Marcel van Eeden — Investigative Kunst
by Kristin Schmidt
Das Kunst Museum Winterthur wird zum Auftraggeber für Kunst: Marcel van Eeden hat für die Villa Flora eine Zeichnungs- und Fotoserie erarbeitet. Er widmet sein künstlerisches Interesse der früheren Hausherrin Hedy Hahnloser. Van Eedens Projekte basieren auf gründlichen Recherchen und vielfältigen Bildquellen. Er fügt historische Zeitungsausschnitte, Postkarten, Magazine, Werbematerialien und Fotos zu Bilderzählungen. Sie sind stets vor dem Jahr 1965 angesiedelt, dem Geburtsjahr des Künstlers, und liefern dichte Porträts aus der zeit des frühen 20. Jahrhunderts.
Wer die Ausstellungsräume der vor kurzem wieder eröffneten Villa Flora betritt, wird von einem heiteren Porträt ebendieser Villa begrüsst. Henri Charles Manguin hat es 1912 gemalt. Er bettet das Haus hat das Haus von Hedy und Arthur Hahnloser ins dunkelgrüne Laub der Bäume, zwischen Blumenrabatten und einer Pergola. Freundlich weiss leuchtet die Fassade unterm orangeroten Dach. Die Gegenthese zu dieser Idylle findet sich ein Stockwerk darüber. Dort zeigt Marcel van Eeden derzeit eine andere Sicht auf ‹Die Villa› – so der Titel seiner Arbeit für das Winterthurer Museum. Das erste Blatt der Serie stimmt ein auf alle folgenden: Die Buntfarben fehlen, ebenso die Bäume und der Garten. Scharf hebt sich das Weiss der Fassade vom Schwarz der Fensteröffnungen ab. Auch die Veranda liegt vollständig im Dunklen. Düster und abweisend präsentiert sich das Wohngebäude, bezeichnet ist es im Stil der Stummfilmzeit mit der Texteinblendung «The Villa». Und wie in einem Film beginnt mit diesem Bild eine Erzählung. Sie führt ins frühe 20. Jahrhundert zurück, springt ins Jahr 1958 und wieder zurück.
Bilder und Texte aus der Vergangenheit
Keines der Werke von Marcel van Eeden spielt nach 1965, dem Jahr seiner Geburt. Es gehört zur konzeptuellen Auseinandersetzung des Künstlers mit Geschichte, die Vergangenheit aus der Gegenwart zu betrachten – eine Vergangenheit, in der er selbst noch nicht auf der Welt und also ins Geschehen nicht involviert war. Aus dieser Distanz beobachtet er die Geschichtsschreibung, registriert Konstrukte und legt sie dar, fügt hinzu und hebt heraus. Für das Winterthurer Projekt stellt er Hedy Hahnloser in den Mittelpunkt seiner Arbeit: «Ich habe das Buch über Hedy Hahnloser gelesen und nach Haken und scharfen Kanten in der Geschichte gesucht. Irritierend ist beispielsweise das Verhältnis von Hedy Hahnloser zu ihrem Vertrauensarzt Heinrich Zangger. Ich habe die These entworfen, dass sich Rainer Maria Rilke, Hahnloser, Zangger und Albert Einstein getroffen haben.» Es ist belegt, dass Rilke in Winterthur gelesen hat: «Ein voller Raum mit vielen Leuten ist also sehr wahrscheinlich.» Der Schriftsteller sprach 1919 im Casinotheater über Cézanne. Marcel van Eeden lässt ihn jedoch über die Sphinx sprechen und verwendet dafür Textstücke aus den ‹Duineser Eelgien›: «Alle Texte der Serie sind Zitate, die ich zusammen gefügt habe zu einer Geschichte. Ich verwende stets existierende Quellen.» Hier gilt das gleiche Prinzip wie bei den Bildquellen: «Die Texte sind nie jünger als ich und nie von mir selbst.»
Im Strom der Zeit bleiben
Er fügt kurze Fragmente aus profanen Quellen zu neuen Texten zusammen, zitiert Tagebucheinträge, Briefe und Lyrik. So sind in ‹Die Villa› zwei Strophen aus Else Lasker-Schülers Gedicht ‹Die Sphinx› zu lesen im Rahmen eines Textes, der sonst Petrarca zitiert. Marcel van Eeden ist es einerseits wichtig, Frauen zu Wort kommen zu lassen, andererseits wird mit der expressionistischen Literatin ein weiterer Bezug zur Moderne gesetzt – zu jenen künstlerischen Kreisen, in denen das Ehepaar Hahnloser verkehrte. Was heute als Klassische Moderne bezeichnet wird, war damals dezidiert zeitgenössisch und genau aus diesem Grund interessant für Hedy Hahnloser. Ihre Kunstsammlung ist in der Auseinandersetzung künstlerischen Strömungen ihrer Zeit entstanden. Daran knüpft das Kunst Museum Winterthur mit der aktuellen Ausstellung in der Villa Flora an: Um das Haus und die Sammlung lebendig zu halten, sollen regelmässig Künstlerinnen und Künstler eingeladen werden, ihre aktuelle Sicht auf den Ort zu zeigen und ihn so mit der heutigen Zeit zu verbinden. Marcel van Eeden ist der erste in dieser Reihe. Thematisch hatte er völlig freie Hand und merkte schnell, wie gut sich die Auseinandersetzung in seine künstlerische Arbeit fügt.
