Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Mittags in einer Quartierbeiz

Dienstag, im Februar 2016: „Walter setze ich auf Drei, damit ich weiss, wo die Stammgäste sitzen.“ Es ist 11:45 Uhr. Noch ist es ruhig im „Adler“ in Herisau. In der Gaststube sitzen erst drei Gäste, einzeln an drei Tischen. Die junge Bedienung nutzt die Zeit, ihre weniger erfahrene Kollegin einzuweisen, worauf es ankommt: die Plätze der Stammgäste zu kennen, ein gutes Lokalisierungssystem für die Bestellungen im Kopf zu haben und Geschick bei der Platzierung der Mittagsgäste. „Wenn dort schon drei sitzen, dann nimm ihn aufs Zwei, also bei Tisch Acht, dann 81 oder 82.“ Technolekt der Gastrobranche, nützliche Merkhilfe, wenn es hektischer wird. Es ist 11:55 Uhr. Stammgast Walter trifft ein, gesellt sich zu einem der einzeln Sitzenden, man begrüsst einander mit dem Vornamen. Walter hängt die SOB-Jacke über die Stuhllehne. Bruno kommt herein und fragt, ob er mit der Postcard zahlen darf: „Nein Bruno, da musst Du abwaschen.“ Persönlich geht es zu und unkompliziert, deutlich und herzlich. Im Hintergrund singen die Pet Shop Boys einen alten Hit. Die Musik liegt wohl in der Mitte zwischen dem, was die jungen Servicefachkräfte für gewöhnlich hören, und dem Musikgeschmack der älteren Gäste. Dann um 12:00 Uhr sinkt der Altersdurchschnitt rapide. Vier Zimmermannsleute treten ein. Danach drei Elektrotechniker. Manch einer hat den Doppelmeter im Hosensack, alle tragen das Firmenlogo auf den Jacken. Die Holzbauer, die Informatiker, die Haustechniker. Letztere betreten die Gaststube 12:10 Uhr, fünf Minuten später kommt die Mannschaft der Kanalreinigungs-AG in Warnwesten. Die Zweier-, Dreier- und Vierergruppen suchen sich einen Platz, sie bleiben unter sich.

Die Gaststube ist gut gefüllt, und noch immer ist der Service gleich schnell wie beim ersten Gast: Kaum sitzt einer, hat er bestellt und im nächsten Augenblick steht das Schälchen Blattsalat auf dem Tisch. Bestellen, trinken, essen, zahlen – zwanzig Minuten, mehr braucht es dafür nicht im Adler. Ein paar Worte unter Bekannten passen auch noch dazwischen, manchmal über die Tische hinweg. Der erste Gast geht, es ist Walter. Um 12:25 Uhr werden die unbenutzten Gedecke abgetragen. Hier gehen die Uhren rascher als anderswo, ausser für den Pensionär. Er sass als erster in der Gaststube und lässt sich nun sein übriggebliebenes Rindsvoressen in eine Styrofoambox einpacken.

Das ist noch kein Zeichen des Aufbruchs. Stattdessen inspiziert der Alte den geflochtenen Tischkorb mit den süssen Sachen und die Bedienung weiss, was jetzt passiert: „Typisch Stammgast, alle Snacks anlangen.“ Macht nichts, sie sind ja einzeln verpackt, aber „wer sein Zmittag nicht fertig isst, bekommt kein Dessert.“ Bekommt er doch, denn der scherzhaft drohende Ton ist Zeichen des Vertrautseins. Man kennt einander, und sicherlich schätzt der Pensionär bei seinem mittäglichen Gasthausbesuch gerade auch diese persönlichen Worte.

Viele der Gäste kommen wöchentlich in den Adler, andere täglich. Manch einer nutzt die kurze Mittagspause sogar noch für eine Zeitungsschau. Der“ Tagesanzeiger“ liegt aus, die „Appenzeller Zeitung“, der „Blick“. Im Hintergrund trällert Kylie Minogue. „Isch‘s guet gsi?“, erkundigt sich die junge Schwarzhaarige und erhält Zustimmung. Der Fackelspiess, das Rindsvoressen, beides sehr fein. Montags bis freitags hat der Adler geöffnet und jeden Mittag gibt es drei Menüs. Zwei mit Fleisch, eines ohne. Das Vegimenü wird heute von niemandem geordert. Dabei klingt Gemüselasagne durchaus verheissungsvoll.

Eine Frau betritt die Gaststube, der erste weibliche Gast? Wie selbstverständlich begibt sie sich hinter den Tresen – die Bedienung erhält Verstärkung. Und es werden doch noch einmal neue Gedecke benötigt. 12:45 Uhr kommen drei Männer in Tarnkleidung aus der nahen Kaserne in den niedrigen Schankraum. Einen freien Tisch gibt es nicht mehr und noch nicht, sie setzen sich anderswo dazu. Es dauert nicht mehr lange, dann leert sich das Lokal, 12:55 Uhr begeben sich alle Handwerker wieder an die Arbeit. Der Pensionär hat seinen Kaffee erhalten, so langsam wird es ruhiger.

