Agnes Scherer — Alles Liebe oder alles Konvention?

by Kristin Schmidt

Connie Francis´ Schlager ‹Die Liebe ist ein seltsames Spiel› traf 1960 den Geschmack des Schlagerpublikums, denn die ‹Liebe› ist ein Dauerbrenner. Und wie ein Spiel ist sie erstaunlich beständigen Regeln unterworfen: Agnes Scherer lässt für ihre Ausstellung in St.Gallen ‹Die Liebe› im Titel weg und zeigt das starre Korsett der heteronormativen Paarbeziehung auf. Ihre Installationen sind farbenprächtig, zugänglich und raumgreifend, und sie streifen ohne theorielastig zu sein auch Themen wie Naturbeherrschung oder Stereotypien in der Pop-, Volks- und sogenannten Hochkultur.

Zweitausend Eichen wurden gebraucht für den neuen Dachstuhl von Notre-Dame de Paris. Wieviele für die grossen Kathedralen im Mittelalter gefällt wurden, lässt sich nur erahnen. Zugleich wurden Profanbauten überdacht, Salinen, Bergwerke und Glashütten betrieben, Schiffe gebaut – alles mit Holz. Da fielen die Turnierlanzen der Ritter kaum ins Gewicht. Aber auch sie künden vom Hunger nach natürlichen Ressourcen: Zunächst war das Ziel des Lanzenstechens, den Gegner aus dem Sattel zu stossen oder ihn sogar zu töten. Da dieses Risiko vor allem die adlige Elite betraf, wurden die Regeln geändert. Es galt, möglichst viele Lanzen zu zerbrechen, die mitunter sogar mit Sollbruchstellen ausgestattet wurden. Agnes Scherer hat diese Details recherchiert. Die Künstlerin ist auch studierte Kunsthistorikerin und hat sich insbesondere mit dem Mittelalter befasst. Die Quellen aus jener Zeit zeigen: «Gesiegt wurde nach den Kriterien der Quantität. Die Destruktion war das Ziel der Ritterspiele.» Und die hohe Minne? Die Anbetung der Frauen? Für Scherer ist der «Dienst an der Dame» eine Unterstellung: «Das ist reine Projektionskultur.» Die Künstlerin analysiert das Konzept der romantischen Liebe und die damit transportierten Geschlechterrollen: «Wer tut was für wen und warum?» Sie leitet diese Fragestellungen historisch her, verknüpft sie mit Umweltfragen und Bezügen zu Populärkultur. Dieses dichte Netz aus Referenzen verwebt sie zu raumgreifenden Installationen.

Ritterturnier in der Kunsthalle

‹Die Liebe ist ein seltsames Spiel› in der Kunst Halle Sankt Gallen vereint drei eigenständige Arbeiten der Künstlerin: «Die Arbeiten sind als Serie entstanden. Ich habe unterschiedliche Ideen, wie sich das Konzept der romantischen Liebe darstellen lässt; drei davon haben hier zusammen gefunden.»
Die Installation bestehender Arbeiten ist für Agnes Scherer, die oft und gern architekturbezogen arbeitet, eine neue, aber durchaus produktive Situation: «Ich habe die drei Ausstellungsräume der Kunsthalle genutzt, um den ganzen Diskurs aufzuzeigen. Hier ist es ein Geschenk für mich, nicht so stark auf die Architektur reagieren zu müssen. Die Kunsthalle ist weder edel noch rough, weder schick noch punkig. Es ist ein unaufgeregter Spielraum, in dem vieles möglich ist.»
Den Auftakt bildet ‹Savoir Vivre›, 2023: Agnes Scherer hat nicht weniger als eine lebensgrosse Tjostszenerie in die Kunsthalle gebaut: Zwei Ritter begegnen einander hoch zu Ross im Kampf. Die Pferde steigen mit den Vorderhufen in die Luft. Die Lanze des grünen Ritters bricht soeben am Harnisch seines in blau gewandeten Rivalen. Hoch oben auf der Tribüne stehen die Damen und beobachten das Spektakel. Wer will, darf sich dazu gesellen: Die Tribüne ist begehbar – und der räumlichen Situation im Heidelberger Kunstverein nachempfunden. Dort lag die Interpretation als mittelalterlicher Austragungsort eines Tjost nahe, so Agnes Scherer: «Die Ausstellungsarchitektur des Heidelberger Kunstvereins ist sehr extrem, beinahe aberwitzig. Der Raum ist sehr schmal und langgestreckt, aber 15 Meter hoch. Zudem gibt es einen Balkon. Das hat mich an einen Turnierplatz erinnert, und es passte zu meinem Themenkreis. Ich hatte bereits dort die Hoffnung, die Installation mit dem Hochzeitsthema verknüpfen zu können.» Scherer legt die zwölf Damen auf der Empore als Hohlfiguren an, sie bleiben damit Schablonen für unterschiedliche Deutungsmodelle und erinnern daran, dass bis heute niemand weiss, wie sie über die Kämpfe dachten – Minnelyrik ist Männersache.
Die passive Rolle der Frauen in romantisierenden Liebesmodellen ist mit dem Mittelalter nicht abgeschlossen. Agnes Scherer zeigt das in zwei weiteren Themenfeldern: der heteronormativen Hochzeit und dem Vampirmythos.

