Käthi Bhend: Bildbogen
by Kristin Schmidt
Blickt aus dem Stamm ein Auge? Hat sich in der Wiese ein Tier versteckt, oder ist es nur eine Baumwurzel? Ein Steingesicht? Je dichter der Wald desto vieldeutiger ist er und bietet plötzlich seltsamsten Wesen Unterschlupf. Mal erinnern sie an Bekanntes, mal scheinen sie nicht von dieser Welt. Bei genauem Hinsehen ist der Zauber ebenso schnell verschwunden wie er wenige Schritte weiter wieder auflebt. Kein Wunder, dass viele Märchen und Fantasygeschichten einen Wald brauchen.
Käthi Bhend bannt diese magische Anziehungskraft des Waldes aufs Papier. Sie holt mit feinen Linien, Strichen und Punkten in ihre Zeichnungen, was draussen wispert und zwitschert, was im Dickicht krabbelt und lauert. Sie überträgt den Reichtum an Formen und deren Gabe, sich jederzeit in etwas anderes zu verwandeln, in geheimnisvolle Naturbilder. Ihre Arbeiten sind Sammlungen aus Fauna und Flora, die jedoch nicht im Abbilden und Nacherzählen verharren, sondern den Augen und Gedanken freien Raum lassen. Den Wald gibt sie in seiner Gänze als lebendigen Organismus wieder, dessen Gestalt sich jederzeit verändern kann. Da werden Astlöcher zur Iris, Schlangen gleichen Ästen und ein Hexenkreis, einer jener kreisrund wachsenden Pilzfruchtkörper, bildet ein zartes Gesicht. Käthi Bhend entwirft eine Kulisse für die Vorstellungskraft. Sie lässt den Wald auf dem Papier wieder lebendig werden und bietet den Blicken eine offene, vielfach verästelte Bilderzählung an.
Obacht, Nr. 31, 2018/2