Obacht No. 24 | 2016/1

Miriam Sturzenegger „Woran sich halten?“, 2016 Künstlerbuch

Schwarz auf weiss – was geschrieben ist, gilt. Besonders, wenn es gedruckt ist und gebunden. Buchdeckel bieten den Worten Halt, Bücher den Lesenden. Bücher versprechen Verlässlichkeit, Echtheit, Beständigkeit, ganz gleich ob es sich um Fiktion oder einen Forschungsbericht handelt. Ein Buch ist immer real. Miriam Sturzenegger spürt der Ambivalenz des Buches nach, seinen Verheissungen ebenso wie den Irrtümern, seiner Präsenz als Objekt ebenso wie seinem geistigen Raum. Die Künstlerin denkt über das Medium Buch nach, indem sie eines publiziert. „Woran sich halten?“ nennt Miriam das Künstlerbuch und siedelt es damit in dem grossen Dazwischen an: dort, wo das Pendel zwischen wahr und falsch hin und her schlägt, wo fragen gleich hinterfragen ist. Ist Wahrheit überhaupt möglich? Wie zu ihr gelangen? Der Zweifel macht die Wahrheit interessant und birgt das Potential der Behauptung. Gibt es den einen richtigen Weg? Die eine richtige Antwort?

„Woran sich halten?“ lässt sich pragmatisch auf konkrete Situationen oder Fragen beziehen und strahlt von dort auf das ganze Leben aus. So hat Miriam Sturzenegger beispielsweise Gabriel Walsers Alpsteinbeschreibung aus der „Neuen Appenzeller Chronick“, herausgegeben 1740, für das Buch transkribiert. Walser versucht, den Alpstein so genau wie möglich zu beschreiben. Er versucht ihn zu fassen, seine Eigenheiten, seine Wiesen, Seen, Höhlen und Löcher. Er eignet sich die Landschaft sprachlich an, um seine eigene Begeisterung für sie auf andere zu übertragen. Die Landschaft ist ihm Identifikationsort und ist doch nur durch die Sprache zu vermitteln. Im Wunsch, wahr zu sein, alles zu erfassen, verstrickt sich Walser in Wiederholungen, das Typische wird austauschbar. Doch der Wunsch nach Halt besteht weiter. Lassen sich aus dem Vergangenen Regeln für die Gegenwart oder gar die Zukunft ableiten? Wie lässt sich die Welt verstehen? Miriam Sturzenegger zeigt auf subtile Weise, wie sich nicht nur die Bewertung einer Landschaft, sondern auch der Weltereignisse verändert. Sie hat in ihrem Buch die Chronik des Appenzeller Kalenders aus dem Jahr 1836 aufgelistet. Dort ist angegeben, wie viele Jahre seit dem jeweiligen Ereignis bis zum Herausgabejahr des Kalenders vergangen sind. Die Liste beginnt mit dem Jahr der Erschaffung der Welt, gefolgt von jenem der Sintflut. Die Künstlerin hat sämtliche Angaben für das aktuelle Jahr umgerechnet und um Ereignisse nach dem Jahr 1836 ergänzt. Damit stellt sie die historische Übersicht nicht bloss, sondern richtet mit ihrer subjektiven Auswahl die Aufmerksamkeit auf den Wunsch der Menschen, die Welt zu erkennen und zu deuten. Einen anderen Weg, die Weltgeschichte zu fassen, wählte der Urururgrossvater der Künstlerin. In seinem Heimatort Trogen setzte er drei Riesenmammutbäume: den ersten nach der Schlacht von Königgrätz 1866, den zweiten nach der Schlacht von Sedan und den dritten nach dem Friedensschluss von Versailles 1871. Die Bäume stehen in einem besonderen Verhältnis zur Zeit, da sie einerseits Ausdruck einer vergangenen Gartenkultur sind und andererseits lebende Zeugen historischer Ereignisse: Trotz des Anlasses ihrer Pflanzung und ihres Alters sind sie immer auch Teil der Gegenwart. Miriam Sturzenegger verwendet in ihrem Künstlerbuch eine Fotografie der Bäume, zeigt aber immer nur Fragmente. So gleicht der Blick einem Suchen. Die Ausschnitte repräsentieren Ausblicke, doch nie auf das Ganze. Damit gleichen sie allen Versuchen, die Geschichte oder Gestalt der Welt zu fassen: Sie bergen Raum für die Zweifelnden.

Text für die Kulturlandsgemeinde 2016 in Stein

Katalin Deér „Stein, 2016“ acht Postkarten

Vier Brücken, vier Steine, ein Haus. Dreimal Stein und viermal Stein. Orte, Wege, Werke, Blicke. Ein Findling wie ein Kiesel. Eine Brücke wie ein Tunnel. Eine Tischplatte wie eine Fotografie. Ein Stein des Anstosses. Ein Loch. Eine Hand. Acht Fotografien, acht Postkarten für Stein. Für die Kulturlandsgemeinde bereist Katalin Deér Urbanonyme und findet Brücken, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Die längste gedeckte Holzbrücke Europas verbindet die deutsche Stadt Bad Säckingen mit der Gemeinde Stein im Aargau. Die Rheinbrücke Hemishofen in Stein am Rhein ist Ingenieursbaukunst von nationalem Rang. Die Ganggelibrugg, ebenfalls ein Objekt von nationaler Bedeutung, verbindet St. Gallen mit Stein in Appenzell Ausserrhoden und ist der höchste Fussgängersteg Europas. Brücken führen die Blicke in die Tiefe, führen sie weiter zum Durchbruch in der Natursteinwand, zum Strassendurchbruch im Bergell und von dort zur Leiter auf den Findling, von diesem zum Tisch mit geäderter Platte. Dazwischen ein Schopf im Schnee. Inzwischen ist er abgebrochen. Er war ein Fremdling im Ort, für die einen ein Schandfleck, für die anderen Architektur. Katalin Deér fotografierte ihn 2012. Sie richtet ihren Blick auf den städtischen und ländlichen Raum mit all seinen Zufälligkeiten und Banalitäten, aber auch mit seinen ästhetischen Besonderheiten. Sie richtet ihn auf das homogene Nebeneinander von Natur und Gebäude und auf Bauten, deren Form ganz ihrem Nutzen geschuldet ist. Sie nimmt Details ebenso ernst wie die Atmosphäre der Umgebung. Sie sieht hin ohne zu werten. Unter ihrem aufmerksamen, absichtslosen Blick beginnen die fotografierten Orte, Steine, Brücken zu erzählen. Immer neue Bezüge werden möglich; inhaltlich, ästhetisch, formal. „Stein, 2016“ lebt vom steten Wechsel der Perspektive. Er spiegelt sich auch in der Gestalt der Arbeit: Jede der acht Postkarten lädt dazu ein, sie aus dem ursprünglichen Kontext herauszulösen und zu versenden. So ziehen die Steine in die Welt hinaus und öffnen sich für neue Geschichten.

