Von Konventionen und Regelverstössen

by Kristin Schmidt

Der Mensch als soziales Wesen braucht Strukturen und Bindungen. Doch genau darin verbergen sich Fallstricke und Unfreiheiten. Die Kunsthalle Winterthur versammelt zu diesem widersprüchlichen Verhältnis acht Positionen. Es ist die erste Ausstellung unter der neuen Leiterin Geraldine Tedder.

Winterthur — Fotografieren heisst kommunizieren. Auch Kleidung beinhaltet Kommunikation. Kunst sowieso. Mit der Kunst, mit der Kamera, mit der Kleidung – und vielem mehr – treten Menschen in Kontakt zueinander. Oder sie versuchen es, denn nicht immer gelingt die Übertragung der Informationen. Mitunter verweigert sich das Gegenüber, erkennt die Codes nicht oder versteht sie falsch. Die Kunsthalle Winterthur widmet dieser Ambivalenz Ausstellung ‹Script – Memory›. Im Titel klingen die Bedingungen des alltäglichen Miteinander an: Der gemeinsame Verhaltenskodex folgt oft einem erlernten oder erinnerten Drehbuch: Gesprächsformeln, die Dauer und Art von Blickkontakten oder Berührungen – Spielregeln bestimmen das Zusammenleben und eröffnen zugleich ein weites Feld für Missverständnisse und Verweigerungen. Ein Schlüsselbild dafür liefert Niklas Taleb mit ‹Reverse Psychology›, 2020. Der Künstler fotografiert seine kleine Tochter beim Frühstück. Ihr Blick sagt der Kamera: Keine Lust! Nicht schon wieder, Papa! Doch nicht dieser Unwille irritiert, sondern die Hand mit dem Fotoapparat im Bild. Diese formale Unstimmigkeit entspricht den Brüchen im zwischenmenschlichen Austausch.
Die Brüche der Erinnerungen zeigen sich in Jordan Lords ‹I Can Hear My Mother´s Voice›, 2018. Lords Mutter sichtet und kommentiert darin alte Videos, die sie selbst aufgenommen hat: Einfache, nüchterne Beschreibungen kontrastieren mit emotionalen Schilderungen einer Situation. Vermutungen werden als Gewissheiten präsentiert. Stimmig ist das trotzdem, weil die Erinnerung von einer grossen Verbundenheit mit den gefilmten Motiven getragen ist.
Die Arbeit mit Familienmitgliedern – oder mit Menschen aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis — liegt mehreren der ausgestellten Werke zugrunde. Die Kunst wird ihn ihnen zum sozialen Ereignis, sie untersucht die menschlichen Beziehungen nicht nur, sondern basiert auf ihnen. Und bei der Kunst ist die Ausstellung noch nicht zu Ende. Sie spannt den Bogen weiter bis zur Publizistik: ‹Heresis› war von 1977 bis 1993 ein Magazin zu feministischen, künstlerischen und politischen Themen. Gezeigt werden ausgewählte Originalausgaben neben einem aktuellen Magazin zu kollaborativen Publikationspraktiken. Dessen Herausgeber ist das Rietlanden Women´s Office von Elisabeth Rafstedt und Johanna Ehde. Auch die beiden Frauen untersuchen, was sie zugleich anwenden: Sie kollaborieren als die neuen Grafikdesignerinnen der Kunsthalle Winterthur.