Erinnerung – kollektiv und individuell
by Kristin Schmidt
Bilder, Berichte, filmische Zeugnisse – alles lässt sich manipulieren. Also liegt es nahe sich auf die eigene Erinnerung zurückzuziehen. Aber auch die subjektive Erfahrung ist Teil einer komplexen Kollektivität. Die Kunst Halle Sankt Gallen zeigt, wie junge Schweizer Künstlerinnen und Künstler diese Verstrickungen erforschen.
Wie verlässlich ist die eigene Erinnerung? Kann aus individuellen Erinnerungen wirklich ein kollektives Gedächtnis entstehen? Gewissheiten wanken. Erinnerung ist formbar. Fehlendes wird ergänzt. Was davon ist echt? Was ist falsch? «Entangled Events» liefert keine Antworten, sondern lässt junge, in der Schweiz aktive Künstlerinnen und Künstler ihre Netze auswerfen und eigene Thesen liefern. Die Genferin Camille Kaiser beispielsweise folgt einer Spur der eigenen Familiengeschichte anhand eines historischen Ereignisses: der Rückführung französischer Statuen aus Algerien. Ihre Videosequenzen vom algerischen Unabhängigkeitstag und von Bildarchiven thematisieren die Ökonomie der Sichtbarkeit: Wer schreibt die Geschichte? Wer nutzt die Archive? Was wird dort aufbewahrt? Das Video ist kein Endprodukt, sondern gehört zu einer laufenden Recherche. Prozessorientiert arbeitet auch Roman Selim Khereddine. Der Zürcher Künstler untersucht die vermeintliche Authentizität touristischer Bilder und stellt sie dem Wirklichkeitsanspruch eines Tierpräparators gegenüber. Beide Male geht es um Inszenierungsstrategien, einmal nach aussen gerichtet, das andere Mal intrinsisch motiviert. Auch die Protagonistin in Camille Aleñas Video ‹Emo vs. Truzzi› inszeniert sich und zugleich ihre Erinnerung. Ihre Schilderungen einer Konfrontation zweier Jugendbewegungen auf der römischen Piazza del Popolo sind sehr detailliert, aber der Wortreichtum steigert die Glaubwürdigkeit nicht – auch die in Fribourg geborene und in London lebende Künstlerin bleibt auf Distanz. Hingegen geht Mohamed Almusibli von sich selbst aus. Der in Genf lebende Künstler mit jemenitischen Wurzeln erinnert sich an ein tanzendes Paar in Jemen. Weil sich die Bilder dazu nicht einstellen, lässt er sie durch künstliche Intelligenz erzeugen. Aber sie bleiben fragmentarisch, fasern aus und liefern damit einen passenden Ausdruck für die unvollständige Erinnerung.
Diese Arbeiten entfalten sich still, ernsthaft und jede für sich. Für Verbindungen sorgen Eva Zornio und das Kollektiv Natalie Portman. Die Genferin fordert zur Interaktion, legt Spuren ihrer Recherche zu Emotionen bis vor das Haus. Auch vom Zürcher Kollektiv bleiben Spuren, sie entstammen einer Performance am Eröffnungsabend. Hier lässt sich das Ausstellungsthema am Beispiel erfahren: Wer die Performance verpasst hat, kann im Kopf eigene Bilder kreieren, sich alles berichten lassen und beides miteinander abgleichen.
→ ‹Entangled Events›, Kunst Halle Sankt Gallen, bis 6.11.
↗ www.k9000.ch