Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Appenzell: Christian Hörler

Ab wann ist eine Form eine Form? Wenn sie sich beschreiben lässt? Konturen besitzt? Wodurch wird eine Masse zur Plastik? Wann gerinnt Farbe zum Bild? Christian Hörler arbeitet am Grundsätzlichen, aber er behauptet keine Endgültigkeiten. Materialien wie Gips, Kalk und Farbe werden auf ihre Eigenschaften hin untersucht. Diese Arbeit mündet nicht zwingend in klar umrissenen Formen und Bildern, sondern nähert sich Formaten und Körpern an, lässt Formloses gelten, wird in Serien ausdifferenziert und immer wieder neu überprüft. Hörlers Ausstellung in der Kunsthalle Ziegelhütte gleicht einem grossen Denk- und Werklabor, in dem die Raumsituation zum Bestandteil der Arbeit wird. Der kleinste Saal ist mit Packpapier an den Wänden zu einem Gehäuse umgestaltet. Fragile Papierarbeiten sind hier zu einer Erzählung über Farbe, Linie, Dynamik und Volumen zusammengesetzt. Im ersten Obergeschoss sind an die Wand geschleuderte Gipsklumpen ausgehärtet – Entstehungsprozess und Werkform sind identisch. Daneben spielt Hörler in seinen Gipsobjekten mit dem Verhältnis von Sockel und Werk. Immer wieder neu sucht der Künstler die Balance oder überlässt es mit Gespür dem Material, sie zu finden.

Bis 19. März

Das Konsulat

Das Nextex ist umgezogen. Der Projektraum der visarte.ost ist seit vielen Jahren nomadisch in St.Gallen unterwegs und nutzt nun für ein Jahr Räume im ehemaligen italienischen Konsulat. Die AHV-Ausgleichskasse medisuisse plant dort einen Neubau und stellt das Gebäude bis zum Abriss für kulturelle Zwecke zur Verfügung. In Zusammenarbeit mit der städtischen Fachstelle Kultur haben das Ostschweizer Kulturmagazin Saiten, der Projektraum Nextex sowie Kulturschaffende aus dem Umfeld des Werkhauses 45 für die Zwischennutzung den Verein «Das Konsulat» gegründet. Die Ausstellungsthemen im Nextex reichen 2017 von den Raunächten über Experimente, Sammeln und Housing bis zu den «Grenzen des Verstandes».

Hagel im Glashaus

Rachel Rose verwebt Bild und Ton zu dichten Videocollagen. Das Kunsthaus Bregenz zeigt aktuelle Arbeiten der jungen Amerikanerin.

«Senkrechtstarterin», «Shootingstar der US-amerikanischen Kunstszene», «die jüngste Künstlerin, die jemals ins Kunsthaus Bregenz eingeladen wurde»: Rachel Rose wird mit Superlativen angekündigt; Superlativen, die sich auf ihr Alter und ihre Karriere beziehen. So hat die 1986 geborene New Yorkerin bereits im Whitney Museum in New York ausgestellt, in der Serpentine Gallery in London, im Castello di Rivoli in Turin, und soeben ist sie als Teilnehmerin der diesjährigen Biennale Venedig angekündigt worden. Jetzt sind drei ihrer neuesten Videoarbeiten im Kunsthaus Bregenz zu sehen – je eine pro Obergeschoss, projiziert auf eigens gebaute, frei stehende Wände, umgeben von sehr viel Raum.

Der glatte Beton, der Terrazzoboden, das matte Glas und die indirekte Beleuchtung im Zumthor-Bau sind der klar strukturierte Rahmen für Rachel Roses heterogene Bildwelten. Die Künstlerin verarbeitet eigens aufgenommene Videos und Tonspuren, filmt bewegte und unbewegte Bilder ab und verwendet vorgefundene Filmsequenzen unterschiedlicher Provenienz und Qualität.

Huschender Architekt, ungebändigte Natur

So mischen sich in «A minute ago» Amateuraufnahmen eines Hagelsturms in Sibirien mit Nicolas Poussins «Landschaft mit der Beerdigung von Phocion», des einzigen Gemäldes in Philip Johnsons Glass House. Filmische Ansichten jener Villa und des umgebenden Parks werden gezeigt und lösen sich in Pixeln auf. Dazwischen huscht der Architekt schemenhaft durchs Bild.

Das Gemenge der visuellen und akustischen Eindrücke folgt einer deutlichen inhaltlichen Linie: Rachel Rose überprüft die Durchlässigkeit zwischen Innen und Aussen ebenso wie die Auffassungen von idealer Landschaft und idealer Architektur, und sie zeigt die Künstlichkeit solcher Entwürfe im Kontrast zur un­gebändigten Naturgewalt. Rose agiert dabei nicht vordergründig didaktisch, sondern versucht ihre Arbeit durch die dicht gesetzten Bilder und Töne auf der Empfindungsebene wirken zu lassen: Sie will ein ganzheitliches Raum- und Weltgefühl erzeugen.

Besonders ambitioniert ist dies in «Everything and more». Die Arbeit basiert auf einem Te­lefonat der Künstlerin mit dem Astronauten David Wolf über dessen Weltraumspaziergänge. Wolfs Schilderungen der Schwerelosigkeit korrespondieren mit Aufnahmen grosser Wasserbecken in Nasa-Trainingsräumen, mit wogenden Publikumsmassen in dunklen Konzerthallen, mit Versuchsanordnungen aus dem Atelier der Künstlerin: Rose verquirlte Milch, Wasser und Öl, bis die helle, die dunkle, schwere und die transparente Flüssigkeit Bläschen, Schlieren und Wirbel bildeten. Riesenhaft vergrössert erinnern sie an kosmische Erscheinungen und zeigen doch sehr deutlich die Grenzen der zweidimensionalen Projektion.