Text zur Kulturlandsgemeinde 2016 in Stein

Werkstätte für virtuelle Welten

Der Exit-Button ist immer oben rechts. Er erlaubt es Schluss zu machen. Ganz gleich wie weit weg die Realität gerade ist, ob Lichtjahre entfernt in einer anderen Galaxie oder einen Zeitsprung weit in einem anderen Erdzeitalter. Klick und die Menüsteuerung taucht auf. Klick und das Cockpit weicht dem Couchtisch. Nur die besonders Hartgesottenen wagen sich in den 360°-Horror eines Spiels, in dem sie nicht mehr wegschauen können, nicht mehr ausweichen, in dem das Böse auch hinter einem lauert. Für alle anderen ist die Virtual Reality nur einen Wimpernschlag weit entfernt von der Realität.

Es ist fast so einfach wie den Ferienschmöker zuzuklappen und einfacher als Drogendosierungen im Griff zu behalten. Abtauchen. Auftauchen. Vielleicht braucht der Körper ein paar Sekunden, aber die Grenze ist klar gezogen dank der Technik. Sie erlaubt es, der Realität zumindest vorübergehend und gezielt zu entkommen oder sie zu erweitern. Zu erweitern? Erweiterte Realität ist ein grauenhafter Begriff für Sebastian Tobler. Der Mitinhaber der Zürcher Firma Ateo bleibt doch lieber bei dem sperrigen, weil noch ungewohnten Anglizismus Augmented Reality, und nennt statt möglicher Übersetzungen gern ein einfaches Beispiel: Bei Fussballübertragungen werden mitunter weisse Linien eingeblendet, um die Entscheidungen der Linienrichter zu verdeutlichen. Die Realität wird also etwas ergänzt. Oder wie es Sebastian Tobler zusammenfast: „Wir nehmen die Wirklichkeit und verändern sie, fügen etwas hinzu. Gezielt eingreifen zu können, ist der Reiz.“

Dafür ist Technik das Vehikel, sie transportiert aber auch Chancen.  Wenn Sebastian Tobler beispielsweise über das neue Augmented Reality-Projekt für das St.Galler Museum im Lagerhaus spricht, lässt er die Dinge selber zu Wort kommen: „Das Bild sagt uns: Schau, bei mir ist es spannend.“ Ein klarer Gegensatz zum Audioguide, „der sich immer im Erklärmodus befindet. Mit Augmented Reality können wir nicht nur Informationen liefern, sondern für die Sache begeistern. Und wir stossen das Publikum an, sich eigene Gedanken zu machen.“ Das Argument, das Tablet stehe aber immer noch zwischen Betrachtenden und Bild, lässt Sebastian Tobler nicht gelten: „Kinder gehen inzwischen mit den Geräten um, als seien sie ihnen an den Körper gewachsen.“

Es gibt aber ein anderes Problem. Auf einem Chip lässt sich eine halbe Bibliothek abspeichern, aber mehr Daten sind nicht zwingend relevantere Daten. Erst der kreative Umgang mit der Technologie ermöglicht bleibende Erlebnisse. Für Sebastian Tobler ist dies immer auch eine Gratwanderung: „Was können wir dem Nutzer in puncto Intensität zumuten? Wo wird es lustvoller? Wo ist es zuviel?“ Keine Frage ist diejenige nach der Realität: „Die Menschen können selber gut unterscheiden zwischen der Realität und künstlich Hinzugegebenem.“ Unbehagen setzt erst im Moment des Kontrollverlustes ein: Woher kam das? Wie lange geht das noch? Das war schon bei Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ so und ist mit neuer Technologie nicht anders. Aber Zaubershows funktionieren nur deshalb, weil Menschen selektiv wahrnehmen. Damit spielt auch Ateo: „Wir können unsere Eingriffe verstecken und sie mit der Wirklichkeit verschwimmen lassen.“

Erst in der virtuellen Realität des Spiels ist der Anspruch auf Wirklichkeit vollständig aufgehoben. „Shiny“ besitzt kein Oben und Unten, sondern nur noch eine Time Warps Space- Röhre. Farbige Blöcke fliegen darin weg und müssen per Kopfbewegung erfasst werden. Dazu lässt sich jede beliebige Musik hochladen. Das Spiel funktioniert mit einer Virtual Reality Brille und hat sich bereits den Ruf eines Nackentrainers erworben. Noch existiert nur der Prototyp, der allerdings so beliebt ist, dass im Mai die finale Version folgen soll. Also gerade rechtzeitig für die Kulturlandsgemeinde 2016. Zum diesjährigen Thema passt auch das zweite Ateo-Spiel: Sherlock. Es ist die Adaption eines Hörspiels für Virtual Reality und erlaubt es, gemeinsam mit dem grossen Detektiv zu denken und nicht nur in seine Welt, sondern auch die neue Technologie behutsam einzusteigen.

