Kultische Handlung – künstlerische Praxis

by Kristin Schmidt

Künstlerinnen und Künstler nutzten und nutzen auch rituelle Praktiken für ihre Arbeiten. Ausserdem reflektieren sie kultisches Tun in ihren Werken – sowohl motivisch wie auch prozesshaft. Das ist auch bei Fabio Melone, Elisabeth Nembrini, Marlis Spielmann und Teres Wyler zu beobachten.

Kunst entsteht immer im Prozess. Selbst wenn Künstlerinnen und Künstler den Akt des Machens nicht selbst ausführen, gibt es Denk-, Auswahl- und Entscheidungsprozesse: Beispielsweise schlug Yoko Ono in ihrem «Lighting Piece» schon 1955 vor, ein Streichholz anzuzünden und zu warten, bis es ausgeht. Die Künstlerin nimmt sich zurück aus der Handlung, sie denkt und bietet an, ihren Gedanken auszuführen – eine ebenso minimale wie poetische Geste. Viel direkter zeigen sich künstlerische Prozesse dort, wo die Künstlerinnen und Künstler selbst Hand anlegen: Ein Fingerabdruck im Gips wird bei der Übertragung in einen Bronzeguss sprichwörtlich verewigt. Und gestische Bewegung mit dem Pinsel hinterlässt Farbspuren auf der Leinwand – unmittelbar und dauerhaft.
Die Vielfalt des künstlerischen Handelns ist gross und hat sich über die Zeit ebenso gewandelt wie das kultische Handeln. In früheren Zeiten war letzteres wichtig für den sozialen Zusammenhalt in Gesellschaften. Heute bestimmen Individualisierungstrends das gesellschaftliche Leben, aber kultische Handlungen sind für kleinere Gemeinschaften und für Einzelne noch immer von grossem Wert. Damit hat sich das Kultische auch inhaltlich verändert. Der Begriff bezieht sich nicht mehr nur auf religiöse oder spirituelle Praktiken, sondern auch auf weiter gefasste Formen wiederkehrender, ritualisierter Handlungen. Wichtiges Merkmal ist aber noch immer, dass der Mensch eine Sphäre betritt, die sich deutlich vom Alltagsleben abhebt. Er versucht nicht mehr zwingend mit überirdischen oder jenseitigen Wesen Kontakt aufzunehmen, um sich etwas zu erbitten, sie gewogen zu stimmen oder etwas über die Zukunft zu erfahren. Aber er handelt noch immer in einem Zustand des Ergriffen- oder Entrücktseins und der erhöhten Sensibilität. Dieser Zustand kann seine Handlungen formen und mitbestimmen. Das gilt auch und besonders für das künstlerische Handeln.
Marlis Spielmann bezieht sich formal und motivisch auf Handlungen, denen kultische Aspekte innewohnen. Ihre aktuellen Scherenschnitte erinnern an die Lebensgemeinschaft auf dem Monte Verità. Dort trafen sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Anhängerinnen und Anhänger unterschiedlicher alternativer Bewegungen. Sie verband ihre spirituelle, pazifistische, reformerische und freiheitliche Lebenshaltung. Damit einher ging ein Interesse am Ausdruckstanz, um zum Innersten des eigenen Körpers vordringen zu können. Marlis Spielmann stellt die Frauen am Monte Verità ins Zentrum von Scherenschnitten. Die tanzenden Frauen sind als Individuen gekennzeichnet und sind in symmetrischen Formationen doch Teil einer festen und rhythmisierten Gruppe. Umgeben sind sie von floralen Elementen. Diese enge Verbindung zwischen Vegetabilien und Menschen spiegelt die Suche nach einer neuen Naturverbundenheit am Monte Verità. Beides – Mensch und Pflanzen – verweben sich zu einem dichten Muster. In anderen Scherenschnitten sind Blumen mit Objekten eng verschlungen: Handschellen, Masken, Stachelhalsbänder liefern Hinweise auf sexuelle Praktiken. Spielmann liess einen dieser Scherenschnitte auf einen Teppich drucken und inszeniert damit im Haus zur Glocke eine Wohnraumsituation: Rituale gibt es überall, auch im intimen und privaten Bereich.