Gekonnt umgesetzt, aber wenig sinnlich

Sie bleiben auf der Fläche verhaftet und wirken deutlich weniger sinnlich und unmittelbar als die gleichen Substanzen in Valie Exports Installation «Fragmente der Bilder einer Berührung», 2011 ebenfalls im Kunsthaus Bregenz ausgestellt. Damals tauchten beweglich montierte Glühbirnen von oben in Reagenzgläser, die mit Wasser, Milch oder schwarzem Altöl gefüllt waren, und zum Gesamtbild gehörten auch Wärme und Elektrizität, Geruch und Fragilität.

Rachel Rose hingegen vertraut ganz auf Video und Ton. Als studierte Kunsthistorikerin kennt sie die Arbeit mit unterschiedlichen Bildquellen und fügt sie gekonnt zusammen. Umsetzung und Präsentation stimmen, für letzteres leistete das New Yorker Architekturbüro MOS Architects einen wichtigen Beitrag. Dennoch bleibt die Sinnlichkeit der Werke zu grossen Teilen eine Behauptung – trotz der Perfektion und Präzision. Aber Rachel Rose ist ja noch jung.

Weiss draussen und Gips drinnen

Raus in den Schnee – und dann rein in die Kunsthalle Ziegelhütte Appenzell: «Schnee schaufeln» nennt Christian Hörler seine dortige Ausstellung. Ein sorgfältiger Arbeitsprozess eint das winterliche und Hörlers künstlerisches Tun.

„… Draußen war das trübe Nichts, die Welt in grauweißer Watte, die gegen die Scheiben drängte, in Schneequalm und Nebeldunst dicht verpackt. Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiß ins Grau. (…) alles blieb in geisterhafter Zartheit und Blässe, bar jeder Linie, die das Auge mit Sicherheit hätte nachvollziehen können. Gipfelkonturen verschwammen, vernebelten, verrauchten. Bleich beschienene Schneeflächen, die hinter- und übereinander aufstiegen, leiteten den Blick ins Wesenlose…“

Thomas Mann, „Der Zauberberg“, 1924

Der Schnee verhüllt, verunklärt und verwandelt. Grenzen sind aufgelöst, natürliche und gebaute Formen getilgt im gleissenden Winter. Christian Hörler setzt dem grossen Weiss die Facetten seiner Arbeit entgegen. Das grosse Panoramafenster der Kunsthalle Ziegelhütte verbindet zwei Welten. Draussen die unwillkürliche Anhäufung der weissen Masse, drinnen fein abgestimmte, präzise herausgearbeitete Farb- und Formuntersuchungen: Im grossen Saal der Kunsthalle zwei Stelen wie Stalakmiten, dazwischen Kalk auf dem Boden, eine Lehmplastik. Der dunkle Boden umrahmt das Weiss des Kalks, dringt hindurch. Anders herum auf der Wand: Hier bricht das Weiss durch die per Kartoffeldruck aufgetragene schwarze Farbe. Das helle Eschenholz der Stelen wiederum wird durch blendend weisse Sockel gefasst. Die handgeformten Kugeln der Plastik sind nicht schneeballweiss, sondern lehmgrau.

Eigenleben des Materials

Christian Hörler beweist grosses Gespür für das Material und seine Eigenschaften. Er formt sie, ohne zu überformen; er lotet das Potential aufs Genaueste aus. Der Ausstellungsraum dient ihm dabei als Rahmen und Mitspieler. Auch im ersten Obergeschoss bleibt der Raum nicht unangetastet. Gips ist an die makellose glatte Wandfläche geklatscht, schon dies ein eindrucksvoller formaler Kontrast. Diese Gipsklumpen fransen aus, stülpen sich in den Raum. Immer die gleiche Menge Gips, immer anders gelandet, zerdrückt, aufgetürmt. Das Material wird nicht gezwungen, sondern entfaltet ein Eigenleben. Auf einige der Klumpen hat Hörler klar umrissene Gipsformen gedrückt. Das Material bleibt das gleiche, aber es übernimmt eine neue Funktion. Es ist Werk und ist auch Träger des Werkes – eine Idee, die Christian Hörler in seinen Plastiken weiterführt: Wann wird eine Form zum Sockel? Wie unterscheiden sich Sockel und Plastik? Kann ein Sockel gleichzeitig auch Plastik sein? Es sind die kleinen, feinen Unterschiede, die Hörler untersucht, die Verhältnismässigkeiten und Verbindungen. Sie sind in besonders verdichteter und anschaulicher Form im zweiten Obergeschoss präsentiert.