Im Zeichen der Arbeit

Mähen, holzen, bügeln, nähen – Carl August Liner malte die Arbeit. Das Kunstmuseum Appenzell zeigt einen wichtigen Bereich seines Schaffens, der öfters in den Hintergrund gerät – und nennt die Ausstellung schlicht «Arbeit».

Landleben, Landliebe, Landlust – Hochglanzmagazine verheissen heutzutage die Idylle der ländlichen Existenz. Wer die Idylle früherer Zeiten sucht, wird bei Carl August Liner fündig, in seinen Trachten- und Landschaftsgemälden. Allzu oft wurde der Appenzeller Maler auf diese Sujets reduziert. Höchste Zeit also einen Aspekt in Liners Kunst zu würdigen, der ihm selbst viel wichtiger war und der das Leben auf dem Lande bis heute prägt: die Arbeit.

Das Kunstmuseum Appenzell, auch mit neuem Namen noch das Kompetenzzentrum für Carl August Liner und seinen Sohn Carl Walter Liner, besitzt knapp 600 Werke des Künstlers. Davon sind über die Hälfte Arbeitsdarstellungen. Das besondere an ihnen: Es sind selten Auftragswerke, sondern freie Arbeiten Carl August Liners. Sie zeigen sein besonderes Interesse am handwerklichen und bäuerlichen Tun, aber auch seine eigene Positionierung als künstlerisch Tätiger. Im Kunstmuseum Appenzell wird dies gekonnt inszeniert. Den eigentlichen Auftakt der Schau bildet die lebensgross gezeigte Fotografie Liners im Gespräch mit einem Senn. Auf der für eine Postkarte inszenierten Aufnahme begegnen sich zwei die unschwer als Schaffende zu erkennen sind, selbst, wenn die Arbeit ruht. Genauso auf der daneben hängenden Skizze „Selbstbildnis mit Senn“. Hier geniesst der Senn seine Pause und Liner arbeitet an der Staffelei. Es ist eine Idealsituation, bäuerliche Versatzstücke sind eingestreut, doch der Kern bildet die selbstverständliche Kommunikation der beiden in so unterschiedlichen Gebieten tätigen Männer.

Die Ausstellung ist typologisch gegliedert, verschiedenen Tätigkeiten sind verschiedene Räume gewidmet. Heuernte und Aussaat, Handstickerei und Holzarbeit sind wiederkehrende Themen Liners. Und als er in Ägypten und Italien unterwegs war, sind es die Eselstreiber, Schlangenbeschwörer, Seiler und Steinsäger, die ihn interessieren. In St.Gallen ist es die Küche der italienischen Wanderarbeiter an der Rorschacher Strasse. Bei all dem sind immer wieder spannende Einblicke in Liners Arbeitsweise möglich. So sind etwa die Gemälde mit Handstickerinnen am Fenster zugleich Studien über die Lichtführung im Bild. Ein grosses Werk wie „Der Mäher“ wird mit vielen Skizzen vorbereitet.

Carl August Liner war nicht nur künstlerisch aktiv. Er schrieb satirische Texte, gestaltete als Gebrauchsgrafiker Briefmarkenmotive, Postkarten und Plakate, illustrierte Kalender und Bücher, meldete einen transportablen Maltisch und eine Motor-Kleinmähmaschine beim Patentamt an, entwarf einen Kleinbus. Das bemerkenswerteste Zeugnis seines in viele Richtungen offenen Denkens ist der „Entwurf für ein St.Galler Werkblatt“. Es war der Versuch, eine Zeitschrift ins Leben zu rufen. Das „Organ für Arbeit und Kultur“ sollte jeden Samstag in St.Gallen und im Wirtschaftsgebiet Ostschweiz erscheinen. Geplant waren Texte zu wichtigen Bauten und deren Renovationen, Berichte über gute Reklame, und das Neben- und Miteinander von Industrie und Kunst. Damit ist diese Ausstellung am passenden Ort, entlehnte doch das Architektenduo Gigon/Guyer die Gestalt des Kunstmuseum Appenzell einem Fabrikgebäude. Beide bezeichneten ihren Bau mit dem markanten Sheddach auch als eine Ideenfabrik, eine Werkhalle für den Geist. Einen ganzen Sommer entfalten sich hier nun der Intellekt Carl August Liners und seine Wertschätzung der Arbeit.

Das grosse Drunter und Drüber

Manchen Eltern gilt schon ein Sandkasten als Gefahrenzone. Ihnen sei die Ausstellung «Playground Projects» in der Zürcher Kunsthalle empfohlen. Sie zeigt Spielplätze als Erfahrungsräume für Kinder – und für die Stadtplanung. Vorne mit dabei ist Wattwil.

Wippe, Schaukel und Klettergerüst, vielleicht noch eine Rutsche dazu oder ein Sandkasten. So hat die jetzige Elterngeneration vorgefertigte Spielplätze erlebt und so finden sie sich auch jetzt noch zwischen Mehrfamilienhäusern und auf Pausenhöfen. Einzig das Material hat sich gewandelt. Standen früher meist Stahlgestelle im Sand, so bestehen die Geräte und Gerüste mittlerweile aus Holzbalken. Aber es geht auch anders, ganz anders.

