Es heimatet sehr

by Kristin Schmidt

Seit 2005 zieht die Kulturlandsgemeinde durchs Appenzellerland. In diesem Jahr lädt sie am Auffahrtswochenende ins Zeughaus Teufen, den Heimatbegriff zu erkunden. UlrichVogt, künstlerischer Leiter der Kulturlandsgemeinde 2023/24, berichtet im Interview mit Kristin Schmidt, wie umfassend das Thema verstanden werden kann.

Für die kommende Ausgabe der Kulturlandsgemeinde gibt es zum ersten Mal einen künstlerischen Leiter. Ueli, hast du das Ideenmonopol oder bist du mit Mitdenkerinnen und Mitdenker gesucht?

In der Leitung sind wir zu zweit unterwegs: Jolanda Gspohner ist administrative Leiterin, mit ihr arbeite ich eng zusammen. Unterstützt hat uns wesentlich die Präsidentin der Genossenschaft, Theres Inauen, aber auch der ganze Vorstand, ein bewährtes Gremium, das die Kulturlandsgemeinde seit langem begleitet. Ein Workshop mit Fachleuten zur Thematik und der Umgebung im Vorfeld hat wesentliche inhaltliche Eckpunkte gesetzt. Ausserdem habe ich das Glück, auf Anna Beck-Wörner zählen zu können. Ich nenne sie auch die Ghost-Leitung. Sie steht informell für Fragen, bei Ungewissheiten, aber auch einfach auch als Klagemauer zur Verfügung.

Heimat, das diesjährige Thema der Kulturlandsgemeinde, ist ein Dauerbrenner. Literatur und Film bearbeiten Herkunft und Hiersein, das Stapferhaus widmete 2017 der Heimat als Grenzerfahrung eine Ausstellung, aktuell zeigt das Alpine Museum Bern eine Schau dazu. Was treibt die Kulturlandsgemeinde jetzt zur Heimat?

Wir untersuchen Heimat als etwas, das dauernd neu erschaffen werden muss. Darum führen wir den Begriff Heimat im Festivaltitel als Verb: von ich heimate bis wir heimaten. Wird es im Plural verwendet, kommt die Mehrzahl, die Vielfalt der möglichen Heimaten zum Ausdruck. Für mich verbindet sich das Thema auch mit den Beobachtungen aus elf Jahren intensiven Arbeitens im Appenzellerland. Nun gehe ich einen Schritt zurück und versuche, die Beobachtungen zu reflektieren und einzuordnen. Viele, mit denen ich darüber gesprochen habe, bestätigten mir meine Eindrücke des Appenzellerlandes.

Welche Eindrücke sind das im Besonderen, die mit Heimat zu tun haben? Und wird die Kulturlandsgemeinde, die obendrein in Teufen, deinem Hauptarbeitsort während der zehn Jahre, zu einem Heim(-at-)spiel für dich?

Ich habe besonders im Appenzellerland ambivalente Gefühle gehabt. Dieses Geborgenheitsgefühl in der Tradition mit Trachten, dem Zäuerlen, der Streusiedlung, dem Bläss, den Kühen: Umgibt einem das liebevoll, oder umschlingst einen? Erdrosselt es gar? Oder ist es auch ein Schutzschild, eine Abgrenzung? Das lohnt einer näheren Betrachtung aus vielen Richtungen, wie wir es mit der Kulturlandsgemeinde vorhaben.
Die Festivalausgabe im Zeughaus Teufen ist für mich nur noch ein Gastspiel. Lilia und David Glanzmann leiten das Haus jetzt nach ihren Vorstellungen und haben schon einen sehenswerten Anfang gemacht. Das Haus wird hoffentlich ihnen und vielen neuen Interessierten zur Heimat. Ich selbst kenne zwar noch ganz viele Orte und Eigenheiten, habe allerdings keinen internen Zugang mehr dazu. Das war und ist vielleicht auch eine Motivation dieses Thema zu wählen: Wie ist es, wenn man eine solche selbst gestaltete Heimat aufgibt? Stimmt die Bezeichnung Heimat überhaupt? Kann Heimat negiert werden? Wie fühlt sich das an, wenn es neue Heimat wird? Das alles finde ich interessant und darauf wird es viele mögliche Blickwinkel geben.

Es gehört zur Tradition der Kulturlandsgemeinde jeweils aktuelle gesellschaftliche Fragen von sehr verschiedenen Seiten anzugehen. Welche Schwerpunkte, Besonderheiten und ungewöhnliche Ansätze wird es zum Heimatbegriff geben? Das Feld ist weit, es reicht von Sprache bis Religion, von Geographie bis Gefühl. Wie hast du es abgesteckt?

Ich – als machender Denker, als polyvalenter, professioneller Dilettant – gehe bei den Plattformen, Gesprächsrunden zwischen sehr unterschiedlichen Gästen, von ganz praktischen Modellen aus: Die erste Plattform nähert sich dem innersten Immateriellen, der Idee einer Heimat. Hier sind auch Gedanken zu Sprache, Religion oder Philosophie enthalten. Bei der nächsten Plattform steht das Physische im Zentrum – ich bin eben auch ein bekennender Materialist: Es geht da um den Körper, die physische Hülle als Heimat oder eben auch als fremd Empfundenes. Die dritte Plattform kreist um die Umgebung, unsere Gehäuse, die Architektur und die Landschaft.

Das Format der Plattformen ist charakteristisch für die Kulturlandsgemeinde. Wäre es inzwischen trotzdem möglich, auf neue Formen des Festivals zu setzen? Es vielleicht partizipativer zu gestalten?