Form vs. formlos

Dick liegt hier der Schnee auf dem schrägen Glasdach. Zuweilen rutscht er ab und ballt sich zu Haufen. Grünlich schimmert er durch das Glas. Die Aufmerksamkeit für diese Details ist geweckt durch Hörlers Werke und ihre bedeutungsvollen Details. Der Künstler vertraut in die Kraft einer sich verästelnden Linie, einer Farbwolke und zarter Farbübergänge. Oft genug strebt die Malerei heute nach dem Grossen, kommt inhaltsschwer und formal überladen daher. Christian Hörler geht nicht hinter die gegenwärtige Bildsprache zurück, sondern leistet sich ein unbeeindrucktes Neuanfangen. Seine Bilder sind keine Behauptungen, tragen keinen Endgültigkeitsanspruch, sondern sie sind Stadien des Arbeitens und Denkens. Formen werden nicht erfunden, sondern sie ergeben sich oder eben nicht. Manchmal gerinnen sie unerwartet, dann wieder werden sie mit einer Bleistiftlinie angedeutet oder entstehen durch eine formatfüllende Fläche, einen Abdruck eines Objektes. Das Unprätentiöse wird durch die gesamte Präsentation unterstrichen. Die Wände sind tapeziert mit Packpapier, die Blätter sind lose darauf geheftet. Durch die dunkle Tönung rücken die Wände optisch zusammen, es entsteht der Eindruck einer Klause, eines Denk- und Werklabors, in dem erstaunlich viele Farben klingen. Der Begriff „bunt“ drängt sich nicht auf, ist doch die Grundstimmung verhalten. Aber es ist wie im Schnee, je länger der Blick verweilt, desto vielfältiger sind die Nuancen. Christian Hörler lässt den Farben ebenso Raum und Eigenleben wie den Materialien. Er erzwingt nichts, alles entfaltet sich leise, aber umso kraftvoller in dieser gelungenen Ausstellung.

Bis 19. März 2017

www.kunsthalleziegelhuette.ch

Manfred Pernice – Eine Dose ist eine Dose ist eine Dose ist eine Dose

Architektur oder Plastik? Modell oder Möbel? Manfred Pernice arbeitet seit 20 Jahren am Thema der Dose und unterläuft mit diesem Werktypus formale und ästhetische Kategorien ebenso wie Zeit- oder Inhaltsbezüge. Im Kunstmuseum St.Gallen erfahren die Dosen erstmals eine Familienaufstellung bis in die entferntesten Verwandtschaftslinien hinein.

Gerillt oder mit angenieteter Öffnungslasche, aus Weissblech oder Aluminium gezogen, mit Banderole oder mit Aufdruck – so kommt die Dose daher. Sie verspricht Inhalt und ist Form, sie ist Behältnis und Zylinder. Sie ist allbekannt und millionenfach gleich. Oder sie ist von Manfred Pernice. Seit über 20 Jahren baut der Künstler Dosen. Aber was genau ist eine Dose? Was braucht sie, um eine Dose zu sein? Kommt es am Ende überhaupt darauf an? Die Dose kann alles sein. Sitzgelegenheit oder Büchergestell, Turm oder Tafel. Sie lässt sich unter den Rock gucken oder zwischen die Rippen. Sie ist mobil oder aus Beton. Manfred Pernice hat der Kunst die Dose verpasst. Angefangen hatte alles mit kleinen zylindrischen Kartonplastiken. Doch anders als Architekturmodelle waren sie nicht einfach die Vorstufe für eine vergrösserte Ausführung. Gemeinsam mit Zeichnungen und hinzugefügten Gegenständen bildeten sie eigenständige Ensembles im Miniaturformat. Liess sich die formale Qualität der kleinen Kartonzylinder auch in einen grösseren Massstab übertragen? Der Künstler wechselte das Material und arbeitete mit MDF-Bauplatten. Dort, wo der Karton gefalzt war, wiesen die Platten Fugen auf.

Die grosse Dosenfamilie

Statt der glatten Haut des aus einem Stück gefertigten Metallzylinders zeigen Pernices Dosen eine gebaute Struktur und bieten einen riesigen architektonischen Spielraum, der sich vor allem dann offenbart, wenn der Künstler unterschiedliche Verwandtschaftszweige aus der Dosenfamilie ausstellt. Im Portikus in Frankrfurt am Main bestellte er ein «1a-Dosenfeld», veranstaltete im Hamburger Bahnhof in Berlin einen «Dosentreff» oder schickte sie in Hamburg auf den «Dosenweg». Im Kunstmuseum St.Gallen präsentiert Pernice nun die «2b Dosenwelt», die jedoch viel mehr ist als ein weiterer Teil des Dosenuniversums. Sie ist das Dosenuniversum selbst, vom Urknall bis in die peripheren Umlaufbahnen. Mit einer unbetitelten Arbeit aus dem Jahre 1997 ist eine der frühen Kartondosen zu sehen. Sie sitzt in diesem Falle auf einem Instantkaffeeglas: Das Glas wird zum Sockel der Dose, die Dose zum Deckel – schon hier sind die späteren Transformationen vorhanden. Zudem deuten Zeichnungen eines Lampenschirms ein Grössensystem an, das bald ausformuliert wird. Die «Signaldose ‹VT›», 1998 ist eine der ersten in neuem Massstab. Mit ihrem Umfang und ihrer Höhe wird die Dose zum Körper, zugleich werfen Titel und Farbe – ein leuchtendes Rot – die Angel aus: Der Körper wird zu dem einer Boje, einer Signaltonne auf hoher See. Im Kunstmuseum St.Gallen ist «Signaldose ‹VT›» umgeben von Dosen der frühen 200er und der letzten drei Jahre. Sie alle eint das Unperfekte, das Raue, das Improvisierte, das selbst dann noch dominiert, wenn die Dose lackiert ist.