Was wollen Kinder tun?

Die Kunsthalle Zürich zeigt, was jenseits des Standards möglich ist. „Playground Project“ heisst die aktuelle Ausstellung und umgeht mit dem englischen Titel die Assoziationen von normierter Langeweile, die das Wort „Spielplatz“ ausstrahlt. Überhaupt, was heisst schon spielen? Als die Landschaftsarchitektin Cornelia Hahn Oberlander für die Expo 67 in Montreal mit einer Spielplatzgestaltung beauftragt wurde, fragte sie sich, was Kinder gerne tun. Spielen gehörte nicht zu den Antworten, sondern bauen, Wasser stauen, klettern, schaukeln, sich verstecken, balancieren, rennen oder Musik machen. Sie entwarf für den kanadischen Pavillon eine Landschaft mit Wasserkanal und Instrumenten, mit Kletternetz, Baumhaus und Tunnel. Dies war weder der erste, noch der einzige Ansatz, neue Bewegung in die kindliche Erfahrungswelt zu bringen.

Die Basler Politologin und Raumplanerin Gabriela Burkhalter blickt für ihr Ausstellungsprojekt auf über 100 Jahre Spielplatzgestaltung zurück. In dieser langen Zeitspanne lassen sich jedoch Schwerpunkte der neuen Gestaltungsbemühungen erkennen. Einer davon liegt –wenig verwunderlich – in den späten 1960er Jahren. Kreativität und Selbstbestimmung sind die Zauberwörter einer neuen Pädagogik, zusätzlich wurde der öffentliche Raum als demokratischer Raum aufgefasst. Inoffizielle Spielplätze bringen Bewegung in die Debatte um kindgerechte Zonen in der Stadt. Wie so oft kommen wichtige Anregungen aus Skandinavien. Der dänische Künstler Palle Nielson, künstlerischer Berater des Stadtplaners von Kopenhagen, erkannte, dass die Intensität von Spiel und Interaktion in begrenzten Räumen zunahm. In einer spontanen Aktion wandelten Nielsen und seine Aktivistengruppe im Frühjahr 1968 den Hinterhof eines Arbeiterblocks in einen Abenteuerspielplatz um. Die Anwohner wurden aufgefordert, nicht die Polizei zu rufen, sondern beim Bau mitzuhelfen. Die Gruppe mischte sich konstruktiv in die Stadtplanung ein ohne politische oder künstlerischen Absichten, sondern mit dem Ziel das Potential ungenutzter Räume zu entdecken. In Stockholm baute eine Gruppe um Nielson einen Spielplatz im Moderna Museet auf. „Modellen – en model för ett kvalitativt samhälle“ erfuhr ein riesiges Publikums- und Medienecho.

Je undidaktischer, umso besser

In der Kunsthalle Zürich sind diese und zahlreiche andere Beispiele in Filmen, Zeitungsberichten, Fotografien, Entwurfszeichnungen, Modellen und anderen Originalmaterialien belegt. Sie fügen sich zu einem Gesamtbild, dass weniger Archiv- als vielmehr Laboratmosphäre verströmt. MDF-Platten und Holzleisten liegen wie zum Weiterbauen bereit. Bildschirme sind in modulare Bausätze integriert. Baumhaus und Sandkasten fehlen ebensowenig wie Schaukelseil und Kletternetz. Kleine Details sorgen für Kinderfreude, so die kniehohen Öffnungen von Ausstellungsraum zu Ausstellungsraum. Sie zeigen, wie einfach es ist, die Kinderperspektive beim Ausstellungsmachen mitzudenken. Etwas, dass auch in ehrwürdigen Institutionen funktioniert, wie etwa in der neuen Nordamerikapräsentation des St.Galler Historischen und Völkerkundemuseums.

Ein besonderer Anziehungspunkt der Ausstellung ist der Lozziwurm, 1972 von Yvan Pestalozzi entworfen. Pestalozzi ist nicht der einzige Schweizer Künstler, der für Kinder gearbeitet hat. Bernhard Luginbühl gehört ebenso dazu wie Michael Alois Grossert. Dessen Skulpturenhof für die Primarschule Aumatten ermöglicht den Kindern auf kleinem Raum ein grosses Drüber und Drunter, das gar nicht offiziell als Spielplatz deklariert werden muss. Damit gleicht es Max Oertlis Brunnenskulptur am Neumarkt in St.Gallen. Sie ist ebenfalls nicht als Spielobjekt konzipiert, reizt die Kinder jedoch durch Form und Farbe zur Bewegung.

Kinderbaustelle Wattwil ist Spitze

Auch der immer wieder gescholtene Rote Platz entfaltet solche Qualitäten, indem er keine festen Nutzungen vorgibt, sondern offen lässt, wo gesessen, balanciert, gerannt oder geruht werden kann. Während es diese beiden St.Galler Beispiele nicht in die Ausstellung geschafft haben, ist aber auf der grossen Weltkarte der gegenwärtig besten Playground Projects unter den nur drei Beispielen aus Europa auch die Ostschweiz dabei mit der Kinderbaustelle Wattwil.

