Geballte Farbe
by Kristin Schmidt
Das Kunstmuseum St. Gallen zeigt die erste institutionelle Einzelausstellung von Sheila Hicks in der Schweiz. Es ist gleichzeitig die erste von Gianni Jetzer kuratierte Schau seit seinem Amtsantritt als neuer Direktor des Museums. In der Lokremise St. Gallen sind Hicks´ Werke aus Wolle, Leinen, Seide und synthetischen Materialien am richtigen Ort.
St. Gallen — In manchen Kinderbüchern gibt es Übergange in Parallelwelten, sie führen beispielsweise hinaus aus der farbigen Welt hinein in eine, wo es nur Schwarz, Weiss und alle Grautöne dazwischen gibt. Kämen wir aus jener Welt wieder zurück in unsere, wie intensiv würden wir alle Farben wahrnehmen, die uns jetzt zur Gewohnheit geworden sind? Die Parallelwelt wäre ein Wirkungsverstärker und so funktioniert auch die aktuelle Ausstellung in der Lokremise St. Gallen mit Sheila Hicks farbenprächtigen Werken.
Das ausgediente Lokomotivdepot bietet mit seinen grosszügigen Dimensionen und seiner produktiven Atmosphäre einen idealen Raum für die riesigen Installationen der 1934 geborenen Künstlerin. Nicht zuletzt auch, weil sich die Ausstellung in St. Gallen gut mit der Textilgeschichte der Stadt verknüpfen lässt: Textilien sowie deren Rohstoffe sind auch Sheila Hicks´ Arbeitsmaterial. Sie bezieht sich auf präkolumbianische Färbe- und Knüpftechniken, auf umwickelte Textilien aus Lateinamerika und reagierte mit gewebten Stücken auf dortige Kulturen und Landschaften. Auf kleinen, improvisierten Webrahmen verarbeitete sie Fasern und Objekte vor Ort. Diese kleinen Webereien sowie die bereits 1960 entstandenen Schärpen bilden den musealen Teil der Ausstellung und zeigen zugleich wichtige Grundlagen der künstlerischen Recherche von Sheila Hicks: Sie studierte Malerei und ist bis heute interessiert am Farbraum, der sich aus dem Zusammenspiel von Licht und Schatten, von verschiedenen Farbebenen und Zwischenräumen ergibt. Im Gegensatz zur Malerei sind ihre Fadenbilder durchlässig: Die unterschiedlich gefärbten Schnüre oszillieren und bilden zarte Reliefs. Den Kontrast zu diesen, an klassische Bildformate angelehnten Arbeiten bilden die Lianen, die Knäuel, die aufgetürmten und ausgebreiteten Materialien. Gross, weich, farbsatt dominieren sie die Ausstellung. Allen voran die fast sieben Meter hohe Installation «Somewhere to Go», 2022 – eine der grössten, die Hicks bisher realisiert hat. Ihre Blau- und Türkistöne sind reich an Assoziationsangeboten und leuchten bis hinaus aus den Fenstern der Lokremise. Mit solchen opulenten Farben und üppig präsentierten Materialien wirft Sheila Hicks in der Lokremise sprichwörtlich die Netze aus. Aber auch mit realen Fischernetzen bannt sie die Blicke: Die auf dem Boden ausgebreiteten Gebrauchsobjekte sind zart wie Spitze und lassen sich mit der grossen St.Galler Stickereitradition verknüpfen.
→ Kunstmuseum St.Gallen, Kunstzone in der Lokremise, bis 14.5.
↗ www.kunstmuseumsg.ch