Zeitlosigkeit versus Zeiträumlichkeit

Verblüffend ist in dieser Zusammenstellung die Zeitlosigkeit der Dosen, und dies, obwohl Pernice Zeiträume thematisiert: «Was die Objekte gemeinsam haben, ist ihr Vermögen, einen Zeitraum zu eröffnen: Dieser Raum beginnt mit dem angenommenen Entstehungszeitpunkt des Objektes und reicht in unsere Jetzt-Gegenwart. […] In vielen Fällen setze ich Objekte ein, um Wirkungen zu organisieren, die mit Materialität und Zeit-Räumlichkeit (da hinein können Texte und Bilder gestellt sein) zu tun haben. […] Aber ich verwende sie auch als Dokumente oder narrative Elemente im Verhältnis zu/mit ‹skulpturaler› Arbeit.» Die Dosen werden zum Einweckglas für vergriffene Publikationen, für Fotokopien jahrzehntealter Zeitungsausschnitte, für historisches Material vom Spielzeug bis zur Anstecknadel. Oft sind die Objekte im Inneren der Dosen verborgen, bleiben unerreichbar, geheimnisvoll und ein Feld für Spekulationen; oft sind sie aber auch an oder auf den Dosen angeordnet. Damit jongliert Pernice nicht nur mit der erzählerischen Ebene, sondern auch mit der Geste des Zeigens. Die Doppelfunktion der Dosen als Zeigendes und Gezeigtes wird dann besonders offensichtlich, wenn sie Kunst präsentieren. So entstand die Werkgruppe «Die 3. Dimension» 2000 für die Ausstellung in der Kunsthalle Hamburg. Die Dosen wurden dort als Sockel für Skulpturen von August Gaul, Mathias Göritz, Franz Xaver Messerschmidt, Man Ray und anderen verwendet. In der St. Galler Ausstellung sind auf diesen Dosen Werke von Walter Bodmer, Diogo Graf, Wolfgang Laib und Fritz Wotruba zu sehen sowie ein namenloser Keramikkopf. Kunst und Nicht-Kunst wird hierarchielos präsentiert. Zudem werden Werkgruppen weder immer gleich bestückt noch müssen sie vollständig anwesend sein, stattdessen werden sie in situativ angelegten Feldern neu kombiniert. So ersetzen neu zusammengestellte Materialien zu Bernhard Heiliger, Siegfried Krepp oder Wotruba teilweise die Persönlichkeiten oder die fehlenden Originale des «Dosentreffs» wie er ursprünglich im Hamburger Bahnhof in Berlin präsentiert wurde und schon ist die «Ersatzgruppe (Dosentreff)» geboren.

Sinn und Unsinn

Pernice nutzt Ausstellungen als offene Räume der Möglichkeiten. Er agiert als Kurator, ohne sich einer Kohärenz des Präsentierens verpflichtet zu sehen, so schreibt Pernice zum «1a – Dosenfeld» im Portikus: «Das Dosenfeld erzählt nun keine Geschichte, der man folgt, sondern stellt eine den Besucher umgebende Situation dar. Der Besucher betritt einen Unsinnzusammenhang, eine unerträgliche Zumutung von Einzelaspekten, die nur als künstlerischer Entwurf akzeptabel ist und doch potentiell einen Typus alltäglicher Wahrnehmung parallelisiert.» Pernice konfrontiert Sinnsuchende mit wohl dosierten Unsinnzusammenhängen: «Das Dosenfeld stellt einen solchen Unsinnzusammenhang dar, der vom Betrachter natürlich versuchsweise sofort in einen Sinnzusammenhang umgewandelt wird. Jede Beschäftigung des Betrachters mit einem Einzelaspekt ergibt Sinn, die Aspekte insgesamt jedoch nicht. Auf der Suche nach Sinnfälligkeit werden diese Unsinnsituationen meist nicht bemerkt, obwohl das Leben voll davon ist.“ Die „2b – Dosenwelt“ ist mit ihren laut Pernice «locker gehäkelten» Zusammenhängen diesbezüglich eine würdige Nachfolgerin des „1a – Dosenfeldes“. Und sie reicht weit darüber hinaus: Zum ersten Mal sind die Dosenmotive in einer Überblicksausstellung versammelt. Zum ersten Mal treffen Dosen aus unterschiedlichen Kontexten in neuen Konstellationen zusammen. Damit wird ihr spezifischer Ortsbezug zwar hinfällig, aber es eröffnen sich Chancen zu neuen sinnigen oder hinreissend unsinnigen Dialogen. Wer es ortsbezogen mag, geht ebenfalls nicht leer aus. Die raumgreifende Installation «Tutti» erlebt im Foyer des Kunstmuseums St. Gallen ihre sechste Reinkarnation. War sie in Salzburg, Ghent oder im Haus der Kunst in München noch mit beinahe funktionstüchtigen Zimmersegmenten ausgestattet, so ist jetzt nur die Grundstruktur verwendet. Führte «Tutti» in München auf eine eigens errichtete temporäre Plattform, die den freien Blick in die riesige Halle erlaubte, so ermöglicht die St. Galler Fassung es mit der kleinen Wendeltreppe erstmals, die üppige, neopompejanische Ornamentik auf Augenhöhe zu erleben. Einmal mehr fällt auf, dass in diesem Haus, das einst auch die naturhistorischen und kulturgeschichtlichen Sammlungen beherbergte, nur die Begriffe Skulptur, Architektur und Malerei in den Deckenschmuck eingebettet sind: Schlüssig und gewohnt humorvoll führt Pernices skulpturale, quasi-architektonische und in der Oberflächengestaltung delikat malerische Arbeit ein Zwiegespräch mit dem Vorgefundenem.

Lawrence Weiner: Was es braucht

Endlich: Lawrence Weiner im Kunsthaus Bregenz. Die Ausstellung ist eine der konsequentesten und radikalsten in der Geschichte des Hauses: keine galerietauglichen Formate im Treppenhaus, keine Werkbeschriftungen an den Wänden, keine Objekte, Exponate oder Klänge, nur Worte und Raum vom Erdgeschoss bis ins dritte Obergeschoss.