Im selben Raum lohnt es sich ausserdem auf die Zeichnungen und den Film der Group Ludic ein besonderes Augenmerk zu richten. Die Pläne auf Transparentpapier muten an wie Wimmelbilder oder Schatzkarten, in denen die Augen trefflich spazieren gehen können. Im 2013 gedrehten Film wird unter anderem über das Thema Sicherheitsnormen gesprochen. Damals, in den 1960ern und 1970ern herrschte diesbezüglich totale Freiheit, dennoch war die Sicherheit nicht nebensächlich, aber ebenso wichtig war das Vertrauen in die Kinder: „Ein Kind kann ein Risiko selbst bewältigen, wenn es dieses selbst gewählt hat“.

In der Ausstellung lassen sich gut zwei Stunden verbringen, mindestens. Wer aber mehr wissen will, dem sei die Website http://www.architekturfuerkinder.ch/ empfohlen. Hier stellt Gabriela Burkhalter das Archivmaterial zu ihrem Forschungsprojekt zur Verfügung. Noch eine Ebene drauf setzt der Katalog zur Ausstellung. Inhaltlich dicht, gut gestaltet, mit aussagekräftigem Bildmaterial und sorgfältig gedruckt hat er das Zeug zum Standardwerk.

Kunsthalle Zürich, bis 15.5.

Das grosse Drüber und Drunter

Kreativzelle auf dem Land

Das Zeughaus Teufen zeigt die produktive Atmosphäre im Teufen der 1960er Jahre und beschwört Parallelen zu Andy Warhols Factory.

Co-Creation, Co-working spaces und Communities sind heutzutage in aller Munde. Gemeinsam denken, erfinden und entwickeln bringt alle Beteiligten weiter. Neu sind aber nur die Anglizismen. Kreative haben das Potential enger Zusammenarbeit schon früher erkannt und genutzt. Andy Warhol beispielsweise wäre ohne seine Gefolgschaft wohl nie zum Weltstar der Pop Art aufgestiegen.

Über fünfzig Jahre ist es her, dass Warhol die Factory gründete und dort kreative Köpfe versammelte. Und mit ihnen einen Abstecher nach Teufen unternahm? Am Goldibach eine Dependance gründete? „Factory Teufen“ nennt Museumsdirektor und Kurator Ueli Vogt seine aktuelle Ausstellung im Zeughaus Teufen und verweist damit auf die Gleichzeitigkeit guter Ideen. Denn die Teufener hatten Nachhilfe aus New York gar nicht nötig. Sie kamen von selbst darauf sich zusammenzutun, um Grosses zu verwirklichen.

Grafiker Kurt Büchel und seine Frau Ada hatten 1963 die ehemalige Textilfärberei am Goldibach bezogen. Ein Jahr später gewann Büchel gemeinsam mit Remi Nüesch einen Gestaltungswettbewerb für die EXPO 1964. So wurde die Textilfärberei erneut zur Produktionsstätte und zog Grafiker, Fotografen und Kunstschaffende aufs Land. Hier waren sie in der Lage konzentriert und am richtigen Ort zu arbeiten: Sie gestalteten die Abteilung „Gesteigerte Produktivität“ im Sektor „Feld und Wald“. Hans Schweizer wirkte mit, Jost Blöchlinger, Amelia Magro, Jules Kaeser und andere.

„Factory Teufen“ vermittelt anschaulich die kreative Atmosphäre und die damalige Art zu arbeiten, da sich die Ausstellung als Labor präsentiert. Originalfotografien hängen nicht an der Wand sondern werden in der Horizontale gezeigt, nur durch Glasplatten geschützt. Publikationen dürfen in die Hand genommen und studiert werden, sogar das originale „Werk“-Heft aus dem Jahre 1964. Stempel liegen bereit und Papier. Ausgestellte Grundrisse sind ebenso aufschlussreich wie die unkonventionelle Korrespondenz vom Chefarchitekt der Expo an die Teufener.

Über all dem klopft und klingt es. Die Arbeit von damals scheint ins Heute herüber zu tönen. Die Klänge begleiten Filmsequenzen. Sie entstammen einer dreiviertelstündigen Dokumentation aus den Sechzigern. Die Künstlerin Katrin Keller hat aus diesem Film jene Sekunden extrahiert, in denen die Akteure bei der Arbeit zu sehen sind, und interpretiert deren Tun mit elektronischer Musik. Ausserdem hat sie Tätigkeiten in Monotypien übertragen. Reihen, spachteln, stochern, hämmern, stempeln, rollen oder wischen zeichnen sich schwarz auf weissem Papier ab.

Zeitgenössische künstlerische Beiträge verschränken die Ausstellungen im Zeughaus Teufen immer wieder aufs Neue mit der Gegenwart. Aktuell gelingt dies neben der Arbeit von Katrin Keller auch mit Werken von Hans Schweizer. Seine grossformatigen Zeichnungen aus der jüngsten Zeit hängen auf grossen MDF-Wänden. Gegenüber auf einem warmen Ockerton sind Grubenmann-Veduten aus den Jahren 1961 und ´62 zu sehen – ebenfalls von Hans Schweizer. Und sogar Werke aus früheren Ausstellungen fügen sich nahtlos ein: So findet das auf den Schwarzweissaufnahmen abgebildete, grosse Expo-Relief seinen Wiederhall in Felix Stickels Karte des Appenzeller Landes. Er zeichnete sie 2013 für die zweite grosse Wechselausstellung im Zeughaus Teufen an die Wand. Mit jeder Schau wird die Geschichte aktiv weitergeschrieben – das Zeughaus Teufen ist längst selbst eine Factory.