Die diesjährige Kulturlandsgemeinde bleibt im Wesentlichen bei den bisherigen Formaten, erstens weil sie gut sind, zweitens weil für einen grossen Umbau die Zeit fehlte. Partizipativ war die Kulturlandsgemeinde sowie schon immer, vor allem wenn ich an die Werkstätten denke. Hier kommt das Machen, das Miteinander zum Ausdruck. Aber nichtsdestotrotz muss, kann und soll sich die Kulturlandsgemeinde verändern.

Darin liegt möglicherweise auch eine Chance, neue, jüngere Interessierte anzusprechen: Ich habe das Publikum der Kulturlandsgemeinde mitunter als sehr homogen und überschaubar erlebt. Schwimmt die Kulturlandsgemeinde in ihrem eigenen Saft? Wird das mit einem künstlerischen Leiter anders?

Der Verleger und Schnapsbrenner Christoph Keller hat mal beschrieben, was einen guten Schnaps ausmacht: Er solle nicht nach der reinen Frucht schmecken, da verzehre man besser einfach diese. Stattdessen enthalte ein guter Schnaps alle Zustände einer Frucht von der Knospe über die Blüte, zur unreifen, reifen bis zur vergorenen, verdorbenen Frucht… So ein Saft kann und soll also alles beinhalten und ein Wesen in allen Aspekten abbilden. Daher empfinde ich das Schwimmen im eigenen Saft also nicht zwingend als negativ. Ein Festival darf durchaus ein Stammpublikum haben. Das ermöglicht auch ein Vertiefen, eine Vertrautheit, eine Heimat des Denkens. Wir können das Stammpublikum auch Community nennen, dann ist es positiv konnotiert: Ein Kreis, der gemeinsam weiter denkt. Selbstverständlich ist der Austausch ein festes Element, damit werden immer neue, andere Menschen einbezogen, auch jüngere, damit es ein Weiterleben gibt.

Heimat ist ein vertrautes, aber auch ein brisantes Thema. An der Kulturlandsgemeinde soll es auch um Entwurzelung und Fremde oder Befremden gehen. Wie geht Ihr diese Aspekte an? Wie habt Ihr die Gesprächspartner und -partnerinnen ausgewählt?

Diese Facetten des Heimatthemas sind uns sehr wichtig. So ist besonders die Migration ein wichtiges Motiv der Kulturlandsgemeinde. Wir tragen dem Rechnung, wenn Yvonne Apiyo Brändle- Amolo, Hoseyn A. Zadeh, Ly-Ling Vilaysane und Hao Hohl-Yu auf den Plattformen sind. Auch vor langer Zeit ausgewanderte Schweizerinnen und Schweizer aus Amerika werden sich beispielsweise zu Wort melden.

Erwartest Du auch kontroverse Äusserungen von Menschen, die aus einer konservativen Sicht auf Werte wie Heimat und Tradition blicken?

Vielleicht kommen bei den Plattformen Fragen oder Diskussionen zu solchen Aspekten auf, aber darauf zielt die Kulturlandsgemeinde nicht ab. Uns geht es um das Auslegen, um offene Gespräche, auch um das Aushalten von Widersprüchen.

Das Appenzellerland ist die Heimat der Kulturlandsgemeinde. Wie sehr spiegelt sich diese Verankerung inhaltlich?

Direkte inhaltliche Bezüge sind für uns nicht zwingend; wir verstehen das Appenzellerland eher als Folie, als Ausgangslage. Wir haben beispielsweise zusammen mit dem Heimatschutz Appenzell Ausserrhoden eine kleine Studie unter Fachleuten lanciert. Wir forderten sie auf, zu entwerfen, wie das Appenzellerlandes in 20 Jahren aussehen soll. Die heutige Streusiedlung ist aus einer spezifischen Nutzung entstanden und prägt nach wie vor das Bild der bebauten Landschaft. Sie ist präsent auf Bieretiketten, in der Tourismuswerbung und anderswo. Aber sie wird längst nicht mehr in ursprünglicher Weise genutzt. Soll nun an diesem Heimat-Bild festgehalten werden, oder soll die neue Nutzung ein neues Bild erzeugen? Aber auch hier wünschen wir uns eine breitere Wirkung über das Appenzellerland hinaus: Die Studie ist ein Fallbeispiel, welches dann auch in St. Gallen oder andernorts auf diese Weise befragt werden kann.

Heimat ist auch Essen, was gibt es an der Kulturlandsgemeinde?

Luzia Kappenthuler bereitet einen reichhaltigen Tisch und holt die Welt ins Zeughaus Teufen: Wer hier zu Hause ist, kann probieren, wie es woanders schmeckt. Wer sich in der Welt zu Hause fühlt, isst wie daheim. Wer seine Heimat im Essen sucht, wird Vertrautes und Neues gleichermassen finden.

Wird das Echo im kommenden Jahr auch wieder in Teufen stattfinden? Planst Du bereits oder geht es erst nach der Kulturlandsgemeinde los?

Das kommende Jahr ist schon in Planung, es wird laufend mitgedacht. Auch die in den vergangenen Jahren entwickelte virtuelle und hybride Form der Kulturlandsgemeinde ist uns weiterhin wichtig. Nebst dem Festival vor Ort gibt es den Echoort für Reflexion und die virtuelle, überall verfügbare Kulturlandsgemeinde. Auch künftig wird die Kulturlandsgemeinde nicht versuchen, Antworten zu geben, sondert Denkweisen oder Herangehensweisen anbieten. Daneben soll sie auch das Aushalten von Nichtwissen erleichtern.