Worte, die dem Raum, dem Haus gewidmet sind, die vom Stein ausgehen und damit das Material ebenso würdigen wie den Bau und das Licht darin: Stellt Lawrence Weiner Peter Zumthor aus? Dominiert Zumthors Architektursprache Weiners Kunst? Das Kräfteverhältnis ist ausgewogen und kippt einzig im Erdgeschoss mit der zusätzlich eingezogenen Wand: Sie verändert den vorhandenen Raum markant und trennt die Arbeit Weiners unnötigerweise vom Kassenbereich ab. Selbst nicht aus Stein trägt die temporäre Wand den ersten Satz: „Built up with stones fallen down from the sky“. Der Weg der Steine führt durch das Haus. „Up“, „Down“ – durch die Stapelung der Geschosse in spiralförmiger Bewegung. Erst hinauf bis in den dritten Stock. Hier sitzen die charakteristischen Weinerschen Lettern schräg auf der Nordwand des Raumes: „The boulders on top rent & split“. Blau über dunklem Gelb, gefasst mit einer kräftigen schwarzen Umrisslinie und wie immer bei Weiner in Englisch und der jeweiligen Landessprache: „Die Brocken obenauf zerrissen und gespalten“. Mit den eleganten Übersetzungen im Kunsthaus Bregenz formen sich nahezu geschlossene Sprachblöcke. Die englische und die deutsche Fassung treffen aufeinander, überlagern sich um einige Zentimeter. Die Interferenzflächen sind hellgelb. In diesen Flächen lösen sich Wörter und Bedeutung voneinander, Form und Gestaltung gewinnen an Gewicht. Noch stärker wirken diese Überschneidungen im zweiten Geschoss. Hier sind die Buchstaben grösser und horizontal gesetzt. Die formale Klarheit ist die elementare ästhetische Basis des Werkes. „Drawn out from a stone“: „Aus einem Stein heraus“ spiegelt sich im fugenlosen, hellgrauen Terrazzoboden vor der westlichen Wand. Der Lichteinfall ist ein anderer als im Stockwerk darüber. Wie kaum zuvor ist mit der Ausstellung die Umgebung des Hauses zu spüren, der See vor dem Haus, die Berge im Rücken, die Lichtführung Zumthors. Doch bei aller Sensibilität für die Architektur entfaltet sich das Werk Weiners unabhängig vom konkreten Raum und weit über diesen hinaus. Sätze wie „Manifest pressure leading to the release of whatsoever piezo can be found“, übersetzt mit „Innewohnender Druck befreit jegliches piezo so vorhanden“, sprengen die Dimension materieller, räumlicher Grenzen.

So ein Theater – Vier Ausserrhoder Theatermenschen

Der Theaternomade: Michael Finger, 41 Jahre, Trogen

„Intellektuelles Textverhandeln hat mich nie berührt.“ – Michael Finger hat den klassischen Theaterweg beschritten, hatte nach der Schauspielausbildung bald die erste grosse Filmrolle, wurde ausgezeichnet, aber etwas fehlte. Im frankophonen Theaterraum, im Nouveau Cirque fand Finger, was er eigentlich suchte: das kompromisslose Miteinander von Musik und Tanz, Theater und Artistik. Finger hatte das Totale Theater entdeckt, die Kunst, Körper, Dynamik und Bewegung, den ganzen Bühnenraum in den Dienst der Geschichte und der Figuren zu stellen. Das Totale Theater ist verwandt mit dem Theater und mit dem Zirkus und ist doch mehr als die Summe von beiden. Es ist eine ganzheitliche Bühnenform, die hierzulande noch immer mit Vorurteilen zu kämpfen hat. Aus der zeitgenössischen Zirkusszene hört Fingers Kompanie Cirque de Loin, sie mache ja Theater, und die Theaterszene schubladisiert das Programm der Gruppe als Zirkus. Da hilft nur eines: weiterspielen mit Leib und Seele; solange bis jeder und jede merkt, es kommt nicht auf die Klassifizierungen an, sondern darauf, sich packen und mitreissen zu lassen, hinter der Bühne, vor der Bühne, auf der Bühne.

Die Puppenspielerin: Kathrin Bosshard, 44 Jahre, Herisau

Der Wolf, das Schaf, der Hase – Tiere handeln, Tiere wecken Mitgefühl, Tiere brauchen Verständnis und geniessen Narrenfreiheit. Zumindest auf der Bühne. Kathrin Bosshard schätzt das grosse Potential der Tiere. Die Puppenspielerin arbeitet seit ihrem Stück „Ein Schaf fürs Leben“ immer wieder mit Tierfiguren, denn sie bieten dem Publikum grosse Identifikationsräume und sorgen oft für die richtige Portion Humor. Sie verwandeln Realität in Fiktion und lindern das Drama. Die Hasen in Peter Liechtis Film „Vaters Garten“ sind ein herausragendes Beispiel dafür. Kathrin Bosshard hat nicht nur eine davon gespielt, sondern Liechti geraten, die Figuren aus allen Perspektiven, von nah und fern zu filmen, sie also wie echte Schauspieler zu behandeln.