Die Kunst guckt in die Röhre

Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt eine Ausstellung zum Fernsehen in der Kunst. Das Medium reizt zum Widerstand und birgt einiges an Unterwanderungspotential.

Vergraben, verstecken, vernageln oder mit Stacheldraht umwickeln – kaum hatte sich das Fernsehen zum Massenmedium entwickelt, attackierten Künstler das Gerät. Damit demonstrierten sie eindrücklich ihr Ohnmachtsgefühl gegenüber der neuen Allgegenwart bewegter Bilder oder vielmehr den präsentierten Inhalten.

Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt in der aktuellen Ausstellung „TeleGen. Kunst und Fernsehen“ im ersten Raum eine Rückschau mit Werken aus den späten fünfziger und in den sechziger Jahren. Altbacken wirken diese Arbeiten bis heute nicht, vor allem jene, die das Medium eben gerade nicht offensiv attackierten, sondern sich bereits damals die Strategien des Fernsehens zunutze machten und sie weiterentwickelten. So beginnt Bruce Conner unmittelbar nach dem Attentat auf John F. Kennedy die ausgestrahlten Filmaufnahmen des Anschlages zu bearbeiten. Sequenzen werden stakkatohaft wiederholt, ältere Aufnahmen und Werbung werden zwischengeblendet, während das Attentat nie zu sehen ist. Spannung entsteht dennoch oder gerade deshalb. Auch John Cage arbeitete mit den Möglichkeiten des Fernsehens. Er verwandelte seine „Water Music“ für eine Fernsehsendung in einen „Water Walk“. Der Klang war damit nicht nur zu hören, sondern die Klangerzeugung war zu sehen. Cage setzte Dampfkochtopf und Mixer in Gang, betätigte Siphon und Piano, plätscherte in der Badewanne und warf Radios vom Tisch. Cage plauderte zunächst locker mit dem Moderator und brachte dann seine unkonventionelle Musik zu Gehör. Das Publikum der Unterhaltungssendung reagierte mit unsicherem Gelächter, Cage liess sich nicht aus der Ruhe bringen und verhalf seiner Arbeit mit grossem künstlerischen Ernst zu einiger Popularität.

Geht es um die frühe Auseinandersetzung mit dem Medium Fernsehen, darf Nam June Paik nicht fehlen. Als erster Künstler veränderte er die Bildausstrahlung mit mechanischen Eingriffen, schloss externe Geräte an, deren Schwingungen auf die Monitore einwirkten oder verzerrte Bilder mit Magneten. Im Kunstmuseum Liechtenstein sind vier seiner transformierten Geräte aus dem Jahr 1963 zu sehen.

Die weiteren sechs Räume der umfangreichen Ausstellung sind der zeitgenössischen Kunst gewidmet. Mischa Kuball ist der Einzige, der mit einer Arbeit vertreten ist, die sich noch physisch gegen das Fernsehbild richtet, er deckt die Mattscheibe mit schwarzer Folie ab, in der das CNN-Logo ausgespart ist. Hörbar überlagern sich mehrere Podcasts mit Live-Berichterstattung aus dem ersten Golfkrieg – eine Arbeit mit eindeutig kritischem Anspruch. Viel spannender sind aber jene Werke, die das Medium mit seinen eigenen Mitteln unterwandern und dessen Unzulänglichkeiten offen legen. Christian Jankowski etwa hatte bereits sogenannte Teleshopping-Kanäle in ein Kunstmarkt-TV-Format übersetzt, liess einen texanischen TV-Prediger seine Kunst heiligsprechen oder befragte im Vorfeld der Biennale Venedig TV-Wahrsager zu seiner künstlerischen Arbeit. Er vertauscht soziale Kontexte und Rollen und spielt mit dem inszenierten Fernsehspektakel. In der Ausstellung ist sein Werk „Discourse News“ zu sehen, bei dem er eine professionelle Nachrichtensprecherin ein Kunstwerk erläutern lässt, dessen Teil sie selber ist. Jankowski setzt die brandaktuellen News und den Kunstdiskurs gleich und entlarvt damit einmal mehr nicht nur das Fernsehen, sondern auch den Warencharakter der Kunst.

In der Ausstellung dominieren wenig verwunderlich die filmischen und die Videoarbeiten. Aber Künstlerinnen und Künstler setzen sich auch in Malerei, Fotografie, Zeichnung und Installation mit dem Fernsehen auseinander. So sind etwa Caroline Hakes Fotografien leerer Fernsehstudios aufschlussreiche Kommentare zur televisuellen Bedeutungsproduktion. Und Julian Rosefeldt extrahiert die Gesten aus TV-Soaps und gliedert sie in Kategorien. Schon bei Kindergartenkindern ist zu beobachten, wie diese stereotypen Verhaltensweisen die Ausdrucksformen beeinflussen. Viele der aktuelleren Werke greifen Details rund um die Fernsehkultur heraus, die Werkauswahl wäre denn auch anders möglich gewesen. Christoph Schlingensief ist jedoch eine der wichtigsten Positionen in diesem Zusammenhang. Mit seinem Talk 2000, ausgestrahlt im Privatfernsehen und im ORF, trieb der damals junge Künstler die ohnehin schon absurd anmutenden Talkrunden auf die Spitze. Die Gäste wurden ebenso blossgestellt wie der Moderator selbst. Inhalte wurden keine vermittelt, es ging um Effekte und Emotionen. Wie echt letztere waren, bleibt dahingestellt. Inzwischen sind alle Folgen dieser Show im Internet verfügbar – in einem Medium, dessen Auswirkungen aufs Fernsehen beträchtlich sind und das längst auch für die Kunst relevant ist. Aber dies ist ein anderes Ausstellungsthema.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/die-kunst-guckt-in-die-roehre/

