seit einem Jahr Jahren in Leipzig wohnende Künstlerin griff für „Transit“ auf die Arbeitskraft der Gipser, Maler, Musiker oder Automechaniker zurück, die in der Landegg auf ihren Asylbescheid warten. Frehners Projekt ist also nicht nur inhaltlich mit den Menschen verbunden, die sonst nie am Kunstsystem partizipieren würden, sondern entstand mit ihrer Hilfe. Kunst wird so zum Mittel, Kommunikation in Gang zu setzen oder soziale Beziehungen aufzubauen.

Es ist das erste Mal, dass Frehner ein Werk in einem konkreten sozialen Kontext verwirklicht und zugleich ein langgehegter Wunsch der Künstlerin. Gleichzeitig ist der Einbezug marginalisierter Gruppen kein ausreichendes Argument, um die Künstlerin dem Topos des Sozialarbeiters zuzuordnen, mit dem in den 1990er Jahren viele Kunstschaffende identifiziert wurden. Annina Frehner verfolgt zugleich ein künstlerisches, ein gestaltendes Konzept. Sie setzt sich mit klassischen Medien auseinander und entwickelt eine inhaltlich und formal schlüssige Arbeit. Auch die Materialwahl ist in allen Aspekten durchdacht. Die Pressspanplatten entsprechen dem Zustand des stark genutzten Gebäudes und werden im Anschluss an die Kulturlandsgemeinde in der Landegg als Arbeitsmaterial genutzt werden können. Auch wenn „Transit“ nur wenige Tage zu sehen sein wird: Frehner erreicht mit ihrer Arbeit nachhaltige Wirkung bei allen Beteiligten.