Der Puppenbau ist für die Künstlerin ein wichtiger Aspekt ihrer Arbeit: „Es ist die Fleischwerdung, die Materialisierung.“ Die Wesen erhalten Augen und werden durchs Spiel lebendig: „Es kommt uns selbstverständlich vor, aber es ist ein Wunder“ – eines, das Kathrin Bosshard immer wieder aufs Neue erlebt und das sie schon von ihrer Mutter, ebenfalls Puppenspielerin, erfahren hat. Puppenspiel stellt die ganz grossen Fragen: Was ist Geist? Was ist Materie? Und so ist die Frage nach der richtigen Berufsbezeichnung für Kathrin Bosshard keine Frage, denn „Puppenspielerin zu sein, ist doch wunderbar.“

Der Gestandene: Walter Graf, Alter 74, Heiden

Grossvater gesucht! Es war Not am Mann, am ergrauten, am gestandenen Mann. Walter Graf stellte sich als Idealbesetzung heraus. Der seit gut 10 Jahren pensionierte Lehrer wurde von Theaterpädagogin Kristin Ludin angesprochen, ob er in einer Produktion für Sinnflut Rorschach den Part des Grossvaters übernehmen könnte. Schon vorher hatte er im Team von Theaterfrau Christa Furrer in mehreren Stücken mitgespielt. So kam der Häädler fest im Theaterfach an. Sind die Erfahrungen aus dem Lehrberuf dabei nützlich? Vor Leuten zu stehen, bereitet Walter Graf kaum Mühe. Und das Auswendiglernen? Die Technik hat sich verändert: „Früher prägte ich mir Satz für Satz ein. Jetzt lerne ich ganzheitlich, indem ich den Text immer wieder lese.“ Viel Arbeit ist das trotzdem, denn „in meinem Alter lernt man nicht mehr so einfach.“

Graf schätzt seine Rolle: „Aus dem behäbigen Alten lässt sich schauspielerisch viel herausholen.“ Nur der ausgediente Oberst war eine grössere Herausforderung. Aber auch diese meisterte Walter Graf. Wen der Theatervirus einmal gepackt hat…

Die Unabhängige: Jeanne Devos, 32 Jahre, Zürich

Die Freiheit erlaubt Vielfalt. Jeanne Devos spielt derzeit am Theater St.Gallen den Hamlet, hat kürzlich für den SRF an einem Hörspiel mitgearbeitet, und in Brüssel verschiedene Tanzworkshops besucht. Seit drei Jahren ist die Schauspielerin ausserhalb fester Ensembles unterwegs und geniesst es: „Ich kann über Rollen und Projekte frei entscheiden. Ich muss niemanden um Urlaub bitten und bin geografisch ungebunden.“ Auch die Ensemblearbeit hat ihre Stärken, etwa dem Publikum näher zu sein und in einem stabilen Team füreinander einzustehen, doch für feste Engagements ist später immer noch Zeit.

Ein grosser Schritt raus aus Strukturen und hinein in die Freiheit war für Jeanne Devos das Ausserrhodische Artist in Residence Stipendium. Dank diesem konnte sie in Brüssel ins belgische Theater eintauchen:„Es ist offener und spartenübergreifender. Jeder macht alles auf der Bühne, und gemeinsam werden berührende Geschichten erzählt.“ Aber auch im deutschsprachigen Raum gibt es reizvolle Aufgaben. So würde Jeanne Devos gerne einmal in einem Horvath-Stück spielen – gut möglich, dass ihr eigener Weg dorthin kürzer ist als der in einem festen Ensemble.

Obacht Kultur, No. 26 | 2016/3

Anita Zimmermann – «Der Bogen vom Schnörkel»

Einführung

Zeichnungen am Laufmeter: lange Papierbahnen hängen an den Betonträgern im Raum des Architektur Forum Ostschweiz. Sie teilen den Raum in Segmente, sie werden selbst zum architektonischen Element. Sie gleichen Wänden und füllen die vorhandenen Wände von der Decke bis zum Boden. Sie erinnern an Tapisserien, an Tapeten und Wandmalereien.

Anita Zimmermann zeichnet mit der Airbrush-Pistole auf grosse Formate frei aus der Hand heraus. Seit einigen Jahren verwendet die Künstlerin Ausschusspapiere von Druckhintergründen der Textilfirma Jakob Schläpfer AG als Bildtäger. Schwach sind die Stoffmuster noch sichtbar: Mal sind es nur Streifen oder monochrome Farbtöne, mal ist eine Borte zu erkennen, dann wieder füllen verschwenderisch wirkende Blütenorgien das Papier. Muster und Farben sind Überbleibsel des Vorherigen und Basis für das Neue. Sie durchdringen das Bild und mischen sich dennoch nicht ein. Anita Zimmermanns Motive agieren eigenständig auf der Fläche. Affen, Füchse, Kinder, geometrische Körper und Hände begegnen einander und führen lebhafte Dialoge, ohne Sprache, sondern mit Gesten, Blicken und über raumliche Bezüge. Hände halten ein Seil, Füchslein balancieren, Robin Hood begegnet einem Irokesen, Affen spielen mit Smileys, zwei Herren mit Schnauz betrachten das muntere Treiben. Anita Zimmermann lässt den Bildern viel Raum auf dem Papier und knüpft zugleich ein dichtes Netzwerk aus dem heraus eine erzählerische Ebene entsteht.

Die Geschichten lassen sich immer wieder neu erfinden, sie sind offen für individuelle Additionen und für Fussnoten in hellblau, grau und bunt. So lassen sich die Objekte am Boden der Papierbahnen lesen: als Fussnoten zu den Bildern. Auf PET-Flaschen sind Köpfe montiert, Objekte exotischer Herkunft mischen sich mit Figuren aus dem Spielzeugland. Die heilige Mutter Gottes tritt in ein Zwiegespräch mit ihrem Sohn. Die meisten der Figuren und Objekte sind monochrom eingefärbt. Dadurch sind sie auf ihre Form, ihre Silhouette reduziert und sind gleichberechtigte Elemente der Zeichnungen. In ihrer Platzierung auf dem Boden sind die Schnittstellen Zeichnungen und Raum und stärken das Bewusstsein für das Körperhafte der Zeichnung.