München: Rodney Graham

Rodney Grahams Bezugssystem ist formal und inhaltlich weit verzweigt. Wer sucht, wird in jedem Falle fündig. Spezielle Kenntnisse in Musik- und Kunstgeschichte, in Philosophie und Literatur sind von Vorteil. Doch auch wer sich ergötzen will an attraktiven Bildern freut sich auf ein Wiedersehen mit den konzeptuellen Werken des Kanadiers. Selbst jene, die es vorziehen sich zu amüsieren, werden nicht enttäuscht. Gags gibt es ebenso wie Tiefgang, Poesie ebenso wie Leichtigkeit. Und dies in einer grossen medialen Bandbreite: Die retrospektive Einzelausstellung in der Sammlung Goetz umfasst Musik, Installationen, Fotografien, Skulpturen, Leuchtkästen und Filme. Graham agiert immer wieder selbst als Musiker und Schauspieler. In seinen Kurzfilmen gerät er in missliche Lagen. Die gestellten Situationen sind absurd, sind weit weg vom alltäglichen Erleben. So funktionieren sie in Endlosschlaufe als Sinnbilder für das verzwickte menschliche Miteinander und die ständige Wiederkehr des Unzulänglichen – der Künstler klammert sich nicht aus dabei.

Grahams Interesse an der Welt schliesst auch die Natur ein, umso mehr als sich mit ihr wieder die Brücke in die Geisteswelt schlagen lässt. Schickt er beispielsweise einen Hubschrauber mit Suchscheinwerfern über einen nächtlichen Wald, so sind auch literarische Topoi allgegenwärtig – künstlerische Schönheit und Inhalt sind einmal mehr vereint.

http://www.sammlung-goetz.de/

Bregenz: Das Kunsthaus als Klangraum

Die Turner-Preisträgerin Susan Philipsz arbeitet mit Musik als Speicher der Erinnerung. Für ihre Toninstallationen zerlegt sie Musik in einzelne Töne und fügt sie über separate Räume hinweg wieder zusammen. In ihrer aktuellen Ausstellung verwandelt sie das Kunsthaus Bregenz in einen Resonanzkörper.

Klare Töne aus unbestimmter Richtung – Klarinette zuerst, abgelöst durch weiter entfernt klingende Violinen, dann Bassklarinetten ganz aus der Nähe, danach Stille und wieder Tonreihen. Susan Philipsz bespielt das Kunsthaus Bregenz in musikalisch wörtlichem Sinn. Zwölf Lautsprecher hängen in jedem der vier Stockwerke des Zumthor-Baus, soviele wie eine Tonleiter Töne hat. Aus jedem Lautsprecher erklingt ein separat eingespielter Ton, pro Stockwerk mit einem anderen Instrument. Beim Gang durch die Ausstellung und besonders durchs Treppenhaus lässt sich das Entstehen von Musik erleben. Hier klingen die einzeln instrumentierten Töne miteinander. Hier durchdringt die Musik das ganze Haus. Hier, an dem Ort, wo für gewöhnlich wenig bis keine Kunst von der Architektur ablenkt, ist die Hauptschlagader der Ausstellung. Susan Philipsz verwandelt das Bauvolumen in akustisches Volumen. Als Ausgangspunkt diente ihr Hanns Eislers Musik zu Alain Resnais´ Film «Nuit et brouillard» aus dem Jahre 1955. Warum Hanns Eisler? Warum diese innerhalb einer Woche entstandene Komposition? Philipsz arbeitet seit vielen Jahren mit Musik als Raum der Erinnerung, der politischen und kollektiven Geschichte. Bei ihren Recherchen entdeckte sie Resnais´ Dokumentarfilm und die damals revolutionäre Methode Eislers, filmische Inhalte nicht musikalisch zu illustrieren oder zu verdoppeln, sondern die Musik zu eigenständigen Aussagen zu befähigen. Die britische Künstlerin eignet sich die Komposition an, seziert sie und reduziert sie auf Violinen und Blasinstrumente. Die ursprünglich enthaltenen Stimmen anderer Instrumente haben Lücken hinterlassen. Dies alles taugt als Metapher, sowohl auf die während der sogenannten Nacht-und-Nebel-Aktionen der Nazis verschleppten Widerstandskämpfer und alle in den Konzentrationslagern getöteten Menschen als auch auf die Zensur von «Nuit et brouillard». Der Film allerdings ist in Bregenz nur im Untergeschoss zu sehen, während in den oberen Geschossen der hochästhetische Eindruck der Ausstellung gewahrt bleibt. Auch auf die sparsam verteilten ergänzenden Arbeiten hätte sich gut verzichten lassen. Sie befassen sich mal mit Eisler mal mit im Kriege zerstörten Blechblasinstrumenten, führen aber eher vom Kern der Ausstellung weg. Eine schlüssige Brücke hingegen schlägt Philipsz nach Hohenems. 20 Kilometer entfernt vom Kunsthaus erklingt hier ein fünftes Segment der Komposition – auf dem 400 Jahre alten jüdischen Friedhof am bewaldeten Abhang des Schwefelberges.

bis 3. April 2016

www.kunsthaus-bregenz.at