Auf neuen Pfaden durch Appenzellische Traditionen
by Kristin Schmidt
Vanessá Heer lebt seit Februar als Stipendiatin der Dr. René und Renia Schlesinger Stiftung im Atelierhaus Birli im ausserrhodischen Wald. In ihrer aktuellen Ausstellung in der Kunsthalle Wil unterwandert sie einen alten Brauch des Appenzellerlandes mit neuen Gesten, Gesängen und Beteiligungen.
Wil — Zöpfe sind hübsch. Zöpfe sind praktisch. Zöpfe sind ein Politikum. Immer wieder in der Weltgeschichte wurden sie verordnet oder verboten. Heute tauchen sie in Parlamentsdebatten vor allen als alte Zöpfe auf, die abgeschnitten werden sollen: Mit der Redewendung wird die Abkehr von überholten Einrichtungen oder Bräuchen gefordert. Vanessà Heer (*1989) will alte Bräuche nicht gleich abschaffen. Aber sie will sie öffnen für zeitgemässe Sichtweisen und neue Beteiligungen. Die in der Ostschweiz aufgewachsene Zürcherin widmet sich insbesondere dem Silvesterchlausen im Appenzellerland. Die Tradition dieses Brauches ist spätestens seit dem 17. Jahrhundert schriftlich verbürgt. Damals zogen verkleidete Gruppen am Nikolaustag polternd und scheppernd durch das Land. Seither hat sich der Brauch mehrfach gewandelt. Was geblieben ist: Er gilt als ausgesprochene Männerangelegenheit, so ist es auch in den Ausführungen in der Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz festgehalten. Muss das so sein? Muss das so bleiben? War das wirklich immer so? Lustvoll unterwandert Vanessá Heer ungeschriebene Gesetze. Sie hat einen Schuppel – appenzellisch für Gruppe – gegründet und ist damit zu fünft durch den Alpstein gezogen. Gemeinsam wurden Verkleidungen entworfen, Choreografien und Kompositionen entwickelt. Heer ist von Naturtönen und -klängen fasziniert und hat mit der Gruppe neue Gesänge ausprobiert. Zugleich setzte sich der Schuppel in Gesprächen mit dem Brauchtum auseinander und erinnerte sich an den Kampf um das Frauenstimmrecht, in dem der Ostschweizer Künstler H.R. Fricker (1947–2023) eine besondere Rolle spielte. All das ist in einem Video festgehalten. In der Kunsthalle Wil wird es auf eine grosse Leinwand projiziert. Damit steht es im räumlichen Zentrum der Ausstellung, zugleich ist es gleichberechtigter Teil einer raumgreifenden Installation: Zöpfe aus Flachs, Hanf, Sisal, Wolle oder Haaren liegen auf dem Boden der Kunsthalle, hängen über den Stahlträgern des Obergeschosses, schlängeln sich auf dessen Brüstung und entlang des Geländers. Sie winden sich aus dem Fenster heraus und wieder hinein in den Ausstellungsraum. Sie sind mehrere Meter lang oder kurz und buschig, mit eingeflochtenen Gräsern, Blüten oder Zweigen. Sie stehen für die Kulturgeschichte des Zopfes einerseits und für das starke, gut miteinander verbundene, sichtbare und keineswegs ausschliesslich männliche Kollektiv.
«Vanessà Heer – Vo Schand und Schuppel», Kunsthalle Wil, bis 6. Oktober
kunsthallewil.ch