Zeichnen ist für Anita Zimmermann Risiko und Bedürfnis, es ist Lust und Experiment. Mit der Sprühdose in der Hand muss das Oval gelingen, es gibt keine Vorzeichnung, keinen zweiten Versuch. Die Zeichnungen sind linear, die Linie ist immer am richtigen Platz, Schraffuren verleihen manchen Motiven räumliche Präsenz, doch auch die Schraffur bleibt linear. Gleichmässig ziehen sich die Linien übers Paper. Ausnahme sind die kleinen Kinder, ihr Körper wird plastisch durch die Binnengestaltung, sie halten die Fäden in der Hand, sie beobachten mit unergründlichem Blick. Erzählen sie die Geschichte weiter? Erfinden sie eine neue? Anita Zimmermann gibt weder Erzählstränge noch Deutungen vor. Der Künstlerin geht es um die Zeichnung: „Ich will einfach zeichnen – immer wieder bei Null anfangen.“ – auf einfachem Papier immer wieder von vorn, immer weiter. Zeichnungen am Laufmeter, unprätentiös, konzentriert aufs Wesentliche.

Städtische Ausstellung im Lagerhaus, Architektur Forum Ostschweiz, 18. November – 11. Dezember 2016

Kühlschrank, Kommode und Kunst

Bertrand Lavier interessiert sich seit mehr als 40 Jahren für die komplexen Beziehungen zwischen Bild, Sprache und Objekt und thematisiert dies in visuell attraktiven Arbeiten. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt seine Werke in der bisher umfangreichsten Ausstellung im deutschsprachigen Raum.

Ein Flügel fasziniert durch seinen Klang – und durch seine Oberfläche. Schwarz, hochglänzend, edel. Jeder Fingerabdruck wird eilig wegpoliert. Der Reiz zur Berührung bleibt. Bertrand Lavier hat ihn verewigt.

Der französische Künstler überzieht Gegenstände mit seiner «Touche van Gogh», abgeleitet vom französischen toucher. Er berührt sie nicht mit der Hand, sondern mit Pinsel und Farbe. Piano, Tisch, Kühlschrank und Kommode erhalten nicht einfach einen neuen Anstrich, sondern sie werden zum Träger ihres eigenen, dreidimensionalen Bildes. Sie behalten ihre räumliche Präsenz und bleiben funktionsfähig. Sie sind Objekt, Malerei und Plastik.

Bertrand Lavier überschreitet Gattungsgrenzen, stellt festgeschriebene Begriffe in Frage und inszeniert Paradoxien. Seit den 1970er Jahren entwickelt er dazu wichtige Werkgruppen. Diese Arbeitsfelder, von Lavier als «Baustellen» bezeichnet, bleiben Teil eines offenen Prozesses. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt sie in vier thematischen Kapiteln. Diese Kapitel sind Ausstellungsräumen zugeordnet, es gibt jedoch immer wieder spannende Übergänge zwischen den einzelnen Räumen und Werkgruppen.

Den Auftakt bilden die «Touche van Gogh». Sie sind gerahmt von weiteren, spielerischen Untersuchungen zu Farbe, Farbbezeichnungen und Farbwahrnehmung. Gefolgt werden sie von Werken mit architektonischen Elementen. Darin lotet Lavier das ästhetische Potential industriell gefertigter Strukturen aus: Vorfabrizierte Fassadenelemente besitzen ebenso Bildqualität wie die Stahlkonstruktion des Eiffelturmes. Auch ein Tennisnetz und ein Volleyballnetz können eine zweilagige Zeichnung bilden.

Die Addition zweier unveränderter Ausgangsobjekte ist eine Laviersche «Superposition». In diesen Übereinanderstellungen vereint der Künstler formale Entsprechungen und Kontraste, funktionale Widersprüche und Sprachwitz. Er verheiratet einen Laubsauger mit einer Art déco-Kommode, platziert ein Sofa auf einer Kühltruhe, kombiniert einen Sessel mit einem Grafikschrank. Funktional ist das nicht, Hierarchien sind ebenfalls kein Thema, vielmehr stossen diese Werke Denkprozesse an: Wie ist unser Lebensraum gestaltet? Wie ist das Verhältnis von Kunst und Design? Wie wirken Farbe, Volumen, Gestalt der Objekte miteinander? Welche Rolle spielen Präsentationsformen und Benennungen?

Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt eine grosse Auswahl der «Superpositions». Nicht weniger wichtig im Oeuvre Laviers ist die Werkgruppe der Unfallfahrzeuge. Sie ist in der Ausstellung einzig im Beispiel eines Mofas mit abgeknicktem Hinterrad präsent. Hier geht es Lavier nicht um das Drama des Unfalls. Stattdessen lenkt er den Blick auf die skulpturalen Qualitäten der Deformation.

Immer wieder erweist sich der Autodidakt Lavier als überaus aufmerksamer Betrachter des Beiläufigen, Profanen und seiner überraschenden Schönheit. Sie lässt sich selbst in einem Walt Disney-Comic finden. Die Zeichner schickten Mickey und Minnie Mouse in eine Ausstellung. Die Kunstwerke dort sind zwar erfunden, beruhen aber auf der gekonnten Synthese bestehender Kunstrichtungen. Bertrand Lavier überträgt diese Comic-Bilder und -Plastiken sowie das gesamte fiktive Ausstellungsinterieur in die Realität der Kunst. Im Kunstmuseum Liechtenstein ist das Raumensemble in einem eigens gestalteten Kabinett präsentiert. Der Kontrast zwischen den perfekten White Cubes des Vaduzer Museumsbaus von Morger & Degelo und Kerez und die kunterbunte, unbefangene Arbeit Laviers ist einer der Höhepunkte der Ausstellung. Sie zeigt wie durchlässig die Grenzen zwischen den Gattungen sind und wie ergiebig das unvoreingenommene Sehen und Denken.

