Roman Signer, Brille, 2010
by Kristin Schmidt
Die Brille unter der Stahlplatte: ein zerbrechlicher Gebrauchsgegenstand unter einem flachen geometrischen Körper, ein kleines Objekt unter einem grösseren. «Brille», 2010 untersucht die skulpturalen und physikalischen Qualitäten eines Gegensatzpaares. Schwer trifft leicht. Stabil trifft fragil. Gestaltung trifft Material. Druck lastet, wird verteilt und abgeleitet.
Eine Brille ist nicht irgendein Gegenstand. Als mehr oder weniger dringend benötigte Sehhilfe repräsentiert sie den abwesenden Menschen. Zudem hat Roman Signer für «Brille» nicht irgendeine Brille verwendet, sondern seine eigene. Damit erhält die Arbeit über ihre formalen und energetischen Aussagen hinaus eine weitere Komponente: Signer setzt sich als Individuum durch selbst initiierte Erfahrungen ins Verhältnis zur Welt. Bereits eine seiner frühesten Arbeiten resultiert aus dieser Auseinandersetzung. Für «Selbstbildnis aus Gewicht und Fallhöhe», 1973 sprang der Künstler aus 45 Zentimetern Höhe in eine Tonplatte, seine Füsse drückten sich in den weichen Ton.
Der Körper des Künstlers wirkt als formgebendes Werkzeug ebenso wie als physikalische Grösse. In drei anderen Arbeiten aus jener Zeit ist er mit seinem Gewicht präsent, vertreten durch 16 Kilogramm schwere Stahlplatten. Vier Stück davon entsprechen Signers damaligem Körpergewicht. Mal beschweren diese Platten einen Kunststoffsack mit eingeschlossener Luft, der sich dadurch an den Rändern aufwölbt. Mal liegen die vier Platten auf einem Schaumstoffklotz gleicher Breite und drücken ihn mittig zusammen, so dass er rechts und links flügelartig in die Höhe ragt. In der dritten Arbeit wurden nacheinander vier Stahlplatten in einen Rahmen geschoben und quetschen Schaumstoffplatten mit zunehmendem Gewicht.
Roman Signers Werk ist in hohem Masse mit dem Menschen und seiner Physis verbunden. Immer wieder löst Signer Prozesse und Reaktionen aus und untersucht die Kräfteverhältnisse mit dem eigenen Körper bis hin zum Versengen oder Versinken. Er trifft allgemeingültige Aussagen und steht mit seiner Identität als Künstler dafür ein. Die Stahlplatte auf der Brille vereint diese komplexe Konstellation: Die Brille vertritt wie die Stahlplatten in früheren Arbeiten das Individuum. Sie ist fixiert, bleibt aber aufrecht. Sie verformt sich nicht, sondern hält das Gewicht der Platte aus und trägt sie obendrein. Sie kann als neutraler Gebrauchsgegenstand gelesen werden und ist doch ein sehr persönliches Utensil des Künstlers, dessen Arbeit von seiner Präsenz getragen ist – selbst wenn er in seinen Versuchsanordnungen das eigene Verschwinden einkalkuliert.
Katalogtext