Rock´n´Roll

by Kristin Schmidt

Die Arbeit im Atelier ist ein isoliertes Tun. Wenn Künstlerinnen und Künstler ein Publikum erreichen oder miteinander über ihre Werke kommunizieren wollen, spielen oft Kuratorinnen oder Kunstvermittler eine grosse Rolle. «APP´N´CELL NOW» will das ändern und als Plattform wirken.

Jahresausstellung oder Heimspiel? Dürfen alle Künstlerinnen und Künstler mitmachen? Oder entscheidet eine Jury? Oder der Kurator, die Kuratorin? Und nach welchen Kriterien? Objektivität ist kaum möglich, persönliche Erfahrungen, Vorlieben, Erkenntnisse spielen eine Rolle. Auch der vorhandene Platz, die Positionierung der Ausstellungshäuser und ihre Vernetzung.

Lokale oder regional angelegte Gruppenausstellungen weisen einige Fallstricke auf. Andererseits sind sie für Künstlerinnen und Künstler eine wichtige Chance gesehen zu werden, ihre Arbeiten in renommierten Häusern platzieren zu können und in den Dialog mit anderen zu treten. Deshalb und trotz aller Kritik gibt es diese Schauen immer noch und immer wieder. Aktuell versucht Roland Scotti diese Ausstellungsidee in eine neue Form zu giessen. Der Kurator des Kunstmuseum Appenzell und der Kunsthalle Ziegelhütte hat immer wieder Künstlerinnen und Künstler mit lokalem Bezug ausgestellt und 2018 erstmals das Heimspiel ins Haus geholt – mit einer sehr sorgfältigen, sehenswerten Präsentation. Nun gibt es «APP´N´CELL NOW». Eine Ausstellung, die dynamisch, demokratisch, dicht ist.

Zu Beginn: Zwei Listen

Das einzige Auswahlkriterium für diese Ausstellung waren zwei Listen aus den kantonalen Kulturämtern der beiden Appenzell: Sie enthalten die Namen von 126 Künstlerinnen und Künstlern, deren Biographie mit der Region verwoben ist. Alle wurden angeschrieben. 69 haben sich zurückgemeldet. Gebettelt wurde niemand, aussortiert wurde niemand. Wer mitmacht, tut dies aus eigenem Antrieb, und unter klaren Voraussetzungen: «APP´N´CELL NOW» funktioniert ohne Kurator, ohne Hierarchie, ohne Jury und sogar ohne Kunstwerk – zumindest für eine Zusage. Gewünscht war einzig, bei der Teilnahmezusage eine Aufnahme des Ateliers mitzusenden. Wer keines hat oder braucht, wurde aber nicht ausgeschlossen. Roland Scotti zählt auch auf Improvisationstalente. Und auf Leute, die sich gerne mit ungewohnten Raumsituationen auseinandersetzen, denn die Ausstellung breitet sich in der gesamten Kunsthalle Ziegelhütte aus.

Kunst überall

Jede Nische, das Zwischengeschoss, der Oberlichtsaal, der Saal im Erdgeschoss mit Panoramafenster und – wie bereits bei «Emma Kunz und Gegenwartskunst» – sogar der alte Ringofen des alten Ziegeleigebäudes: Jeder noch so kleine Raum wird für die Kunst genutzt und gebraucht. Schliesslich sind 69 Positionen eine Menge. Zudem wird sich die Ausstellung wandeln.

Dreimal wird in den vier Monaten umgebaut. Manche Werke bleiben, andere werden ausgetauscht. Wieder anderes ist noch kurzfristiger angelegt, etwa die Performances. Diese Dynamik erinnert an die «Zwischenstellungen», die Kurator Ueli Vogt im Zeughaus Teufen mit grosser Energie etabliert hat und die das Haus immer wieder beleben. Diese Verwandtschaft ist nicht ganz zufällig. Roland Scotti schätzt das Wuchernlassen der Dinge im Zeughaus Teufen, sieht aber auch die Unterschiede: «In Teufen wird ein bestehendes Gefüge permanent verändert. Die Kunsthalle Ziegelhütte dagegen ist ein Leerkörper, ein Gehäuse.» Dieses gilt es nun zu aktivieren, denn allzu oft seien in den klassischen Ausstellungshäusern nur das Legitimierte zu sehen, das nicht einmal unbedingt begründet ist: «Nur weil wir es in diesem Rahmen zeigen, ist es wichtig. Aber wenn wir so weitermachen, haben wir in 20 Jahren kein Publikum mehr.»

Ausbreitung in Zeit, Raum und Netzwerk

Neues muss her. Unerprobtes. Keine Wertungen, sondern Experimente. Dinge, die ohne diese Chance nicht entstanden wären. Der Kurator nimmt sich dabei zurück. Er ermöglicht, aber er urteilt nicht, und vor allem will er vermeiden, Langeweile zu erzeugen: «Ich will eine sich selbst konstituierende Maschine in Gang setzen». Sie soll die Künstlerinnen und Künstler zusammenbringen, das Bewusstsein für die Gemeinschaft und für die notwendige Lobbyarbeit stärken. Und sie soll auch in die Bevölkerung hineinwirken: «Die Botschaft ans Publikum ist: Das ist Eure Identität.»

Etwas auf den Weg bringen, das will diese Ausstellung, und so versteht sich auch ihr etwas holpriger Titel. Er hat nicht so sehr mit der Digitalisierung zu tun wie es zunächst scheint, sondern verweist laut Roland Scotti auf die Tradition des Rock ’n’ Roll. Die Ausstellungsgrafik deutet weitere Ambitionen an: «Man wirft einen Stein ins Wasser. Etwas passiert und entwickelt eine Eigendynamik.» Bleibt zu hoffen, dass der Stein weiterrollt, dass sich das Energiefeld ausbreitet, ob wellenförmig oder ganz anders, aber wirksam für die Kunst im Appenzellerland.