Einkehr und Einblick

Neue Arbeiten von 30 Kunstschaffenden in 26 Gasthäusern – verteilt übers ganze Appenzellerland: ein Ausstellungsprojekt der Kulturstiftung Appenzell Ausserrhoden und der Appenzell Innerrhoder Kunststiftung.

Acht Routen stehen zur Auswahl, zu Fuss, leicht oder anspruchsvoll, mit dem Velo oder mit dem Bähnli: à discrétion führt quer durchs Appenzellerland und bis hinauf in den Alpstein. Eine jede bietet Kunst und Kulinarik, denn das Ausstellungsprojekt der Ausserrhodischen Kulturstiftung und der Innerrhoder Kunststiftung findet in Gasthäusern statt. Ein Faltblatt verzeichnet sie alle mit Telefonnummer, letztere sollte man nutzen. So legt das Restaurant Harmonie „Christenpass“ beispielsweise zusätzliche Ruhetage ein. Der Besuch bleibt also mitunter ohne Einkehr, aber nicht ohne Einblick. Durch die rückwärtigen Fenster ist die Arbeit Annina Frehners zu sehen. Die Künstlerin hat ihr Buch Index N° 1 räumlich installiert. Die enzyklopädische Fülle ist perfekt in die hölzernen Täferkassetten des Saales eingepasst und erinnert in Radikalität und Ästhetik an die Reihungen der grossen Konzeptkünstlerin Hanne Darboven. Da es ein Augenschein aus der Ferne bleiben muss und noch Zeit ist, führt ein Abstecher weg von à discrétion hin zu einem Kunst am Bau-Projekt. Seit kurzem prangt mitten auf dem sanierten Bahnhof Walzenhausen ein rotes M über einem weissen W. Die Arbeit Rolf Grafs weckt Assoziationen an eine U-Bahn und erinnert an das metropolitane Flair des Ortes zur Blütezeit des Kurtourismus.

Also auf zum nächsten Kurort. In Heiden sind zwei à discrétion-Installationen zu sehen. Sollten zu sehen sein. David Berwegers kleiner weisser Gipsberg neben dem Kursaal Heiden ist weg. Selbst zwei Runden um das Haus bringen ihn nicht zum Vorschein. Schade. Zwei Tage später stellt sich heraus, dass Gärtner die Arbeit vorübergehend entfernt haben, um den Rasen mähen zu können.

Ein paar Dutzend Schritte weiter ist das Restaurant Krone, postmodern verspiegelt und verglast. Mit einem Gipsstalakmiten unterläuft Christian Hörler die kalte Ästhetik der Bar und mit einem Sperrholzbogen deutet er sie neu und erweitert sie um ein kontrastierendes Material. Zwei gegenüberliegende Spiegel wiederholen den Bogen bis ins Endlose. Als wollten sie Christian Hörlers Arbeit noch eins drauf setzen, laufen Dutzende gleiche Menschenpaare durch Heiden. Ein Schild klärt auf: Das Schweizerische Zwillingstreffen findet an diesem Wochenende statt. Die Szenerie kippt immer wieder ins Surreale. Wir suchen das Weite, und finden es in Oberegg. Das Kafi Anton glänzt mit grossartiger Aussicht. Auf der einen Seite schweift der Blick über das Rheintal zu den Bergen, auf der anderen Seite bis über den Bodensee. Im neugestalteten Café sind die Fenster als gerahmte Bilder inszeniert worden. Isabel Rohner ergänzt die vorhandenen Fenster mit weissen Tafeln zu einem Panoramafenster mit Leerstellen in der Landschaft.

Am nächsten Tag geht’s mit der Appenzellerbahn weiter. Zuerst nach Weissbad, zu einem weiteren à discrétion-Höhepunkt. Stefan Inauen hat das alte Schützenhaus nahe dem Weissbach in ein Zeichenkabinett verwandelt. Auf zwei Wänden, über Nischen und Fensterlaibungen hinweg zieht sich schwarz auf weiss ein Fries des Mystischen, Schönen, Niederen, Hintersinnigen, von Roland Scotti treffend als „visueller Bänkelgesang“ bezeichnet. Hier liesse sich ewig schauen. Aber auch Hörerlebnisse sind à discrétion möglich. Im Restaurant Stoss bringt Barbara Brülisauer einen Mammutbaum zum Sprechen. Freundlich, einladend, würdevoll erzählt er von sich und bringt selbst eine Gruppe rüstiger Wandrerinnen zum Innehalten, Denken und Rinde Streicheln. Auf dem Rückweg lohnt das „Hotel California“ von Emanuel Geisser einen Stop.

Im Appenzeller Hinterland ist die Krone Hundwil ein à discrétion-Muss. Vera Marke hat den Eingangsbereich des Gasthauses von alten Harassen befreit und eine Arbeit geschaffen, die dem Rokokosaal im ersten Stock eine würdige Ouvertüre ist. Ihre Fresken feiern die Malerei und ihre Verbindung zur Architektur.

Im Kunst-Menu locken noch viele weitere Gänge, in Herisau, in Stein, im Alpstein und anderswo. à discrétion wünscht einen guten Appetit!