Wanderer in der Stadt
by Kristin Schmidt
Pascal Häusermann
Ascending and Descending in São Paulo, 2015, Acht Stills aus dem gleichnamigen Film
Ein Mann geht. Schwarz gekleidet, unauffällig inmitten anderer Menschen. Er quert einen Platz. Passantinnen sprechen miteinander, Passanten telefonieren. Niemand nimmt Notiz von dem Mann, alle sind auf ihrem eignen Weg durch die Stadt. Der Mann wartet auf die Metro. Er überquert einen Zebrastreifen. Er tut nichts Auffälliges, aber die Kamera bleibt ihm hartnäckig auf der Spur. Sie folgt ihm oder beobachtet ihn – den Unterschied macht die Blickrichtung: seitlich ist der Blick betrachtend, von hinten ist er verfolgend. Als Rückenfigur führt der Mann ins Bild und damit zugleich durch die Stadt. Aber wohin? Lässt er sich treiben oder folgt er einem Ziel? Promeniert er in Lucius Burckhardtschem Sinne und nimmt die gestaltete Umwelt im konkreten Stadtgebrauch wahr? Erkundet er die Psychogeographie der Stadt wie es die Situationisten propagierten? Erforscht die Gesetze und Wirkungen des geographischen Milieus, das laut Guy Debord «bewusst eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt»?
Ob in Paris, Tiflis oder São Paulo – Pascal Häusermann läuft durch die Stadt. Er steigt auf, steigt ab, fährt mit Rolltreppen, quert Ladenpassagen und durchschreitet Parks. Er verwendet die vorgegebene Infrastruktur und begibt sich dabei in Zonen städtischer Lebenswelt, die mal weniger, mal stark frequentiert sind von anderen Menschen. Sie alle sind Individuen, verschwinden aber in der anonymen Masse. Das Motiv ihres Unterwegsseins bleibt unbekannt. Der Künstler ist eine Person unter vielen und schärft mit der performativen Stadtwanderung das Bewusstsein für die unendliche Vielfalt von Geschichten und Wegen.
Obacht Kultur Nr. 25, 2016/2