Anlässlich der Verleihung des Hans-Thoma-Preises 2023, der seit van Eedens künstlerischen Rechercheergebnissen in Landespreis für Bildende Kunst Baden-Württemberg umbenannt ist, deckte der Künstler die engen Verbindungen zwischen dem Maler und dem antisemitischen Kulturkritiker August Julius Langbehn auf: «Ich bin auf die Freundschaft zwischen Hans Thoma und Julius Langbehn gestossen. Daraus ergab sich für meine Arbeit das Thema des Nationalsozialismus. Daran schliesst die Winterthurer Arbeit an, weil Heinrich Zangger wieder vorkommt.» Heinrich Zangger war ein Schweizer Gerichtsmediziner und setzte sich für Arbeitssicherheit, Katastrophen- und Umweltschutz ein. Van Eeden benennt jedoch auch dessen andere, oft negierte Seite: Zangger pflegte Beziehungen zu NS-Ärzten und gehörte zu den Mitbegründern der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission in Berlin, die später Teil der Gestapo wurde. Und er hatte Verbindungen zu Winterthur: «Heinrich Zangger war in gewisser Weise der Dealer für Hedy Hahnloser. Sie hat immer nach Heilung gesucht und er hat ihr Schmerz- und Schlafmittel verschrieben.» In van Eedens Serie ist unter anderem ein Porträt Zanggers wiedergegeben, ein Brief Einsteins an Zangger und ein Zitat aus Zanggers Schriften zur Rassentheorie. Aber Hedy Hahnloser schafft es schliesslich, sich von ihrem Hausarzt zu distanzieren. Dies verknüpft Marcel van Eeden mit Hedy Hahnlosers Reise nach Ägypten: Inspiriert von Rilkes Worten und begleitet von der letzten Strophe von Else Lasker-Schülers Gedicht, macht sich die Winterthurer Kunstsammlerin auf, um die Sphinx zu sehen. Zuvor haben viele andere Personen kurze Auftritte in der 46-teiligen Serie.
Eine fiktive Rahmenhandlung
Es entfaltet sich ein dichtes Gewebe aus Orten, Gedanken, Begegnungen. Alles ist eingebettet in Marcel van Eedens charakteristische Bildsprache. Der Künstler zeichnet mit Negrostift, einer Mischung aus Kohle und Bleistift. Die Linien sind weich, Schattierungen mildern selbst starke Kontraste. Die mit vielen Graunuancen durchsetzte Schwarz-Weiss-Ästhetik passt zu den historischen Quellen und gleicht oft derjenigen der frühen Fotografie. Damit gehen die Zeichnungen und Fotografien in der Serie eine perfekte Symbiose ein: Marcel van Eeden arbeitet seit einiger Zeit mit dem Gummidruckverfahren aus der Frühzeit der Fotografie: «Ich benutze für meine Fotografien die alte Technik, weil ich sie zu Hause selbst anwenden kann. Ich will alles mit eigenen Händen machen.» Fotografiert hat der Künstler selbst im Umfeld der Villa Flora, siedelt die Fotografien jedoch in einer Rahmenhandlung im Jahr 1958 an: Er lässt eine unbestimmte Person zur Geschichte der Hahnlosers recherchieren.
Die Fotografien sind innerhalb der vier Räume umfassenden Ausstellung in einem Raum zusammengefasst, aber inhaltlich und motivisch verschränkt sich die Bilderzählung immer wieder. Und sie wird auch in situ mit der Villa Flora und der Sammlung verbunden: Perfekt fügen sich die Blätter in den kleinräumigen Wohnteil des Hauses mit seinem Täfer, den Wandschränken, den Holzjalousien. Und nahe einer der Sphinx-Zeichnungen ist das ‹Ritratto di Madame Hahnloser›, 1944 von Marino Marini platziert. Mehrmals wiederum taucht Hedy Hahnloser auch in den Zeichnungen van Eedens auf – unter anderem neben einer Sphinx.
Immer wieder wurde die grosse Sammlerin selbst zum künstlerischen Sujet. Mit van Eedens sorgfältig recherchierter Bilderzählung wird sie in ihrem Haus als eigenständige Persönlichkeit mit vielfältigen Interessen und einem reich verzweigten Bekanntenkreis und gewürdigt.
→ ‹Marcel van Eeden – Die Villa›, Villa Flora, Kunst Museum Winterthur, bis 5.1.2025
↗ kmw.ch