Das Rohe und das Zerflossene
by Kristin Schmidt
Weichtiere und Datenkabel haben einiges gemeinsam. Nina Canell begeistert sich für die formalen Qualitäten der hochtechnisierten Welt sowohl in ihrer unversehrten Gestalt als auch in wurstähnlichem Zustand. Das Kunstmuseum St.Gallen zeigt die erste Einzelausstellung der Künstlerin in der Schweiz.
Ein Unterseekabel dringt selten ans Tageslicht. Unter dem Druck tausender Kubikmeter Salzwasser sorgt es für den Datentransfer zwischen Kontinenten und ist entsprechend dicht, dick, dauerhaft – und schön. Umhüllt von leuchtend gelbem Kunststoff, gefestigt und geborgen von Metallstreben, gepuffert und isoliert durch schwarzen Gummi, Textil und weitere Schichten in Blau und Rot liegen die kleinen kupfernen Drähte eng aneinander. Der Platz im Kabel ist trotz seines oberschenkelgleichen Durchmessers begrenzt, umso wichtiger ist seine sinnvolle Aufteilung. Diese ausgeklügelte Ordnung hat es Nina Canell (*1979 Väyjö, Schweden) so sehr angetan, dass sie ein Kabelstück als Auftakt ihrer Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen wählt. Es ist nicht mehr ganz rund, es ist nur ein Fragment und doch steht es in grossem formalen Kontrast zu den «Sheddings Sheaths» in den folgenden Räumen. Auch sie entstammen nicht mehr gebrauchten Kabeln, allerdings sind sie ihres Inhaltes entledigt und haben ihre Form verloren. Was einst im Dienste der präzisen Datenübertragung stand, was akkurat geplant und gestaltet war, ist gestaucht, verwurstelt oder zu unappetitlichen Häufchen geronnen: die Dystopie des Datenverkehrs. Beklemmung stellt sich allerdings keine ein, dafür sorgt der Ausstellungskontext einerseits und Nina Canells Freude an der Sache andererseits. Wenn die in Berlin lebende Künstlerin Mastix, das zähflüssige Harz der wilden Pistazie, auf Stahlträgern platziert, so dass es schwerreissend wie Hefeteig den Weg nach unten sucht, wenn sie eine Tigernacktschnecke über angejahrte Schaltelemente kriechen lässt und die Reise des schleimigen Tierchens auf Raumhöhe projiziert, wenn sie eine Druckprüfmaschine auf einen Kunststoffball so regelmässig einwirken lässt, dass ein atmender Rhythmus entsteht, dann ist das Ganze ein augenzwinkerndes Spiel mit mal vertrauteren, mal überraschenderen Gegebenheiten, aber in jedem Fall harmloser als das von Lautréamont erdachte zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch. Nina Canells Stärke ist es, das Material ihrer Kunst in der hochtechnisierten Datenwelt zu finden, einer Welt, deren physische Gegebenheiten jenseits der blanken, berührungsempfindlichen Bildschirme nicht mehr präsent und noch viel weniger verständlich ist, und die nun im Moment des Verfalls überhaupt erst wieder ins Bewusstsein dringt.