Religiosität funktioniert an der Schnittstelle zwischen Privat und Öffentlich. Das einsame Gebet gehört ebenso dazu wie die kultischen Praktiken in der Glaubensgemeinschaft. Fabio Melone thematisiert sowohl das Eine wie das Andere. Der Künstler hat familiäre Wurzeln in Süditalien. Die dortigen Prozessionen an hohen kirchlichen Feiertagen, bei denen Marienstatuen durch die Gassen getragen werden, waren für ihn prägend. Und er kennt die Innenperspektive, die gelebte Spiritualität der Menschen. In seinen Bildern findet Melone dafür einen überindividuellen Ausdruck: Er abstrahiert das Madonnenantlitz bis es kaum mehr ist als ein Oval mit Maphorion oder Heiligenschein. Anders geht Melone bei seinen grossformatigen Werken vor. Hier verbindet sich das Rituelle unmittelbar mit der künstlerischen Handlung: Melone füllt Flächen mit vielen, locker gesetzten Pinselstrichen, überlässt sich dabei ganz seiner Intuition und löst sich aus dem Zwang des bewussten Gestaltens. Oder er knotet Tausende von Fäden an einen Keilrahmen – unzählige Stunden, wieder und wieder der gleiche Vorgang. Der Künstler beschreibt die Arbeit als meditativ, sie enthebt ihn vom Alltag und hat damit Schnittstellen zum Kultischen. Zugleich schöpft er aus seiner ursprünglichen Tätigkeit im Textilbereich. Die Affinität zu textilen Materialien verbindet sich am fadenbesetzten Keilrahmen zu einem geistreichen Kommentar zur Malerei: Wo ist der Malgrund? Wo das Bild?
Tiere – tot oder lebendig – waren für Rituale lange unentbehrlich. Aus ihnen liess sich die Zukunft lesen. Sie lieferten vermeintliche Hinweise auf Übeltaten oder auf segensreiches Handeln. Elisabeth Nembrini lässt sich von Tieren künstlerisch assistieren: «Mich interessiert das Spannungsfeld, das in der Arbeit mit Tieren oder natürlichen Begebenheiten entsteht. Als Künstlerin bin ich dem ausgeliefert, was die Tiere manchen, aber die Tiere sind auch ausgeliefert.» Für ihr Kunst am Bau-Projekt in Salez siedelte sie Bienen im Architekturmodell an. Die Tiere begannen zu bauen, ohne dass geplant werden konnte, wo und wie. Die angefangenen Waben dienten dann als Vorlage für die Kunst am Bau, aber die Bienen mussten das Modell wieder verlassen. Privilegierter ist der Kater der Künstlerin. Er kommt ins Atelier der Künstlerin und arbeitet, wenn Nembrini ebenfalls arbeitet: Dann zerreisst er Papier, zerbeisst Karton, zerfetzt Zeitschriften. Nembrini belichtet die dekonstruierten Gegenstände direkt auf Fotopapier und verewigt damit tierisches Ritual mit künstlerischer Praxis. In ihrer Serie der «Tierischen Assistenzen» zitiert Nembrini Bilder anderer Mensch-Tier-Gemeinschaften: Porträtgemälde adliger Damen mit ihren Haus- oder Symboltieren übersetzt sie in verschiedene Techniken wie Projektionen, hinterleuchtete Perforationen oder Fotogramme. Die Künstlerin thematisiert ein ambivalentes Verhältnis: Ist das Tier Partner oder Diener? Ist es nützlich oder Zeitvertreib? Hat es eine Existenzberechtigung ausserhalb des künstlerisch verewigten Momentes?
Teres Wydler denkt nicht in Momenten, sondern in Zeitläufen. Sie säht, baut, lässt wachsen und gedeihen, verfolgt den Wandel und das Werden. Immer arbeitet sie mit dem Elementaren. Für ihre Serie «De Cultura» bringt sie Weizensamen auf Baumwolle aus. Ein Jahr lang hält sie die Werke in feuchtem Zustand, Wurzeln bilden sich aus, Mikroorganismen siedeln sich an, Pilze breiten sich aus. Die Künstlerin mengt Kupfervitriol, Merfen oder Kurkuma bei für charakteristische Färbungen und fixiert schliesslich das Gewordene. Die Tafeln sind bildgewordene Lebensprozesse. In Videos bleibt die Dynamik solcher Prozesse auf andere Weise erhalten: Wydler hat ein mit Gras begrüntes, kleines Holzbauwerk konstruiert, für zehn Jahre stehen lassen und immer wieder mit der Kamera aufgenommen. Das Gebäude wächst zu, zerfasert, Moose, Gräser, Flechten besiedeln es, Grenzen werden fliessend, lösen sich auf. Die Künstlerin arbeitet nah an der Natur, arbeitet mit der Natur und lässt die Natur selbst arbeiten. Von selbst ablaufende Prozesse sind ein Kern ihrer Arbeit. Und sie wiederholen sich im Jahreslauf. Diese enge Verkettung von menschlichem Tun und natürlichen Lebenszyklen ist einer der Grundbausteine rituellen Handelns: Aus Repetition entsteht Neues. Kultisches Tun setzt auf diese Wiederholungen, beschwört Erneuerung und weist – wie das künstlerische Handeln – über das Alltägliche und Berechenbare hinaus.

Ausstellungstext, Broschüre, Haus zur Glocke, Steckborn