«… läuft die Zeit, wir laufen mit»
by Kristin Schmidt
‹On On Kawara› in der Lokremise St.Gallen ist dem japanischen Konzeptkünstler gewidmet. Kawara versuchte mit seinen ‹Date Paintings›, den Notizbüchern und mit Postkartenserien das Wesen der Zeit zu fassen. Es findet seinen Widerhall in fünf weiteren künstlerischen Positionen.
St.Gallen — «Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiss ins Grau.» Thomas Mann beschreibt 1924 im ‹Zauberberg› weit mehr als den Schnee und den Winter. Er schildert die Auflösung der Landschaft, der Linien, der Gipfelkonturen. Wie wäre es, wenn sich auch die Kunst auslöschen liesse? Wenn eines der folgenreichsten avantgardistischen Werke im Schneegestöber vorübergehend seine Gestalt verlöre? Bethan Huws hat es ausprobiert und ein Pissoir in einer Schneekugel montiert. Es ist makellos weiss wie Marcel Duchamps ‹Fountain›, hat die gleiche Standardform und liegt ebenso um 90 Grad gekippt. Von Zeit zu Zeit rotiert das Urinal und löst einen kleinen Schneesturm aus. Es bringt sich damit selbst zum Verschwinden, um kurz danach wieder auf- und schliesslich erneut abzutauchen. Huws´ poetische Arbeit ist der schlüssige Auftakt für die Ausstellung zu Kreisläufen, zum unaufhörlichen, objektiven Verstreichen der Zeit und zur individuellen, oft nur momenthaften Erfahrung dieses Verstreichens. Früher war es eng mit dem Ticken der Uhren verbunden wie es in der Ausstellung aus dem Schaufenster eines Antiquitätengeschäftes tönt: Die St.Galler Videokünstlerin Aleksandra Signer zeigt schemenhaft die Uhrengehäuse, das Ticken jedoch ist klar und deutlich, unerbittlich. Sekunde für Sekunde.
Eng verknüpft ist das Thema Zeit auch mit der Eisenbahn: Der Taktfahrplan, die Schienenstösse, die Oberleitungsmasten geben den Rhythmus vor. Alexandra Signer filmt aus dem TGV heraus und unter einer Eisenbahnbrücke; in einem Video von Barbara Signer ziehen die endlosen Güterzüge in der kalifornischen Wüste vorbei; von Roman Signer sind Materialien zur ‹Aktion mit einer Zündschnur zu sehen›, bei der er entlang der Bahnstrecke Appenzell-St.Gallen Explosionen auslöste.
Das räumliche Zentrum der Ausstellung bilden Tatsuo Miyajimas drei Modellbahnzüge, die stetig in einem grossen Schienenkreis aneinander vorbeifahren. Auf ihren elf Waggons transportieren sie leuchtende Zifferanzeigen. Sie zählen in ihrem eigenen Rhythmus von neun herunter, nicht bis zur null, sondern bis zum schwarzen Nichts. Dieser existenzialistischen Metapher antwortet Barbara Signers wehendes Kalenderblatt. Ein Luftstrom setzt es regelmässig in Bewegung. Wird es abreissen? Oder bleibt die Zeit doch für einen Moment stehen?
→ ‹On On Kawara›, Kunstmuseum St.Gallen, bis 6.11.
↗ www.kunstmuseumsg.ch