Die Weitergabe der Konvention

Noch immer hat das weisse Brautkleid als Sinnbild der Reinheit und sexuellen Unberührtheit nicht ausgedient. Bei Scherer halten sich Bräutigam und Braut in einer klassischen Zeremonie an den Händen. Sechs Kinder tragen den Schleier – die nächste Generation ist schon bereit: «Die Hochzeit ist zunächst sehr formelhaft zu sehen. Ohne Twist, ohne surrealistischen Touch. Das Konventionelle, Öde wird nicht aufgebrochen, sondern als Klischee in den Kunstort gebracht.» Scherer, selbst in einem konservativ, katholischen Umfeld im deutschen Unterfranken aufgewachsen, bezieht sich damit auch auf die Konstanz der normativen Vorstellungen: «Mit welchem Lebensmodell wachsen wir auf? Was ergibt der Abgleich mit dem aktuellen Lebensmodell? Das alte Modell bleibt Teil der Identität, auch wenn man es überwunden hat. Ich hoffe, das heteronormative Modell zu entselbstverständigen, indem ich es in seiner ganzen Banalität zeige. So sind die Kinder geradezu karikaturhaft gegendert.»
Die Brüche finden dank Agnes Scherers Bild- und Formensprache statt: Die Gesichter sind maskenhaft, die Figuren und Objekte sind aus Papier oder wie in ‹A Thousand Times Yes› aus Gips, die Farben sind bunt, mit schnellen Pinselstrichen aufgetragen.

Amouröse Hoffnungen und Ängste

Das alles erinnert nicht zufällig an Bühnenbilder im Laienbetrieb. Auf dessen Kulissen bezieht sich Scherer mit der schablonenhaften, leicht zu lesenden Gestaltung: «Das ist für mich eine wichtige Referenz an den Jahrmarkt, die Geisterbahn, das Spektakel: alles Repräsentationsformen jenseits des Hochkunstkontexts. Mich interessieren die vormodernen Formate, in denen es keine Grenze gab zwischen Hochkunst und Kunsthandwerk. Heute hat man im Theater das extrem neurotische Bedürfnis, sich von Gebastel abzugrenzen.» Scherer bastelt gern. Für den dritten Ausstellungsraum hat sie aus Papier ein Bauernbett gebaut und eine Vampirszene vor die Niagarafälle gesetzt. Die anspielungsreiche Zusammenstellung reflektiert den Wandel des Vampirtypus vom isoliert lebenden Blutsauger zum heutigen Teenagerschwarm: «Der Vampir erscheint heute als Traumprinz. In ihm leben äusserst konservative Wert- und Unterwerfungsvorstellungen fort.» Das hat Parallelen zum Highlander-Normativ, das in den gezeigten Werwölfen anklingt: «Es sind dieselben Erzählungen. Aber der Highlander war ein Aristokrat, der seine Liebe nicht ganz unter Kontrolle hatte bis hin zu einer Neigung zum Femizid.» Scherer untersucht die Ästhetisierung des Frauenmordes wie sie beispielsweise im Song ‹Where the Wild Roses Grow› von Nick Cave und Kylie Minogue perfektioniert wird. Das Bett daneben ist «die Projektionsfläche amouröser Hoffnungen und Ängste.» Hier werden gesellschaftliche Erwartungen im Rahmen des traditionellen Wertesystems transportiert, die sich auch in heutigen Vampirerzählungen spiegeln: Der stets gut aussehende, virile Vampir ruht in aktuellen Erzählungen nie in einem Sarg, er ist immer wach. Ein Bett braucht er trotzdem – für das eigentliche Ziel des amourösen Abenteuers, denn seine Anziehungskraft auf das andere Geschlecht ist gross. Ist das Liebe? Ist es ein seltsames Spiel? Oder ein unabänderliches Verhaltensmuster?

Die Zitate entstammen einem Gespräch mit der Künstlerin in der Ausstellung am 31. Oktober in der Kunst Halle Sankt Gallen.