Linda Semadeni – Ins Blickfeld gefasst
by Kristin Schmidt
Raster rufen geradezu danach, sie zu durchbrechen. Linda Semadeni erkundet, wie sich ein selbst auferlegtes Regelwerk verwandeln lässt und thematisiert dabei zugleich gesellschaftliche Typisierungen. Zwei einander widersprechende Sätze sind Ausgangspunkt für ein dynamisches Spiel.
Chur — Rosa und Hellblau – die Dualität der zwei Farben steht vielfach für das Unschuldige, das Kindliche, das Niedliche. Beide Farben werden ausserdem noch immer mit Geschlechterzuschreibungen assoziiert. Lida Semadeni wirft all das über den Haufen, nur die Dualität bleibt bestehen: Ein hellblaues Auge und ein rosafarbenes Auge blicken einander aus zwei querformatigen Bildern heraus an. Wie Banner hängen sie auf jeweils einer Wand im «Labor» des Bündner Kunstmuseums. Wie in einem Labor aus verschiedene Zutaten in aufwendigen Prozessen Neues entsteht, hat auch die aktuelle Manor-Kunstpreisträgerin ihre Bilder aus einem grossen Fundus komponiert: Seit mehr als einem Jahr arbeitet Semadeni an einer Zeichnungsserie. Bereits 300 Blätter kreisen um die zwei Aussagen «I´m not a nice girl» und «I´m a hot nice girl.» Sie spielt mit diesen entgegengesetzten Sätzen, wiederholt, fragmentiert, dekonstruiert sie oder setzt sie neu zusammen. Mal sind die Wörter wie eine Fleissaufgabe in Schönschrift festgehalten, mal lässig hingeworfen, mal aufs Papier gerammt. Semadeni arbeitet mit Stiften und Farben, mit bedrucktem und unbedrucktem Papier, mit Schere, Klebeband, Leim, auch mit Haaren und anderen Materialien. Es entstehen Sprach- und Buchstabenbilder, die ebenso an Konkrete Poesie erinnern wie an die Wandkritzeleien auf der Schultoilette – jene Markierungen im Feld von Begehren und Scham, von Körperklischees und Erfolgsdruck, von Behauptung und Widerstand.
Die Künstlerin zeigt die A4-Blätter ausschliesslich im Katalog, in der Ausstellung reagiert sie auf den grossen Raum mit zwei Digitalprints auf Blachen. Deren Mitte dominieren einmal das überdimensionale hellblaue und beim zweiten Bild das ebenso grosse rosafarbene Auge. Rechts und links davon sind ausgewählte Sujets der Zeichnungsserie zu sehen. Sie sind vergrössert oder bis zur Winzigkeit verkleinert, übereinander gelagert oder Kante an Kante platziert. Durch die Transformation ins digitale Bild und das freie Spiel mit den Dimensionen durchbricht die Künstlerin die Zeichnungslogik. Verloren geht dabei die Unmittelbarkeit und Kraft der analog erarbeiteten Serie, gewonnen hingegen ist eine grosse Präsenz und Konzentration. Alles passiert gleichzeitig, alles kann «hot» sein und «nice» oder ist es «not». Die beiden einander gegenüber positionierten Augen überblicken alles und sind selbst Ziel der Blicke: Schau mich an. Wie willst Du gesehen werden? Wie siehst Du mich? Wie sehe ich Dich?
→ Bündner Kunstmuseum Chur, bis 2.7.
↗ www.buendner-kunstmuseum.ch